Wurm, Theophil Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 1868-12-07; Basel
Sterbedatum/-ort: 1953-01-28;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Kirchenpräsident und Evangelischer Landesbischof in Württemberg
Kurzbiografie: 1887-1891 Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen
1894-1899 Stadtvikar in Stuttgart
1899-1913 Pfarrer bei der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart
1913-1920 Pfarrer in Ravensburg
1919 Mitglied der Landesversammlung in Württemberg
1920 Mitglied des Landtags – Bürgerpartei
1920-1927 Dekan in Reutlingen
1927 Prälat in Heilbronn
1929-1949 Kirchenpräsident, ab 1933 Landesbischof
1945-1949 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland
1946 Mitglied der vorläufigen Volksvertretung Württemberg-Baden
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Silberne Karl-Olga-Medaille (1910), D. theol. h. c. der Universität Tübingen (1929), Großes Bundesverdienstkreuz (1951)
Verheiratet: 1900 (Blaubeuren) Marie Friederike, geb. Bruckmann (1875-1951)
Eltern: Vater: Paul Ernst (1829-1911), Pfarrer und Dekan
Mutter: Luise Regula, geb. Kind (1834-1907)
Geschwister: 5:
Paul Theodor Friedrich
Maria Pauline
Lydia
Mathilde Emilie
Anna Monika
Kinder: 5: Hans, Mathilde, Friedrich, Adelheid, Gertrud
GND-ID: GND/118635646

Biografie: Jörg Thierfelder (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 408-411

Wurm war der fünfte Theologe in seiner Ahnenreihe. Geboren wurde er in Basel, wo sein Vater einige Jahre am Missionshaus tätig war. In Mössingen und Kirchheim wuchs er auf und nach dem Besuch der Evangelisch-theologischen Seminare in Maulbronn und Blaubeuren studierte er Theologie in Tübingen. Er schloss sich der bekannten Theologenverbindung Luginsland an. Familiär pietistisch geprägt ließ sich Wurm von der damaligen modernen Theologie Albrecht Ritschls u. a. anregen, stand aber den „Amtsbrüdern aus der biblizistischen Richtung näher“ (Erinnerungen 33). Vor einer Vereinnahmung in eine bestimmte theologisch-kirchenpolitische Gruppe schreckte er immer wieder zurück. Wurm war historisch und politisch sehr interessiert und griff in seinen Vorträgen und Memoranden später immer wieder auf historische Beispiele zurück.
Auf seiner damals üblichen wissenschaftlichen Reise als Vikar kam er 1893 nach Berlin und wurde dort stark von dem früheren Hofprediger Adolf Stoecker beeindruckt. Vor allem dieser engagierte Prediger, der offensiv die Sache des Glaubens vertrat, wurde ihm zum Vorbild. Wurm kritisierte zwar Stoeckers oft verletzende Polemik, fühlte sich ihm aber verbunden in der nationalen Gesinnung, dem sozialen Engagement, der Ablehnung der Sozialdemokratie und der antisemitischen Einstellung. Später schloss Wurm sich den von Stoecker gegründeten Christlich-Sozialen an.
An der Stuttgarter Friedenskirche war Wurm ab 1894 fünf Jahre als Stadtvikar tätig. Die dort gemachten Erfahrungen prägten ihn stark. Seine erste Pfarrstelle trat er bei der Evangelischen Gesellschaft, der Stadtmission in Stuttgart, an. Zu seinen Aufgaben gehörte es hier u. a., durch Reisepredigten Interesse für die Arbeit der Inneren Mission zu wecken. Nach sieben erfolglosen Bewerbungen gelang es ihm, 1913 eine Gemeindepfarrstelle in Ravensburg zu bekommen. In die Ravensburger Zeit fiel der I. Weltkrieg, in dem Wurm leidenschaftlich die deutsche Position unterstützte. So hielt er z. B. Vorträge an der Westfront.
