Freiherr von Weizsäcker, Ernst Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 25.05.1882;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 04.08.1951; Lindau
Beruf/Funktion:
  • Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Kurzbiografie: Elementarschule, Eberhard-Ludwigs-Gymnasium/Stuttgart, Abitur
1.4.1900 Seekadett/Dienstantritt bei der kaiserlichen Marine in Kiel
1909 Patent zum Kapitänleutnant
1912 Versetzung ins kaiserl. Marinekabinett unter Admiral Georg Alexander von Müller nach Berlin, Sachbearbeiter für „Orden&Ehrenzeichen“
1914 Admiralstabsoffizier
Mai 1916 Teilnahme an der Skagerrak-Schlacht an Bord des Flaggschiffs „Friedrich der Grosse“
1917 Korvettenkapitän
1918 im Admiralsstab der Seekriegsleitung unter Admiral Reinhard Scheer neben der Obersten Heeresleitung (OHL) im Großen Hauptquartier in Spa
13.11.18 Abschied von der OHL und Wechsel in die Versorgungsstelle für Seeoffiziere im Reichsmarineamt in Berlin
Juni 1919–März 1920 Marine-Attaché an der deutschen Botschaft in Den Haag
April 1920 Aufnahme in den konsularischen Dienst „auf Probe“ (da ohne Studium und ohne dipl.-konsularisches Examen)
Feb.1921 im Konsulat in Basel, ab Neujahr 1922 als ordnungsgemäßer Konsul
Dez. 1924 Ernennung zum Gesandtschaftsrat und Wechsel in den gehobenen Dienst, Entsendung nach Kopenhagen
Feb.1927 Wechsel als Sachbearbeiter ins Auswärtige Amt in Berlin, zuständig für das Sachgebiet „Abrüstung“ im neuen Sonderreferat „Völkerbund“ – Pendeln zwischen Berlin und Genf
Juli 1931 Gesandter in Oslo – zugleich Teilnehmer an der im Feb. 1932 in Genf beginnenden Weltabrüstungskonferenz
Juni 1933 Interimsleitung der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes
Sept. 1933 Leitung der Gesandtschaft in Bern/Schweiz
Aug. 1936–März 1937 parallel dazu kommissarische Leitung der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt
24.3.1937 Ernennung zum Ministerialdirektor
Mai 1937 Rückkehr nach Berlin als Leiter der Politischen Abteilung
19.3.1938 Ernennung zum „Staatssekretär des Auswärtigen Amtes“ unter Joachim von Ribbentrop
1.4.1938 Aufnahme in die NSDAP mit der Mitglieds-Nr. 4.814.617
20.4.1938 Aufnahme in die SS (Stamm-Nr. 293.291) im Range eines SS-Oberführers (i. e. Generalmajors) im persönlichen Stab von Heinrich Himmler
Herbst 1938 in der „Sudentenkrise“ Verhinderung des Kriegsbeginns im Zusammenspiel mit Mussolini
26.3.1943 Mitteilung Ribbentrops, dass Hitler das Rücktrittsgesuch als Staatssekretär des Auswärtigen Amts genehmigt und einer Versetzung als Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom zugestimmt habe
Juni 1943 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom
Ab Mai 1945 16 Monate währendes politisches Asyl im Vatikan
August 1946 Rückkehr nach Lindau
25.7.1947 Verhaftung in Nürnberg
14.4.1949 Verurteilung im „Wilhelmstraßenprozess“ zu fünf Jahren Haft
Okt.1950 Begnadigung durch US-Hochkommissar John McCloy, Entlassung aus der Haft in Landsberg, Veröffentlichung von „Erinnerungen“
4.8.1951 Schlaganfall und Tod in Lindau
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 25.9.1911 Marianne, geb. von Graevenitz (geboren 8.8.1889 Stuttgart, gestorben 9.1.1983 ebda.)
Eltern: Vater: Karl Hugo Weizsäcker (seit 1897 von Weizsäcker, seit 1916 Freiherr von Weizsäcker, 1853–1926), 1906–1918 Ministerpräsident des Königreichs Württemberg
Mutter: Paula, geb. von Meibom (1857–1947)
Geschwister: 3: Carl Victor (1880–1914), Legationsrat im Auswärtigen Amt; Victor (geboren 21.4.1886 Stuttgart, gestorben 9.1.1957 Heidelberg), Dr. med., o. Prof. der Medizin in Heidelberg und Breslau, verh. mit Olympia Curtius (geboren 16.12.1887 Thann/Elsass, gestorben 8.11.1979 Bonn); Paula (geboren 20.1.1893 Stuttgart, gestorben 17.7.1933 Reutin bei Lindau)
Kinder: 4:
Carl Friedrich (1912–2007);
Adelheid (1916–2004);
Heinrich (1917–1939);
Richard (geboren 15.4.1920 Stuttgart, gestorben 11.2.2015 Berlin), Bundespräsident 1984–1994
GND-ID: GND/118630725

Biografie: Daniel Koerfer (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 239-246

Sein Lebensweg steht für eine deutsche Karriere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, exemplarisch in ihren Hoffnungen, Brüchen und ihrem Scheitern. Denn das steht am Ende, bevor es Verhaftung, Verurteilung und Gefängnis nach außen sichtbar hervortreten lassen. Dem jungen Mann, der 1882 in Stuttgart geboren, als Sohn des königlich-württembergischen Justiz-Ministerialrats, Ministers und Ministerpräsidenten Karl Weizsäcker aufwuchs, schien eine glänzende Zukunft offen zu stehen. Sie schien ab März 1900 auf dem Wasser zu liegen – bei der kaiserlichen Marine. Dem jugendlichen Ehrgeiz eines Bürgerlichen – erst 1916 wurde der Vater, 1897 persönlich nobilitiert, in den erblichen Freiherrnstand erhoben – stellten sich bei der neu aufgebauten Flotte weniger Hindernisse in den Weg als bei der preußischen Armee, wo junge Männer aus Württemberg sonst zu dienen hatten.
