Bock, Emil 

Geburtsdatum/-ort: 19.05.1895; Barmen, jetzt Wuppertal
Sterbedatum/-ort: 06.12.1959;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Leiter der Christengemeinschaft, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1905-1914 Realgymnasium Barmen, Abitur
1914 (Sommersemester) Studium der Germanistik, des Englischen und Französischen in Bonn
1914 (August) Kriegsfreiwilliger in Berlin, Frontdienst in Flandern, schwere Verletzung am 31.10.
1915-1918 Gefreiter in der Postzensurstelle für ausländische Sendungen in Berlin, gleichzeitig Fortsetzung des philologischen Studiums an der Universität Berlin
1918-1922 Studium der evangelischen Theologie in Berlin, 1. und 2. Konsistorialexamen, Vikar und Aushilfsprediger, Lic. theol.
1922 Gründung der Christengemeinschaft, „Oberlenker“, 16.09. Priesterweihe, Umsiedlung nach Stuttgart
ab 1922 Gründung von Mitgliedergruppen der Christengemeinschaft, ausgedehnte Vortrags- und schriftstellerische Tätigkeit, Auslandsreisen
1924 Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaften in Dornach (Schweiz)
1938 als Nachfolger Friedrich Rittelmeyers „Erzoberlenker“ der Christengemeinschaft (09.06.)
1941 (11.06.) Verhaftung, Konzentrationslager Welzheim bei Stuttgart, 05.02.1942 Entlassung, Angestellter der Firma Bosch, Stuttgart
1945 Wiederbegründung der Christengemeinschaft, Fortsetzung der Vortrags- und schriftstellerischen Tätigkeit
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch, seit 1922 Mitglied der Christengemeinschaft
Verheiratet: 1922 Wuppertal, Grete, geb. Seumer
Eltern: Emil Bock, Packer
Anna, geb. Berk
Geschwister: 1
Kinder: 4
GND-ID: GND/118660357

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 64-67

Der Lebensweg Bocks begann in der Armut und Beengtheit einiger Hinterhauszimmerchen. Der Vater war als Packer in einem Teppichkaufhaus und gleichzeitig als Diener des jüdischen Inhabers Ernst Wahl beschäftigt, der Bock den Besuch der höheren Schule und später der Universität ermöglichte. Nichts deutete in dem proletarischen Milieu seiner Jugend auf die Schätze des Wissens und des Geistes hin, die sich Bock später zu eigen machen sollte.
Schon der Sechsjährige mußte bei der schweren häuslichen Arbeit der Eltern mithelfen, beim Zusammennähen und danach beim Schleppen der Teppiche. Als der Vater erkrankte, dirigierte er die Fron der Familie von seinem Bett aus, und als er nach langem Siechtum 1911 starb, trug der sechzehnjährige Bock noch mehr Verantwortung als vorher für die nackte Existenz der Familie. Inzwischen hatte er sich aber eine neue Einnahmequelle erschlossen. Schon in der Volksschule war er immer der Klassenerste, und dies setzte sich im Gymnasium fort und befähigte ihn, schon mit 14 Jahren Nachhilfestunden zu erteilen. Damit unterstützte er seine Mutter und verdiente sich einen Teil der Mittel für Schule und Studium. Schon in diesen frühen Jahren werden Charaktereigenschaften Bocks sichtbar, die ihn lebenslang nicht verlassen sollten: eiserner Fleiß, Beharrlichkeit und ein schier unbegrenzter Wissens- und Erkenntnisdrang. Frühe Kontakte zur Religion waren eher peripher: „Die Konfirmation ist spurlos an mir vorübergegangen.“ Mit Elan stürzte er sich in sein erstes Semester in Bonn. In wenigen Monaten erlernte er Gotisch, Alt- und Mittelhochdeutsch und Provenzalisch. Vage hatte er den Lehrerberuf als Berufsziel vor Augen. Von Bedeutung war die Mitgliedschaft im „Theologischen Studentenverein“ wegen der dort gesammelten Erfahrungen auf seinem später ureigensten Gebiet. Bei Kriegsausbruch konnte er sich der nationalen Hochstimmung nicht entziehen und meldete sich, da die rheinischen Regimenter keine Freiwilligen mehr annahmen, der Empfehlung eines ihm zufällig begegnenden früheren Mitschülers folgend, in Berlin beim Kaiser-Franz-Gardegrenadierregiment und wurde dort auch angenommen.
