Geis, Robert Raphael eigentlich: Siegfried 

Geburtsdatum/-ort: 04.07.1906; Frankfurt
Sterbedatum/-ort: 18.05.1972;  Baden-Baden
Beruf/Funktion:
  • Rabbiner
Kurzbiografie: 1916-1925 Gymnasium in Frankfurt, Mitgliedschaft in einem linken zionistischen Jugendbund
1925 Studium der Geschichte und Judaistik an der Universität und der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin
1926/27 Gastjahr an der Universität und dem konservativen Rabbinerseminar in Breslau
1930 Promotion in Köln bei Johannes Ziekursch
1932 Nach Erhalt der „Smicháh“ (Ordination) durch die Hochschule: Jugendrabbiner in München (bis 1934)
1934-1937 2. Stadtrabbiner in Mannheim
1937-1939 Land- und Gemeinderabbiner in Kurhessen bzw. Kassel
1938 Festnahme während der „Reichspogromnacht“, Einweisung in das KZ Buchenwald
1939 5. Febr. Emigration nach Palästina
1940-1945 Gelegenheitsarbeiten wie: Auftrag der Hebräischen Universität in Jerusalem, über Hermann Cohen zu schreiben, Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und am britischen Mittelmeer-Radiosender für deutschsprachige Sendungen
1947 Lehrer in Zürich
1949-1952 Rabbiner der Liberalen Gemeinde Amsterdams
1951 Sept. Einweihung des Betsaals der neugegründeten jüdischen Gemeinde Karlsruhe
1952-1956 1. Landesrabbiner von Baden in Karlsruhe nach dem Massenmord an den europäischen Juden
1959 Übersiedlung nach Düsseldorf, publizistische Tätigkeit u. a. in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland
1961 Erstmals Teilnahme am Deutschen Evangelischen Kirchentag, Berlin
1967-1971 Mitglied des Programmbeirats des Westdeutschen Rundfunks
1969 Honorarprofessor für Judaistik an der PH Duisburg
1971 Übersiedlung nach Baden-Baden
1971/72 Honorarprofessor für Judaistik an der Universität Göttingen
Weitere Angaben zur Person: Religion: jüdisch
Verheiratet: 1945 Palästina, Susanne Herzberg, geb. Landshut
Eltern: Moritz Geis (gest. 1956), Kaufmann
Sitah, geb. Stern (gest. 1958)
Kinder: Jael (geb. 1945)
Gabriel (geb. 1950)
GND-ID: GND/118690094

Biografie: Uri R. Kaufmann (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 152-153

Geis wuchs in Frankfurt als Kind nichtpraktizierender jüdischer Eltern auf. Sein noch in der orthodoxen Tradition stehender Großvater ließ ihn diese Lebensweise kennenlernen. Wichtig für seinen Werdegang war die Freundschaft mit der Familie des Frankfurter Rabbiners Cäsar Seligmann, die auch bis zu dessen Tod in der englischen Emigration andauerte. Einen wichtigen Einfluß soll auch die Persönlichkeit des Frankfurter Rabbiners Nechemia Anton Nobels auf ihn ausgeübt haben. Als „zorniger junger Mann“ stand er dem Zionismus nahe. Er studierte deutsche Geschichte und bildete sich zum Rabbiner aus. Seine Dissertation handelte vom Sturz des Reichskanzlers Caprivi. Nach Erhalt seiner Ordination an der liberalen Berliner Hochschule war er zwei Jahre lang Jugendrabbiner in München. Diese Stelle mußte er aufgeben, da der konservative jüdische Gemeindevorstand seine Sympathien für die SPD mißbilligte. Auf Vermittlung von Prof. Ismar Elbogen, einem prominenten Gelehrten der Berliner Hochschule, erhielt er 1934 die begehrte zweite Stadtrabbinerstelle in Mannheim. Sein zionistisches Engagement führte 1937 zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Als aufgeschlossener junger Mann unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zur orthodoxen Mannheimer Rabbinerfamilie Lauer und konnte einen großen Teil der jüdischen Jugend dieser Stadt begeistern.