Im Sommer 1914 erfasst auch Weizsäcker die Welle nationaler Begeisterung. Aber für umfassende Annexionspläne und Weltmachtphantasien hat er wenig übrig. Das Heraufziehen der Niederlage erlebt er im Herbst 1918 aus nächster Nähe mit in Spa bei der neu gebildeten Seekriegsleitung der 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff.
Von einer Dolchstoß-Legende findet sich in seinen Aufzeichnungen keine Spur, dazu hat er die militärischen Entscheidungsabläufe zu genau registriert. Allerdings trifft ihn der Umsturz unmittelbar, nicht allein, weil sein Vater als einer der ersten am 8. November 1918 zurücktritt, kaum dass die Rote Fahne vom Stuttgarter Schloss weht. Der schnelle Zusammenbruch des Kaiserreichs, das blamable, wenig souveräne Verhalten Wilhelms II. in den letzten Kriegstagen, waren für Weizsäcker ein Schock, wie für Millionen andere Deutsche auch. In diesem letztlich doch erstaunlich kurzlebigen deutschen Kaiserreich ist er aufgewachsen, die Monarchie hat ihn geprägt. Um so verständlicher, dass er, noch bevor die Waffenstillstandsbedingungen publik gemacht werden, in sein Tagebuch notiert: „Es ist ja ganz egal, welcher Friede uns jetzt auferlegt wird. Ist er zu drückend, kommt automatisch die Revision.“
Revision, das sollte ein Schlüsselbegriff für sein weiteres Wirken werden – und ein Verlangen, das mit ihm die überwältigende Mehrheit aller politisch interessierten Deutschen teilt. Aber zunächst lag sein weiteres berufliches Schicksal ebenso im Dunkeln wie die Zukunft des Landes. Vorübergehend kommt er in der Versorgungsstelle für Seeoffiziere beim Reichsmarineamt in Berlin unter. Schreckensvisionen eines sozialen Abstiegs, wie er damals nicht nur für viele Militärs Wirklichkeit wird, treiben ihn um. Auch die politische Orientierung fällt schwer. Als er am 16. Januar 1919 von einem ehemaligen Kameraden, Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Hartung, erfährt, dass dieser Karl Liebknecht, den Mitbegründer der KPD, auf Weisung von Hauptmann Waldemar Papst erschossen hat, rät Weizsäcker diesem unterzutauchen. Bei aller Distanz zu den Freikorps, die er sonst zu wahren versteht, hier begegnet uns Weizsäcker als Patriot im Zwielicht.
Es gelingt ihm, im Auswärtigen Amt in der Konsularabteilung unterzukommen. Rasch wird er in den diplomatischen Dienst übernommen. Auf Außenposten in Basel und Kopenhagen wird Weizsäcker Zeuge der Folgewirkungen des Versailler „Schandvertrages“, wie Reparationsforderungen, Diskriminierungen, Entwaffnungsbestimmungen. Dadurch waren ihm Parlamentarismus, Demokratie, Republik – ohnehin unauflöslich mit der Niederlage verknüpft – zusätzlich diskreditiert. „Der Ekel am Parlamentarismus ist allwärts festzustellen“, notiert er im Herbst 1923. Der Revisionspolitik Stresemanns, dem System von Locarno und dem Völkerbund steht Weizsäcker skeptisch-reserviert gegenüber.
Zwischen Berlin, Genf und Oslo – dort übernimmt er im Sommer 1931 die Gesandtschaft – hin und her pendelnd, erlebt er die Agonie der Präsidialkabinette. Dass das demokratische System zur Bewältigung der tiefgreifenden ökonomisch-politisch-sozialen Krise nicht mehr in der Lage sei, verfestigt sich als Grundüberzeugung. „Die Demokratie ist der Krebsschaden“, schreibt er im April 1932 seiner Mutter. Rasch erkennt er, dass am 30. Januar 1933 kein konventioneller Regierungswechsel vollzogen worden war – und reagiert darauf im Gegensatz zu vielen Deutschen nicht mit Euphorie. „Nun tauchen wieder die von 1918/19 gewohnten Probleme auf: Kann man da eigentlich mitmachen? Wie sichert man dem noch intakten Teil der Bürokratie den nötigen Einfluss? Wie bringt man die richtige ,mesure‘ in das neue System?“, fragt er in einem Brief am 22. Februar.