Nach kurzer Ausbildung im märkischen Sand wurde er am 10.10.1914 an die Front nach Belgien geschickt, und dort erlitt er schon nach drei Wochen eine fast tödliche Verwundung, einen Einschuß direkt neben der Wirbelsäule. Darm und eine Niere wurden durchschossen. 30 Stunden lag er in einem Wassergraben, ehe er von einem das Schlachtfeld nochmals absuchenden Sanitätstrupp geborgen wurde. Über das Feldlazarett Brügge gelangte er nach Bonn, wo er sich in halbjähriger Genesungszeit – während der er Griechisch und Latein lernte – einigermaßen erholte. Aber Lähmungserscheinungen blieben zurück.
Im Sommer 1915 mußte er zu seiner Truppe nach Wünsdorf bei Berlin zurückkehren und beantragte als erstes einen sechswöchigen Arbeitsurlaub. In dieser Zeit bestand er in Koblenz die Ergänzungsprüfung zum Abitur – Griechisch und Latein. Aufgrund seiner guten Französisch- und Englischkenntnisse gelang es ihm, sich dem militärischen Drill zu entziehen und in eine Postüberwachungsstelle in Berlin kommandiert zu werden, wo die Auslandspost zensiert wurde. Gleichzeitig setzte er an der Berliner Universität sein philologisches Studium fort. Sein wissenschaftliches Interesse allerdings verlagerte sich immer mehr in Richtung Theologie. Die großen Universitätslehrer jener Zeit wie Ernst Troeltsch (1865-1923) und Adolf Harnack (1851-1930) vermittelten ihm bleibende Eindrücke. Auch in Berlin gehörte er dem „Theologischen Studentenverein“ an. Im Winter 1916/17 erlernte er in fünfwöchigem Selbststudium Bibelhebräisch und bestand die Universitäts-Prüfung. Adolf Deißmann (1866-1937) erschloß ihm die „Sprachseele des Neuen Testaments“ (Bock), und bei Paul Tillich (1886-1965) gewann er erste Einblicke in die religiös-soziale Problematik.
Im Sommer 1916 hörte er, mehr zufällig, die Antrittspredigt Friedrich Rittelmeyers (1872-1938) in der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt. Er erschien Bock wegen der „von jedem traditionellen Leerlauf befreiten Komposition der Liturgie“ wie „der Bote eines bis dahin unbekannten Landes“. Ende 1917 lernte er Rudolf Steiner (1860-1925) kennen. Bock hatte damit den geistigen Boden gefunden, auf dem er weiterschreiten konnte. 1918-1922 absolvierte er das Studium der evangelischen Theologie mit den vorgeschriebenen Konsistorialexamina. Im Vikariatsjahr in der Berliner Zionspfarrei lernte er vor Ort das soziale Elend des Berliner Nordens kennen. Sein verständnisvoller Pfarrer ließ ihm Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit. 1918/19 gewann er drei theologische Preisaufgaben über Schleiermacher; die dritte – „Schleiermachers historische Denkweise, mit spezieller Berücksichtigung seiner Urteile über die Reformation“ – wurde sowohl beim ersten wie beim zweiten Konsistorialexamen wie auch beim Lizenziat als schriftliche Prüfungsarbeit anerkannt. Sein „Doktorvater“ beim letzteren war der Systematiker Julius Kaftan (1848-1926). Das Zeugnis des 2. Examens holte Bock allerdings schon nicht mehr ab, da er zu dieser Zeit der Kirche, in die er hineingeboren war, längst entwachsen und als engster Mitarbeiter Rittelmeyers mit den die Gründung der Christengemeinschaft vorbereitenden Arbeiten befaßt war.