Mit der deutschen Niederlage brach für Wurm eine Welt zusammen. An seinem 50. Geburtstag schien es ihm, als ob sein Leben umsonst gewesen wäre. Das Bismarckreich blieb für Wurm sein Leben lang politisches Leitbild; zur Demokratie als Staatsform fand er nach 1918 keine Beziehung. Er vermisste in der Weimarer Republik auch den christlich geprägten Staat. Wurm engagierte sich in der damals bei der Bürgerpartei, dem württembergischen Zweig der DNVP, und wurde in die Verfassungsgebende Landesversammlung und den ersten Landtag gewählt. Mit der Wahl zum Dekan von Reutlingen 1920 gab er seine politischen Ämter auf, verfolgte aber weiterhin das politische Leben mit wachem Interesse. 1927 wurde Wurm Prälat von Heilbronn und 1929 Kirchenpräsident als Kandidat der Gruppe l, wie sich die „Kirchlich-Positiven“ in Württemberg nannten.
Auch die württembergische Landeskirche hatte unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise zu leiden. Die Staatsleistungen wurden gekürzt und als Folge davon die Pfarrgehälter. Die zunehmende Politisierung und Polarisierung innerhalb der Pfarrerschaft veranlasste die Kirchenleitung unter Wurm zu Maßhalteappellen – ohne großen Erfolg bei den Pfarrern zu erreichen. Obwohl diese mehrheitlich Sympathien für die nationale Rechte hatte, wollte sie doch wegen der Überparteilichkeit des Evangeliums die Kirche aus dem Parteienstreit herauszuhalten. Eine klare Abgrenzung gegenüber den sehr aktiven NS-Pfarrern war freilich auf diese Weise nicht möglich.
Wurm begrüßte wie die meisten leitenden evangelischen Kirchenmänner in Deutschland die „Machtergreifung“ durch das „nationale Kabinett“ unter Hitler. Dessen große Zusicherungen an die Kirchen in der Regierungserklärung 1933 ließen ihn auf einen Gleichklang mit der neuen Regierung hoffen. Für die neue Regierung sprachen ihre betont kirchenfreundliche Haltung zu Beginn des „Dritten Reiches“, das Eintreten für die Volksgemeinschaft, ihr Kampf gegen den Bolschewismus und das – marxistische – Freidenkertum. Der national eingestellte Wurm begrüßte auch, dass Hitler die „Fesseln von Versailles“ Stück für Stück abwarf. Das hinderte ihn aber von Anfang an nicht, an einzelnen Maßnahmen des neuen Regimes Kritik zu üben. Vergebens beschwor er den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss in Berlin, ein öffentliches Wort der Kirche gegen den Judenboykott vom 1. April 1933 zu erlassen, mit der Begründung, „das Württemberger Kirchenvolk sei mit der Boykottbewegung in keiner Weise einverstanden“. Wurms Verständnis der Zwei-Reiche-Lehre beinhaltete durchaus, dass die Kirche dem Staat gegenüber das Wort ergreifen musste, wenn dieser versagte.
Wurm brachte zunächst auch große Sympathien für die „Deutschen Christen“ auf, die Evangelische Kirche und Nationalsozialismus in eine positive Verbindung bringen wollten. Er hoffte wohl mit anderen gemäßigten württembergischen „Deutschen Christen“, wie Wilhelm Pressel, Gotthilf Weber und Kurt Hutten, dass der politischen Erneuerung auch eine religiöse folgen würde. Im Mai 1933 wurde Wurm auf Grund eines kirchlichen „Ermächtigungsgesetzes“ für ein Jahr mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet, um bei den beginnenden Verhandlungen um eine zukünftige Reichskirche rasch handeln zu können. Im Mai 1933 nahm er auch, dazu aufgefordert vom Ständigen Ausschuss des Landeskirchentags, den Titel eines Landesbischofs an und übte sein Bischofsamt vor allem als Prediger auf vielen württembergischen Kanzeln aus. Bei der von den „Deutschen Christen“ angestoßenen überstürzten Kirchenreform unterstützte Wurm von Anfang an die Reichsbischofskandidatur von Ludwig Müller, Hitlers Vertrauensmann für die evangelische Kirche. Nicht noch einmal sollte nach seiner Auffassung die Kirche eine starke Volksbewegung zurückstoßen, wie es 40 Jahre zuvor, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung geschehen war. Württemberg verzichtete bei den Wahlen für die neue Reichskirche im Juli 1933 ganz auf eine Wahl. Man beschloss eine Einheitsliste, auf der die „Deutschen Christen“ von vornherein eine Mehrheit hatten. Deren theologische Exzesse auf der kirchlichen Sportpalastkundgebung im November 1933 und ihre brutalen kirchenpolitischen Methoden, wie z. B. bei der Überführung der evangelischen Jugend in die Hitlerjugend, haben Wurms Vertrauen in diese Bewegung aber bald zerstört. Er schloss sich der kirchlichen Opposition an und ging den Weg mit zur I. Reichsbekenntnissynode von Barmen, der Geburtsstunde der Bekennenden Kirche.