Dass Außenminister Neurath und – wichtiger noch – Staatssekretär Bülow auf Posten bleiben, Hindenburg sich Mitsprachemöglichkeiten im Bereich der Außenpolitik vorbehalten hat, schien nicht nur Weizsäcker ein beruhigendes Maß an Kontinuität zu gewährleisten.
Vermutlich werden die meisten deutschen Beamten so gedacht haben wie er, der am 23. März 1933, dem Tag der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, in einem Brief feststellt: „Eine einfache Wahrheit ist doch, dass man dieses Regime nicht umschmeißen darf. Denn welches Negativ käme hinter ihm? Man muss ihm alle Hilfe und Erfahrung angedeihen lassen und mit dafür sorgen, dass die jetzt einsetzende Etappe der neuen Revolution eine ernsthaft konstruktive wird.“ In der chaotischen Übergangszeit galt es, die Stabilität von Regierung und Verwaltung sicherzustellen, weil sonst Bürgerkrieg, ein kommunistischer Umsturz drohte. Darauf stützte sich das Selbstvertrauen der traditionsbewussten alten Eliten, für die Weizsäcker mit gewissen Einschränkungen als repräsentativ gelten darf: Auch Hitler würde schwerlich auf ihre Sachkenntnis, ihr Herrschaftswissen verzichten können.
Die antisemitische Hetzkampagne vom April 1933 missbilligt Weizsäcker als deutscher Diplomat, weil er Gewalt und Terror ablehnt, weil zugleich das Bild des neuen Regimes im Ausland nachhaltig beeinträchtigt wird, das auf ausländische Finanzhilfe angewiesen bleibt. Dennoch notiert er sich am 22. April: „Die antijüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leib verspürt“ und liest im Familienkreis „Jüd Süss“ seines Landsmannes Wilhelm Hauff. Im Frühsommer 1933 willigt Weizsäcker ein, für einige Monate die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes zu leiten – eine Schlüsselposition. In jener Phase, als mit der Zerschlagung der Länder, Parteien, Gewerkschaften der Prozess der „Gleichschaltung“ schon weit fortgeschritten war, suchte man sich im Amt gegenüber allzu massiven nationalsozialistischen Interventionsversuchen so gut wie möglich abzuschotten, zugleich aber als „regimetreu“ zu präsentieren. Von Hitler, den er vor seinem Wechsel in die Schweiz kennenlernt, ist Weizsäcker beeindruckt, wie eine Tagebuchnotiz vom 6. August verrät: „Hitler sehr ernst und fast in sich gekehrt, überragt die anderen ohne Frage weit. Es ist etwas wie eine metaphysische Einstellung an ihm, die ihm den Vorsprung wahrt.“
Insgesamt darf man annehmen, dass auch Weizsäcker in Berlin und Bern jenes Wechselbad von Bejahung und Verneinung, von Hoffen und Bedenken, von Staunen über die Erfolge und Erschrecken gegenüber dem Terror und den Verbrechen durchlebte, das die Erfahrung vieler Deutscher im Dritten Reich kennzeichnete. Während ihn die Ereignisse am 30. Juni 1934 verstören, billigt er die zentralen außenpolitischen Entscheidungen bis 1936/37. Das Herauslösen Deutschlands aus dem Völkerbund findet seine Zustimmung (ebenso wie die von Millionen anderer Deutscher). Vom deutsch-polnischen Nichtangriffsabkommen wird er zwar überrascht, aber er heißt im Gegensatz zum Gros der deutschen Diplomaten diese gegen das französische Bündnissystem in Osteuropa gerichtete Maßnahme gut, begrüßt auch das Flottenabkommen mit England sowie die ersten Aufrüstungsschritte und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Deutschland hatte einen legitimen Anspruch auf den Status einer Großmacht, so dachte Weizsäcker schon 1914/18, so dachte er auch 1936. Die Revision des Versailler Vertrages und der „Wiedereintritt des Reiches in den Kreis der Großmächte“ war weiterhin sein Ziel – ein Ziel jedoch, das mit den Mitteln der Diplomatie und wohl auch gestützt auf militärische Potenz erreicht werden sollte, aber nicht über einen neuen großen Krieg. Entsprechend besorgt registriert er den Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland wie die sich abzeichnende deutsche Intervention im Spanischen Bürgerkrieg und den zunehmenden Bedeutungsverlust des Auswärtigen Amtes, den er in einer Aufzeichnung vom Januar 1937 konstatiert: „Der Apparat des Amtes ist im Begriff, geistig zu zerfallen. Da ihm der Lebensnerv, nämlich die eigene Verantwortung für die wichtigeren politischen Fragen je länger je mehr entzogen und seine Zuständigkeit immer mehr in Frage gestellt wird, wird das Denken und Handeln des A. A. tastend, inkonsequent und schwächlich.“