In Kurhessen wurde er mit der Herkunft seiner Familie aus dem Dorf Rhina konfrontiert, dessen Bewohner bis 1933 fast zur Hälfte jüdisch waren. Nach seiner Verhaftung zur Zeit der Reichspogromnacht emigrierte er nach Palästina. Tief in der deutschen Kultur verwurzelt und der rauhen politischen Wirklichkeit Palästinas gegenübergestellt, konnte er dort seinen Platz nicht finden.
Nach Kriegsende wollte er nach Deutschland zurückkehren, „um mit dem Wiederaufbau jüdischer Gemeinden zu beginnen“. „Meine jüdische Arbeit müßte notwendigerweise zugleich eine Arbeit für das deutsche Volk werden“ (an Karl Barth am 6.11.1945). Diese Absicht ließ sich jahrelang nicht verwirklichen. Nach einer Wartezeit in London übernahm er eine Anstellung an der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Deren orthodoxe Ausrichtung unter Rabbiner Zwi Chaim Taubes entsprach nicht seinen Vorstellungen. Von 1949 bis 1952 war er als Rabbiner einer Emigranten-Gemeinde tätig. Endlich konnte er im April 1952 festeren Fuß fassen als Landesrabbiner von Baden mit Sitz in Karlsruhe. Er fand ein völlig verändertes Umfeld vor. Die Mehrheit der dort ansässigen Juden hatte die Schrecken der KZs mitgemacht. Sie entstammten dem osteuropäisch-jüdischen Milieu, das nur die orthodoxe oder die rein weltliche Strömung auswies. Sie werden der liberalen jüdischen Tradition Geis’ fremd gegenübergestanden haben. Nur die ganz wenigen nach außen repräsentierenden Familien waren deutsch-jüdischer Herkunft. Bald entwickelten sich vielfältige Kontakte zum christlichen Umfeld. Prälat Hermann Maas setzte sich 1951 beim Rektor der Universität Heidelberg dafür ein, daß Geis einen Lehrauftrag oder eine Professur für Judaistik erhielt. Geis hat anscheinend einen Probevortrag über „das Geschichtsbild der Tannaiten“ gehalten. Das Anliegen wurde stark vom Karlsruher Pfarrer Heinz Kappes mitgetragen, erscheint aber nicht in den Protokollen der dabei wohl am ehesten angesprochenen theologischen Fakultät. Aus anderen Unterlagen des Universitätsarchivs geht hervor, daß Max Meir Sprecher, ein aus dem orthodoxen Milieu stammender jüdischer Arzt aus Warschau, schon im April 1951 inoffiziell – nicht im Vorlesungsverzeichnis veröffentlichte – Lehrveranstaltungen über die rabbinische Literatur im Rahmen des orientalischen Seminars abhielt. Ob die Fürsorge für diesen oder andere Überlegungen eine Rolle spielten, daß Geis während seines vier Jahre dauernden Aufenthaltes (1952-1956) in Baden nicht einmal einen Lehrauftrag erhielt, muß noch ungeklärt bleiben. Mindestens wirkte Geis im Rahmen einer jüdischen Studentengruppe amerikanischer und israelischer Herkunft im Winter 1952/53 in Heidelberg. Prof. Karl Thieme lud ihn im Rahmen des Studium generale zu Vorlesungen an die Universität Freiburg ein. Noch im Oktober 1961 trug sich der Heidelberger Professor Werner Conze mit dem Gedanken, eine Bibliothek, zuerst eine Privat-Dozentur und hierauf einen „ganz normalen Lehrstuhl“ für jüdische Geschichte aufzubauen und benachrichtigte Geis brieflich über dieses Vorhaben. Sein Biograph, Dietrich Goldschmidt, macht „Verständnislosigkeit der wissenschaftlichen Zunft“ auch bei späteren erfolglosen Versuchen dafür verantwortlich, daß Geis erst, als er schon alt und kränklich war, auf das Interesse einer deutschen Universität stieß.