Die Erneuerung der Religion mit Hilfe der Anthroposophie, eine neue, „dritte“ christliche Kirche – mit diesem kühnen Programm gingen die Gründer der Christengemeinschaft, an vorderster Stelle Rittelmeyer und Bock, ans Werk. Eine organisatorische „Zentralstelle“ wurde geschaffen, die von Berlin nach Stuttgart verlegt wurde, um dem Zentrum der Anthroposophie in Dornach näher zu sein. Bock erwarb mit Hilfe der Stiftung eines schwedischen Ingenieurs ein Grundstück an der Urachstraße, auf dem das Verlagsgebäude „Urach-Haus“ errichtet wurde. Die Gründung von Gemeinden und eines Priesterseminars sowie die Beschaffung von Räumlichkeiten nahmen die Gründer voll in Anspruch. Steiners Rat führte 1922 zum Aufbau der Hierarchie der Christengemeinschaft, mit Rittelmeyer als „Erzoberlenker“ und Bock als „Oberlenker“. Im Dezember 1922 wurde erstmals die zentrale Kulthandlung der Gemeinschaft, die „Menschenweihehandlung“, in Stuttgart gefeiert. Gleichzeitig begann Bocks umfangreiche Vortragstätigkeit, in der er die Grundsätze der „Neuen Reformation“ darlegte, und seine ausgedehnten und in ihrem Ausmaß erstaunlichen schriftstellerischen Aktivitäten, bei denen die systematische Begründung der neuen Lehre, an erster Stelle die Wiederverkörperungsidee, die Entwicklung des Menschen in immer neuen Geburten bis zur reingeistigen Erfüllung der „Gottseligkeit“ und die Erschließung der Sprachgestalt der Bibel im anthroposophischen Sinne im Vordergrund standen. Dabei ging Bock mit bohrender Akribie vor; in einem Seminar bezeichnete er einmal eine von ihm ins Deutsche übertragene Passage aus dem Römerbrief als seine 25. Übersetzung, „aber sie taugt auch nichts“.
Schwere Zeiten für die Christengemeinschaft begannen, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergriffen. 1941 wurde die Gemeinschaft verboten, aber Bock, 1938 nach dem Tod Rittelmeyers zum „Erzoberlenker“ bestimmt, setzte unbeeindruckt seine priesterliche Tätigkeit fort. Am 11.6.1941 wurde er von der Gestapo verhaftet und in das KZ Welzheim bei Stuttgart eingeliefert. Dort begann er mit der Niederschrift seiner Erinnerungen. Erst nach acht Monaten wurde er entlassen und fand, nach kurzem Aufenthalt in der alten Heimat Wuppertal, eine Anstellung bei der Firma Bosch in Stuttgart. Seinen priesterlichen Dienst setzte er bis Kriegsende in größter Heimlichkeit fort.
Nach dem Zusammenbruch begann Bock mit aller ihm innewohnenden Tatkraft mit dem Wiederaufbau der Gemeinden. Sowohl das Urachhaus wie auch das Stuttgarter Gemeindehaus und das Seminargebäude waren im Bombenhagel des Jahres 1944 untergegangen. Durch einen glücklichen Umstand waren die kostbare Bibliothek, die Akten und Manuskripte der Christengemeinschaft gerettet worden: Professor Jakob Wilhelm Hauer war vom NS-Sicherheitsdienst (SD) mit der Prüfung dieses Materials beauftragt worden, und er konnte 1945 alles lückenlos zurückgeben. Mit Hilfe treuer Gemeindemitglieder wie Marta Fuchs gelangen Neuaufbau und Konsolidierung. Auch die von den Nationalsozialisten 1935 verbotene Anthroposophische Gesellschaft konnte unter führender Beteiligung Bocks wiederbegründet werden.
Eine für Bock unverständliche Entscheidung traf die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), als sie im Jahre 1948 nach jahrelangen Verhandlungen die Taufe der Christengemeinschaft als „nicht christlich“ bezeichnete. Die Katholische Kirche stellte fest, „die Christengemeinschaft deutet die christlichen Glaubenswahrheiten und Heilstatsachen im Sinne der monistisch-kosmologischen Entwicklungslehre und eines neugnostischen Mystizimus um“ (Konrad Algermissen), und empfahl, wie auch die EKD, eine Doppelmitgliedschaft in der Katholischen Kirche und in der Christengemeinschaft nicht zuzulassen.