In Württemberg war die Bekennende Kirche in der Pfarrerschaft einmal durch die eher gemäßigte „Bekenntnisgemeinschaft“, zum anderen durch die wesentlich radikalere, theologisch stark von Karl Barth bestimmte „Kirchlich-theologische Sozietät“ vertreten. Beide Gruppierungen versuchten, den Anliegen der Bekennenden Kirche in Württemberg gerecht zu werden, kamen dabei aber immer wieder in Konflikte mit der Kirchenleitung und ihrem Landesbischof, die sich nicht selten zu Kompromissen mit dem NS-Staat genötigt sahen. In der evangelischen Christenheit Deutschlands wurde Wurm unterdessen als Leiter einer kleineren Landeskirche durch seinen hinhaltenden Widerstand gegen die Eingliederungsmaßnahmen des Reichsbischofs Müller im Jahr 1934 bekannt. Im Herbst 1934 wurde er für einige Wochen abgesetzt und unter Hausarrest gestellt. Es kam zu großen Demonstrationen in Stuttgart, die weltweit Aufsehen erregten, so dass schließlich die Bischöfe Wurm in Württemberg und Meiser in Bayern auf Veranlassung Hitlers rehabilitiert wurden. Wurm gehörte innerhalb der Bekennenden Kirche zum gemäßigten Flügel, der 1935 die staatliche Einsetzung von Kirchenausschüssen befürwortete – freilich nicht für die eigene Landeskirche –, im Unterschied zum ‚radikalen‘ Flügel um Martin Niemöller, der solche staatlichen Eingriffe in die Kirche ablehnte. 1936 kam es zum Bruch zwischen den Flügeln der Bekennenden Kirche. Die württembergische Landeskirche schloss sich mit anderen lutherischen Landeskirchen und Bruderräten dem Lutherrat an.
In den Jahren vor dem II. Weltkrieg sah sich Wurm mit der Kirchenleitung in einen Kleinkrieg mit dem NS-Staat verwickelt, der unter dem Slogan „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ die Kirche aus der Öffentlichkeit verdrängen wollte. Gekämpft wurde um den Religionsunterricht an der Schule, das kirchliche Pressewesen und die Diakonie. Entsetzt reagierte Wurm auf die Reichspogromnacht 1938, konnte sich aber wie alle deutschen evangelischen und katholischen Bischöfe zu keinem öffentlichen Protest durchringen. Den mutigen Prediger gegen die Reichspogromnacht Julius von Jan konnte Wurm zwar vor dem Konzentrationslager bewahren, doch in der Sache trat er ihm nicht zur Seite.
Im II. Weltkrieg nahm Wurm ein Sprecheramt der gesamten Bekennenden Kirche Deutschlands gegenüber Staat und Partei wahr. Voraussetzung für diese Tätigkeit war, dass er in dem von ihm initiierten Kirchlichen Einigungswerk eine Annäherung der zerstrittenen Flügel der Bekennenden Kirche bewerkstelligte. Vor allem seit 1941 verschickte Wurm eine Fülle von Protestbriefen an Funktionsträger des NS-Staats. In ihnen prangerte er auch konkrete Menschenrechtsverletzungen wie die NS-Euthanasieaktion und den millionenfachen Mord an den Juden an. Diese Schreiben erreichten insofern eine Öffentlichkeitswirkung, als sie – immer wieder abgeschrieben – in der Bevölkerung zirkulierten und von der alliierten Feindpropaganda durch Rundfunksender verbreitet wurden. Ein gegen Wurm vorbereiteter Hochverratsprozess vor dem Volksgerichtshof durfte auf Hitlers Anordnung nicht durchgeführt werden. Wurm erhielt im März 1944 durch den Chef der Reichskanzlei, Reichsminister Hans Heinrich Lammers, die Auflage, in Zukunft „Ausführungen zu Fragen der allgemeinen Politik zu unterlassen“.