In dieser schwierigen Situation eröffnete sich Weizsäcker die Chance, auf der Karriereleiter emporzusteigen, als im Frühjahr 1938 nach Hitlers Revirement Kriegsminister Blomberg, der Oberbefehlshaber des Heeres Fritsch und Außenminister Neurath abgelöst werden und Joachim von Ribbentrop zum neuen Außenminister ernannt wird. Unter dem Datum des 5. März 1938 notiert Weizsäcker: „Ribbentrop fragt mich, ob ich sein Staatssekretär werden wolle. Nennt gewisse Voraussetzungen: Volles Vertrauensverhältnis, das auch in Momenten der Baisse standhalten müsse […] Grundsätzliche Übereinstimmung mit der Politik des Führers. ,Großes Programm‘, das nicht ohne Schwert zu erfüllen, aber noch 3 – 4 Jahre Vorbereitung nötig. Wo und wofür zu fechten, bleibt späterer Erörterung vorbehalten. Österreich möglichst noch 1938 zu liquidieren […]. Meine Antwort lautet: Dank für das Vertrauen […]. Wenn Ribbentrop und Führer mich wollen, folge ich als Soldat […]. Ich halte die Ansichten von R. für beeinflussbar. Gerade die Wandelbarkeit der Ansichten von R. scheint mir den Spielraum zu lassen, um die Aufgabe – wohl die einzige, um deretwillen ich dieses Kreuz auf mich nehme – für erfüllbar zu halten: die Verhinderung des Krieges, welcher nicht nur das Ende des III. Reiches, sondern auch Finis Germaniae wäre.“ Durch seine Beförderung gelangt Weizsäcker „an die Lötstelle zwischen Dilettantismus und Sachverstand“, wähnte sich in einer Schlüsselstellung. Das hatte seinen Preis. „Hinterher werde es so aussehen, als sei man dabei gewesen und als habe man mitgemacht“, notiert er sich. Denn mit dem Posten des Staatssekretärs war der Eintritt in die NSDAP verbunden und die Aufnahme in die SS. Auf ausdrücklichen Wunsch Ribbentrops, einem der wenigen Duzfreunde Himmlers, wurde Weizsäcker am 20. April – Hitlers Geburtstag – mit dem Rang eines Oberführers (das entspricht einem Rang zwischen Oberst und Generalmajor) in die SS aufgenommen und am 9. November, dem 15. Jahrestag des gescheiterten Marsches auf die Münchner Feldherrnhalle, als SS-Führer feierlich auf Hitler vereidigt.
Hätte Weizsäcker abgelehnt, den schwarzen Rock zurückgewiesen, wäre er wohl nur wenige Wochen Staatssekretär geblieben. Es war jedoch ein gefährlicher Weg, den er beschritt. Er besaß als Staatssekretär kein Vortragsrecht bei Hitler. Was sollte er tun, wenn sich seine Erwartung, über Ribbentrop die Entscheidungen in der Reichskanzlei zu beeinflussen, als illusionär erwies? Noch vermochte er nicht zu erkennen, dass von Hitler ein großer Rasse- und Lebensraumkrieg vorbereitet wurde. Als er jedoch aus Gesprächen mit General Halder, Admiral Canaris und Generalstabschef Beck von der Entschlossenheit Hitlers erfährt, die „tschechische Frage“ rasch und notfalls mit Gewalt zu lösen, als er überdies erkennen muss, wie wenig er mit seinen Warnungen bei Ribbentrop – ihn und nicht Hitler hält er neben Himmler bis weit in das Jahr 1939 hinein für den eigentlichen Kriegstreiber – ausrichten kann, entschließt er sich, nicht mehr allein auf dem Dienstweg Front zu machen gegen den großen Krieg.
Jener Text, den Mussolini am 29. September 1938 in München vorlegte und der die Grundlage bildete für das brutale Abkommen, mit dem die Zerstückelung der hilflosen Tschechoslowakei über deren Kopf hinweg besiegelt, zugleich der Kriegsbeginn verhindert wurde – er war kurz zuvor in Berlin hinter dem Rücken Ribbentrops von Weizsäcker, Göring und Neurath entworfen, mit Hess abgestimmt und nach Rom übermittelt worden. Die „geräuschloseste aller Internationalen, die Internationale der Diplomaten“ (M. Boveri) hatte gegen Hitler gewonnen – ein letztes Mal. Denn das Münchner Abkommen sollte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen, mit dem der Krieg lediglich für weniger als zwölf Monate aufgeschoben worden war.