Es würde den Rahmen dieses knappen Lebensberichts weit überschreiten, wenn nun im Blick auf Bocks Lebenswerk die Frage nach dem „Erfolg“ gestellt und gar der Versuch einer Antwort gewagt würde. Statt dessen sei lediglich auf die für die Entstehung der Christengemeinschaft maßgebliche religiös-kirchliche Situation vor 70 Jahren hingewiesen, „die Verengung der evangelischen Frömmigkeit, die Verkümmerung des sakralen Gottesdienstes und der Verlust der kosmischen Bezüge“ (Kurt Hutten), eine Situation, der Bock und seine Freunde in ihrem ernsthaften Streben nach Wahrheit und erfülltem inneren Leben auf ihre Weise, eben mit dem anthroposophischen Welt- und Menschenbild, entgegentraten, mit der Definition des Geistigen als Urgrund allen Seins und der Abspaltung des Materiellen als „Ursünde“. Die den christlichen Großkirchen eigenen Grundbegriffe wie Offenbarung, Sünde, Rechtfertigung und Erlösung lassen sich nach Auffassung der Kirchen mit dem von Steiner, Rittelmeyer und Bock entworfenen anthroposophischen Welt- und Menschenbild nicht vereinbaren.
Quellen: Lebenserinnerungen von Emil Bock, in: Die Christengemeinschaft 1960, 13, 18, 44-49, 83-86, 112-115, 157-159, 172-176, 204-208, 236-242, 276-280, 303-307, 335-337, 361-365; 1961, 13-17, 51-55, 82-85, 118-120, 147-150, 179-181, 206-209, 238-241, 364-366; Briefe, 1968; Mitteilungen von Georg Dreißig, Verlag Urachhaus, Stuttgart
Werke: Die Kindheit Jesu. Zwei apokryphe Evangelien, übersetzt und eingeleitet, 1924; Das lichte Jahr (mit Rudolf Meyer), o. J., Beiträge zum Verständnis des Evangeliums, 25 Lieferungen, 1928/29; Die Katakomben (mit Rudolf Goebel), 1930; Beiträge zur Übersetzung des Neuen Testaments, 42 Lieferungen, 1930-1933; Das Alte Testament und die Geistesgeschichte der Menschheit, 1934-1936; Boten des Geistes, Schwäbische Geistesgeschichte und Christliche Zukunft, 2. Aufl. 1937; Könige und Propheten, 2. Aufl. 1938; Katholizismus, Protestantismus, Christengemeinschaft, 1940; Geschichte der Solinger Papiermühle und des Bergischen Landes, 1942; Im michaelischen Zeitalter, 1948; Urchristentum: Cäsaren und Apostel, Kindheit und Jugend, Die drei Jahre, 2. Aufl. 1949; Italien, Griechenland, Palästina, Reisetagebücher, 1949; Das Evangelium, Betrachtungen und Übersetzungen, Neubearbeitete Ausgabe, 1950/52; Urgeschichte, 2. Aufl. 1951; Wiederholte Erdenleben, Die Wiederverkörperungsidee in der Geistesgeschichte, 2. Aufl. 1952; Moses und sein Zeitalter, 2. Aufl. 1952; Apokalypse, 2. Aufl. 1959; Die neue Reformation, 1958; Paulus, 2. Aufl. 1956; Baukunst der Romanik in Schwaben und im Elsaß, 1958; Zeitgenossen, Weggenossen, Wegbereiter, 1959; Was will die Christengemeinschaft?, 1960; Die neue Reformation, 2. Aufl. 1960
Nachweis: Bildnachweise: in: Friedrich Gädecke, Emil Bock, (siehe Literatur)

Literatur: (Auswahl) Kurt Hutten, Christengemeinschaft, in: RGG 2. Aufl. Bd. I, Sp. 1681-1684, dort weitere Literatur; Konrad Algermissen, Christengemeinschaft, in: LThK 2. Aufl. Bd. 2, Sp. 1096-1098; dort weitere Literatur; Gustav Stählin (Hg.), Evangelium und Christengemeinschaft, 1953; Klaus von Stieglit, Die Christosophie Rudolf Steiners, 1955; Kurt von Wistinghausen, Der neue Gottesdienst, Zur Einführung in die Menschenweihehandlung, 1960; Friedrich Gädecke, Emil Bock, Gründer der Christengemeinschaft, in: Die Christengemeinschaft, 1960, 69-85; Karl Färber, Rudolf Steiners 100. Geburtstag, in: Der Christliche Sonntag 1960, 100; Barbara Nordmeyer, Emil Bock, in: dies., Zeitgewissen, 1966, 160-176; Margarete Dirks, Jakob Wilhelm Hauer 1881-1962, Leben – Werk – Wirkung, 1986; Gerhard Wehr, Rudolf Steiner, 1987; Helmut Obst, Christengemeinschaft, in: LThK 3. Aufl., Bd. 2, Sp. 1103; Hd 10, 11; Munzinger 1959
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