Wurm sah es nicht als Aufgabe der Kirche an, sich am politischen Widerstand gegen Hitler zu beteiligen. Er selbst hatte freilich schon früh Kontakte zur Widerstandsbewegung, vor allem zum Goerdeler-Kreis, zum Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und zum Freiburger Widerstandskreis um Gerhard Ritter. Er wurde in die Attentatspläne auf Hitler zwar nicht eingeweiht, aber nach den Plänen der Widerstandsbewegung war er bei einem geglückten Umsturz dazu ausersehen, eine Proklamation an das deutsche Volk zu verlesen. Persönlich hätte er anstelle eines Attentates eine Verhaftung der NS-Führungsspitze durch die Wehrmacht bevorzugt.
In der württembergischen Landeskirche als einer der drei sogenannten „intakten“ Landeskirchen brachte das Kriegsende keine größeren Veränderungen. Von besonderer Bedeutung war die Gründung der Evangelischen Akademie in Bad Boll durch den früheren Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) Eberhard Müller, die Wurm sehr unterstützte. Wurms Bemühen um das Kirchliche Einigungswerk ist es zu verdanken, dass schon Ende August 1945, gerade vier Monate nach Kriegsende, auf der Kirchenkonferenz von Treysa die vorläufige Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beschlossen und ein zwölfköpfiger Rat unter Wurm als erstem Ratsvorsitzenden gewählt wurde. In Treysa wurde auch das Evangelische Hilfswerk gegründet, das unter der Leitung von Eugen Gerstenmaier sich für die Linderung der ärgsten Nachkriegsnöte einsetzte. Zusammen mit den anderen Ratsmitgliedern gab Wurm bei einem Besuch einer ökumenischen Delegation unter dem späteren Generalsekretär des Ökumenischen Weltkirchenrates Visser t'Hooft am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart eine Erklärung ab, in der sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Schuld von Kirche und Volk an den Verbrechen des „Dritten Reichs“ bekannte.
Wurm war in der Folgezeit als Ratsvorsitzender auch Sprecher der Evangelischen Kirchen gegenüber den alliierten Besatzungsmächten. Seine Kritik an den Alliierten, deren Entnazifizierungsmaßnahmen und sein engagierter Einsatz für Deutsche, die in Kriegsverbrecherprozessen verurteilt wurden, blieben nicht unumstritten, zumal sich Wurm nicht in entsprechender Weise für die Opfer der NS-Herrschaft einsetzte, wie z. B. Juden, Sinti und Roma. Vertreter der Bekennenden Kirche konnten darin nicht den „neuen Anfang“ sehen, zu dem sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im der Stuttgarter Schulderklärung verpflichtet hatte.
Die Konferenz von Treysa vermochte die schweren Konflikte zwischen konfessionellen Lutheranern und der bruderrätlichen Bekennenden Kirche nicht grundlegend zu lösen. Es dauerte noch drei Jahre, bis 1948 in Eisenach die endgültige Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland verabschiedet werden konnte. Ein Jahr später legte Wurm das Amt des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland nieder. Als württembergischer Landesbischof war er schon 1948 in den Ruhestand getreten.
Quellen: LkAS D1 Nachlass Wurm.
Werke: Die Botschaft d. Kirche. Predigten von Landesbischof T. Wurm, 1935; Lebensrätsel u. Gottesglaube. Ein Wort zu den Nöten d. Gegenwart, 1932, 1949 4. Aufl.; Erinnerungen aus meinem Leben. Ein Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte, 1953 2. Aufl.; Fünfzig Jahre im Dienste d. Kirche. Predigten u. Reden. Mit einem Nachwort von M. Haug, 1950.
Nachweis: Bildnachweise: LkAS (vgl. Quellen).

Literatur: David J. Diephouse, T. Wurm (1868-1953), in: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder, Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche u. Nationalsozialismus in Württemberg, 1998, 13-34; Gerhard Schäfer, Dokumentation zum Kirchenkampf. Die Landeskirche in Württemberg u. d. Nationalsozialismus, 6 Bde, 1971 ff.; ders. u. Richard Fischer, Landesbischof Wurm u. d. nationalsozialistische Staat 1940-1945. Eine Dokumentation, 1968; Karl Schumacher, T. Wurm in den Krisen u. Entscheidungen seiner Zeit, 1958; Jörg Thierfelder, Das Kirchl. Einigungswerk des württ. Landesbischofs T. Wurm, 1975; ders., T. Wurm, in: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jh., hg. v. Wolf-Dieter Hauschild, 1998, 743-758.
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