Hitlers Wut über die unliebsame Verzögerung richtete sich gegen die seit langem verachteten, mutlosen Zauderer im Auswärtigen Amt und besonders gegen den Staatssekretär, diesen „Weizensack“. Weizsäckers Stellung wurde noch schwieriger und dubioser. Er verstrickte sich immer tiefer in einem Netz aus Größenwahn, Kriegstreiberei und Staatsverbrechen. Nicht ohne Grund hat er später betont, der „Tag von München“ sei der „letzte glückliche Tag“ seines Lebens gewesen. Weizsäcker übernimmt den Vorsitz in jener internationalen Kommission, die die neuen Grenzen der CSR festlegen soll, kann aber eine „Grenzziehung auf dem Vergewaltigungswege“ nicht verhindern. Auch an jenem Menschenschacher zwischen Warschau und Berlin im Spätherbst 1938, als beide Regierungen Juden zu Tausenden ausbürgern und in den jeweils anderen Staat abschieben wollten, ist er beteiligt. Zunehmend tritt er nach außen als Funktionsträger des braunen Regimes in Erscheinung. Nicht von ungefähr notiert im Januar 1939 der elf Monate zuvor als Botschafter in Rom abgelöste Ulrich von Hassell, den mit Weizsäcker eine spannungsvoll-freundschaftliche Beziehung verbindet, der Staatssekretär scheine ihm „immer mehr entmarkt“.
In jenen Wochen enthüllten sich Hitlers Kriegsabsichten Weizsäcker immer deutlicher, spätestens als zur Vorbereitung des Eroberungskrieges im Osten am 15. März deutsche Soldaten in Prag einmarschierten. England und Frankreich garantierten nach diesem Gewaltakt am 31. März die Unabhängigkeit Polens, begannen mit dem Kreml Verhandlungen über eine Anti-Hitler-Koalition. Weizsäcker ist gegen die Bildung einer neuen Triple-Entente, begrüßt die Aufnahme von Gesprächen zwischen Berlin und Moskau und knüpft selbst im Auftrage Ribbentrops erste Fäden zum sowjetischen Geschäftsträger Astachow. Das Ziel des Staatssekretärs: Die Schaffung einer „Schwebelage“, Zeitgewinn, um die Möglichkeiten für eine friedliche Grenzrevision im Osten verbessern und gleichzeitig dem deutschen Diktator klarmachen zu können, dass entgegen den großspurigen Versprechungen seines Außenministers Briten und Franzosen tatsächlich für Polen zu den Waffen greifen würden.
Doch diesmal scheiterten Weizsäckers Bemühungen. In der Nacht vom 30. auf den 31. August ist klar: Hitler und damit der Kriegsbeginn sind nicht mehr aufzuhalten. Weizsäcker ist bei jenem nächtlichen Gespräch zwischen dem Diktator und Ribbentrop dabei – die mit zwei Kugeln geladene Pistole in seiner Tasche benutzt er nicht. „Ich bedauere, es hat in meiner Erziehung nicht gelegen, einen Menschen zu töten“, soll er kurz darauf zu Erich Kordt gesagt haben. Am 1. September meidet er Reichstag und Hitlerrede, bleibt im Amt, wo er in der Morgensitzung den Beamten kurz seine Tages-Parole mitteilt: „Jeder tue, was ihm sein Gewissen vorschreibt“ – die Parole eines Gescheiterten. Resignation durchzieht jetzt seine Notizen. An einen positiven Ausgang dieses Krieges vermag der militärisch geschulte Marineoffizier und hervorragend über das internationale Kräfteverhältnis informierte Staatssekretär von Anfang an nicht zu glauben. Aber Weizsäcker bleibt auf seinem Posten. Aus Pflichtgefühl und in der Hoffnung, Schlimmeres zu verhüten, insbesondere eine Ausweitung und Verlängerung des Krieges. Obzwar nicht unbeeindruckt von den ersten militärischen Erfolgen, besonders vom triumphalen Einzug der Wehrmacht in Paris, hofft er auf einen raschen Friedensschluss, noch bevor das ganze Land zerstört und zur Verhandlungsmasse degradiert ist, hofft später auf eine Aktion der Militärs gegen Hitler. Er klammert sich an Illusionen, versucht gleichzeitig zusammen mit seinen Mitarbeitern Kessel und Nostiz, Menschen zu helfen, wo er kann, und Kontakt zu oppositionellen Kräften zu halten, ohne sich oder seine Familie nachhaltig zu kompromittieren.
Insgesamt war seine Lage, wie Hassell im April 1940 notierte, „in jeder Hinsicht abscheulich; im Grunde hat er nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht“. Ein Schlüsselsatz – nicht nur für seine Stellung 1940, sondern auch für die Folgejahre bis zu seinem Wechsel nach Rom, zum Vatikan, ja, bis zum Prozess, bis zur Endphase seines Lebens. Vielleicht sogar noch darüber hinaus, als die Nachgeborenen ihn posthum verantwortlich machten, ohne die erste Hälfte von Hassells Diktum zu berücksichtigen – seinen Hinweis auf die alles in allem begrenzten Einflussmöglichkeiten eines Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes im Zweiten Weltkrieg, in jenen Zeiten, als der deutsche Staat von Hitlers „Führerabsolutismus“ dominiert wurde, der Rassenwahn Staatsdoktrin geworden war und jede Form von offenem administrativem Widerspruch, noch dazu von ziviler Seite, sich rasch existenzbedrohend auswirken konnte.
Weizsäcker flüchtet sich regelrecht in Arbeit. Je mehr das Amt im Krieg trotz wachsender Mitarbeiterzahlen an Bedeutung einbüßt, je weniger Ribbentrop präsent ist, desto verbissener harrt der Staatssekretär in der Wilhelmstrasse 74 aus, kämpft gegen Übergriffe konkurrierender Institutionen. Zugleich wird das Amt immer tiefer in die massenmörderischen Aktivitäten des Regimes verstrickt – und mithin auch der Staatssekretär. Denn das Auswärtige Amt ist zwar nicht die Schaltzentrale des Massenmordens und der Judenverfolgung, aber es ist auf diesem schändlichen Feld doch eine zuarbeitende Reichsbehörde. Die Verbindungen zur eigentlichen Schaltzentrale, dem Reichssicherheitshauptamt um Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner und dem Judenreferenten Adolf Eichmann, sind eng.
Das konnte dem Staatssekretär schwerlich verborgen bleiben, auch wenn er Reichsführung und SS durchweg als „Mann ohne Verantwortung“ galt, der „nichts auf die eigene Kappe“ nahm, ein Zauderer und Bedenkenträger also, nicht wirklich aufgeladen mit jener brutal-skrupellosen Energie, die sich – „zum Wohle der Volksgemeinschaft“ – über alle Rechtsgrundsätze hinwegzusetzen bereit war wie bei den jüngeren überzeugten Nationalsozialisten aus der „Generation des Unbedingten“. So wird auch nicht Weizsäcker, sondern der von ihm verachtete Unterstaatssekretär Martin Luther durch Heydrich, den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, zur „Wannsee-Konferenz“ am 20. Januar 1942 eingeladen. Aber Weizsäcker wird von Luther über die Ergebnisse dieser Besprechung hochrangiger Ressortvertreter zur Koordination „der Endlösung der Judenfrage“ unterrichtet, bekommt später die Protokolle der Folgekonferenzen am 6. März und 27. Oktober 1942 zu Gesicht, die ebenfalls den höchsten Geheimhaltungsstempel „Geheime Reichssache“ tragen, und zu klären suchen, wie jüdische Mischlinge zukünftig zu behandeln sind, da der industrialisierte Massenmord in den Vernichtungslagern, insbesondere in Auschwitz schon in vollem Gange ist. Auch Weizsäcker nimmt dazu Stellung. „Vom außenpolitischen Standpunkt dürfte es gleichgültig sein, ob die Mischlinge nach dem Osten abgeschoben, oder sterilisiert und in Deutschland belassen werden“, formuliert er im Juni 1942. Am 12. September greift er abermals in diese streng geheime Diskussion ein, als er auf dem Dienstweg Luther und dem Referat D III mitteilt: „Zu einem sachlichen Urteil über die hier geplanten gesetzgeberischen Maßnahmen scheinen mir im Auswärtigen Amt die Unterlagen und Vorkenntnisse zu fehlen. Ich glaube, wir sollten uns daher auf die allgemeine Feststellung beschränken, dass die jeweils mildere der zur Diskussion stehenden Lösungen vom außenpolitischen Gesichtspunkt aus den Vorzug verdient, um a) der Gegenpropaganda Ansatzpunkte zu entziehen, b) das Mitgehen der zu interessierenden anderen europäischen Staaten zu erleichtern.“
Eine für Weizsäcker typische Stellungnahme. Unter Hinweis auf außenpolitische Gesichtspunkte suchte er abzumildern, abzuschwächen. So suchte er auch zu helfen, diskret, von Fall zu Fall, aus dem System heraus. Von den Deportationen wusste Weizsäcker. Er hatte – und dafür wurde er später in Nürnberg verurteilt – auf eine Anfrage von Eichmann, dem Leiter des Referats IV B 4 (Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten) im RSHA, ob vom Auswärtigen Amt gegen die „Evakuierung“ von 6000 in Frankreich „staatspolizeilich in Erscheinung getretenen Juden in das Konzentrationslager Auschwitz“ Einwände geltend gemacht würden, am 21. März 1942 antworten lassen, dagegen werde „kein Einspruch“ erhoben. Im Juni fragte Eichmann abermals – zum letzten Mal – an, ob das Auswärtige Amt Einspruch einlege, wenn in Sonderzügen rund 50 000 Juden aus Frankreich, den Niederlanden und Belgien „zum Arbeitseinsatz in das Lager Auschwitz abbefördert“ würden. Weizsäcker lässt Luther am 29. Juli 1942 Eichmann mitteilen, dass „gegen die geplante Verschickung der angegebenen Anzahl von Juden keine Bedenken seitens des Amtes bestehen“.
Weizsäcker wurde von Luther auch bei anderen Deportationen einbezogen. Der Staatssekretär hatte die deutsche Anfrage bei der rumänischen, kroatischen, slowakischen Satellitenregierung gebilligt, ob diese „ihre Juden in angemessener Frist aus Deutschland abberufen oder ihrer Abschiebung in die Ghettos im Osten zustimmen wollten“. Er hatte erfahren, wie etwa die slowakische Regierung „sich mit dem Abtransport aller Juden nach dem Osten ohne jeden deutschen Druck einverstanden“ erklärt und sogar noch eingewilligt hatte, „für jeden evakuierten Juden als Unkostenbeitrag RM 500,– zu zahlen“. Bei der Abschiebung italienischer Juden machte der Staatssekretär dann allerdings Bedenken geltend, wollte Zeit gewinnen, drängte auf Rücksprache mit der Botschaft in Rom, möglicherweise, weil ihm immer genauer bewusst geworden war, welch mörderisches Schicksal die Deportierten am Ende der Transporte erwartete.
Weil Weizsäcker als Bedenkenträger und nicht als überzeugter Nationalsozialist galt, entsprach Ribbentrop im Frühjahr 1943 seinem Wunsche nach einer Versetzung, der auch Hitler keine Steine in den Weg legte, obwohl Versetzungsgesuche zu jener Zeit bereits verboten waren. Auch auf Posten in Rom wirkte Weizsäcker diskret, setzte sich für bedrängte italienische Juden ein, nutzte seinen guten Draht zu Papst Pius XII. und dem päpstlichen Beauftragten, Monsignore Hugh O’Flaherty, um verschiedentlich vor SS-Razzien zu warnen. Ulrich von Hassell allerdings war enttäuscht von seinem langjährigen Gesprächspartner, als er sich Mitte 1943 notiert: „Weizsäcker hat im Vatikan einen Posten, der sehr wichtig sein könnte, aber es unter diesem Regime nicht ist. Es ist die übliche falsche Etikette für die Nazis, zu der er sich hergibt“.
Während Hassell nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet werden sollte, geriet Weizsäcker nicht in den Fokus der Ermittlungen, denn er war kein Mann des Widerstands. Nach der Eroberung Italiens durch die Alliierten blieb er im Vatikan – auch über das Ende des Krieges hinaus, denn der Papst gewährte ihm und einigen wenigen Vertrauten politisches Asyl. Diesen Aufenthalt unterbrach er nur einmal kurz im April 1946, als er – unter der Zusage freien Geleits – nach Frankfurt flog, um als Entlastungszeuge in Nürnberg im Verfahren gegen Admiral Erich Raeder auszusagen. Im Kreuzverhör enthüllte er dort am 21. Mai erstmals – gegen heftigen sowjetischen Protest – Inhalt und Details des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Nachdem ihm General Marie-Pierre Koenig, Militärgouverneur der französischen Zone, für die Rückkehr nach Lindau freies Geleit zugesichert hatte, kehrte Weizsäcker Ende August 1946 zu seiner Familie zurück und begann seine „Erinnerungen“ zu verfassen. Im März 1947 wurde er als „freiwilliger Zeuge“ für die Folgeprozesse gegen NS-Täter geladen und verhört. Am 25. Juli erfolgte im Justizpalast von Nürnberg seine Verhaftung.
Nachdem in den Akten des Auswärtigen Amts die einzig erhalten gebliebene Abschrift des Wannsee-Protokolls gefunden worden war, rückte der Staatssekretär in den Mittelpunkt der Anklage. Der „Wilhelmstraßenprozess“, wo fast alle Angeklagten ihren Dienstsitz gehabt hatten, wurde unter dem Rubrum „United States of America against Ernst von Weizsäcker et al.“ geführt. Angeklagt wurde auf Basis der im Londoner Statut fixierten Tatbestände „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation“ vor drei, vom amerikanischen Militärgouverneur eingesetzten US-Richtern. Mit 169 Verhandlungstagen und einer Dauer von – inklusive Revisionsverfahren – rund zwei Jahren war es der längste und größte aller Nürnberger Folgeprozesse. Weizsäcker drohte die Todesstrafe, weil er von den massenweisen Deportationen Kenntnis gehabt hatte, auch wenn er betonte, er habe bis zu seinem Wechsel im Sommer 1943 nach Rom „nicht gewusst, was der Terminus ,Endlösung‘, wirklich bedeutet hätte, obwohl er tatsächlich „über die Konferenzen, in denen die Endlösung besonders erörtert wurde, in Berichten unterrichtet“ worden sei. Traf das wirklich zu? Zweifel blieben, denn Weizsäcker kannte, was nur wenigen im Dritten Reich zugänglich gemacht worden war: die Berichte der mörderischen Einsatzgruppen, die Heydrich ab November 1941 dem Auswärtigen Amt hatte übermitteln lassen – er hatte sie paraphiert.
Dass er am Ende vergleichsweise milde bestraft wurde und sogar einer der drei Richter – Leon W. Powers – auf Freispruch entschied, überdies in der erstmals zugelassenen Revision das Strafmaß um zwei Jahre reduziert werden sollte, hing nicht zuletzt mit der geschickten Verteidigung zusammen, die von den befreundeten Schweizer Familien Schwarzenbach und Wille finanziert und von Hellmut Becker, dem Sohn das preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, maßgeblich organisiert wurde. Die Verteidigung, an der auch der Sohn des Angeklagten, Richard von Weizsäcker mitwirkte, stilisierte Weizsäcker, unterstützt durch eine Vielzahl renommierter Zeugen aus dem In- und Ausland, zum Kopf einer geheimen, inneren Widerstandsgruppe im Auswärtigen Amt – was ihm möglicherweise das Leben rettete, wovon er sich jedoch in einem Brief vom 20. April 1949 an seine Frau Marianne am Ende des Verfahrens, in welchem er zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, distanzierte: „Ich habe mir eine Funktion zugetraut, die im entscheidenden Moment über meine Kräfte ging. Ich kritisiere nicht die von mir im Frühjahr getroffene Entscheidung, den Kampf aufzunehmen (…). Ich hätte jedoch unmittelbar vor Kriegsausbruch eine Kraftprobe auf Biegen und Brechen – in dieser Lage also Brechen – machen sollen. Mein Verhalten ab Herbst 1939 ist unrühmlich. Ich scheue darum die Fortsetzung einer Märtyrerrolle, die meinem Gewissen nicht entspricht.“
Während der Haftzeit von Weizsäcker setzen sich neben Hellmut Becker und Marion Dönhoff nicht zuletzt auch namhafte schwäbisch-württembergische Freunde für ihn ein wie Hans Speidel, Carlo Schmid, der württembergische Landesbischof Wurm oder der Heidelberger Juristenkreis. Der frisch ins Amt gelangte Bundespräsident Theodor Heuss, gleichfalls ein Schwabe, intervenierte mehrfach beim Hohen Kommissar John McCloy. Dieser ließ Heuss wissen, dass in den Weizsäcker-Akten „sich doch auch recht belastende Stücke“ befänden. Im Oktober 1950 wurde Weizsäcker schließlich jedoch als einer der ersten der im Wilhelmstraßen-Prozess Verurteilten begnadigt und aus dem Gefängnis Landsberg, dort, wo auch Hitler inhaftiert gewesen war, entlassen. Weizsäcker stirbt ein knappes Jahr später im August 1951. Es war dies der unspektakuläre Ausklang in der Biographie eines Mannes, der geprägt war von liberalkonservativen Denk- und Verhaltensmustern des frühen 20. Jahrhunderts und viel zu spät erkannte, dass Hitler weit mehr wollte als die Revision des Versailler Systems. Dies war, neben der Überschätzung der Einflussmöglichkeiten eines Spitzenbeamten in der NS-Diktatur, der tragische Grundirrtum seines Lebens. Als Weizsäcker seinen Grundirrtum erkannte, war es zu spät, war das Deutsche Reich ebenso ruiniert wie seine persönliche Existenz.
Quellen: Ernst von Weizsäcker, Erinnerungen, hg. von Richard von Weizsäcker, 1950; Ernst von Weizsäcker, Aus seinen Gefängnisbriefen 1947 – 1950, o. J. [1955]; Leonidas E. Hill (Hg.), Die Weizsäcker-Papiere, Bd.1 1933 – 1950, 1974; Bd. II 1900 – 1932, 1982; Hellmut Becker, Wortlaut des Plädoyers für Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßen-Prozess (1948), in: Quantität und Qualität, Grundfragen der Bildungspolitik, 1968, 13-58.

Literatur: Rainer A. Blasius, Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Staatssekretär Ernst Frhr. von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, 1981; Marion Thielenhaus, Zwischen Anpassung und Widerstand: Deutsche Diplomaten 1938 – 1941. Die politischen Aktivitäten der Beamtengruppe um Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt. 2. Aufl., 1985; Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, 1987; Martin Wein, Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie, 1988; Rolf Lindner, Freiherr Ernst Heinrich von Weizsäcker, Staatssekretär Ribbentrops von 1938 bis 1943, 1997; Stephan Schwarz, Ernst Frhr. von Weizsäckers Beziehungen zur Schweiz (1933 – 1945). Ein Beitrag zur Geschichte der Diplomatie, 2007; Jobst Knigge, Der Botschafter und der Papst. Weizsäcker und Pius XII. Die deutsche Vatikanbotschaft 1943 – 1945, 2008; Christopher R. Browning, Die „Endlösung“ und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940 – 1943, 2010; Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 2010; Thorsten Hinz, Der Weizsäcker-Komplex: Eine politische Archäologie, 2012; Daniel Koerfer, Fallstudie Ernst von Weizsäcker – eine Schlüsselfigur, in: ders.: Diplomatenjagd – Joschka Fischer, seine Unabhängige Kommission und Das Amt, 2013, 274-326.
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