Differenzen über die Arbeitsweise sowie solcher persönlicher Art führten 1956 zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses als Landesrabbiner in Baden. Seine „heilige Ungeduld“ (E. L. Ehrlich) ließ ihn oft anecken. Geis war nun als freier, nonkonformistischer Publizist tätig und spielte noch von Karlsruhe aus eine maßgebliche Rolle im sich allmählich entfaltenden christlich-jüdischen Dialog. Er war einer der ersten jüdischen Teilnehmer am Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin 1961 und wurde Mitglied der seitdem tätigen Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen beim DEKT“. Von 1959 bis 1971 wohnte Geis in Düsseldorf und predigte manchmal zu den Hohen Feiertagen in den Synagogen verschiedener Gemeinden. Erst 1969 erhielt er eine Honorarprofessur an der PH Duisburg. 1971 übersiedelte er nach Baden-Baden. Von dort aus war er kurz an der Universität Göttingen tätig. Er starb 1972.
Geis setzte sich gegen eine bloß „oberflächliche Toleranz“ (F. W. Marquardt) gegenüber Juden und Judentum in der Bundesrepublik ein. Er beschäftigte sich intensiv mit der evangelischen Bibelexegese und Theologie, um durch deren Kritik zu ihrer Neubesinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums hinzuführen. Geis verstand sich als wacher Kritiker antijüdischer Positionen und scheute sich keineswegs vor Polemiken mit Freunden, beispielsweise in der Frage der Judenmission, deren Gedankengut er strikt ablehnte.
Eine Reihe bedeutender Theologen stand in Kontakt mit ihm, unter ihnen Hans Joachim Kraus, Dietrich Goldschmidt, Helmut Gollwitzer und Friederich-Wilhelm Marquardt. Geis hielt viele Vorträge und war publizistisch in Zeitungen und Zeitschriften wie auch im Lexikon für Theologie und Kirche und dem Großen Herder tätig. 1961, 1966 und 1971 veröffentlichte er drei Bücher, die entweder das Judentum, die deutsch-jüdische Geschichte und die Entstehung des christlich-jüdischen Dialogs zu Themen hatten. Eine wertvolle Sammelpublikation mit viel biographischem Material edierte Dietrich Goldschmidt.
Quellen: Leo Baeck Archiv New York, Nachlaß Robert Raphael Geis, AR 28, AR 7263, Loc: A 27/6; Informationen von Frau Susanne Geis (Baden-Baden), Prof. Ernst Ludwig Ehrlich (Riehen bei Basel) und Prof. Dietrich Goldschmidt (Berlin); UA Heidelberg
Werke: Bibliographie in D. Goldschmidt, vgl. Literatur (Auswahl); Der Sturz des Reichskanzlers Caprivi, 1930, 2. Aufl. 1965: ders. et al. (Hg.): Männer des Glaubens im deutschen Widerstand, 1959, 2. Aufl. 1961; Vom unbekannten Judentum, 1961, 2. Aufl. 1975; Gottes Minorität. Beiträge zur jüdischen Theologie und zur Geschichte der Juden in Deutschland, 1971; Zahlreiche Beiträge in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 1934-1937 auch im Israelitischen Gemeindeblatt, Mannheim/Ludwigshafen (JGB)
Nachweis: Bildnachweise: Neben Titelblatt im Buch von D. Goldschmidt (siehe oben) 2 sowie zwischen 223 und 225

Literatur: Dietrich Goldschmidt, Leiden an der Unerlöstheit der Welt. Robert Raphael Geis 1906-1972. Briefe, Reden, Aufsätze, 1984; Ernst Ludwig Ehrlich, Christen und Juden auf meinem Weg, in: JUDAICA, H. 1, März 1990, 7f.; H. J. Kraus, Robert Raphael Geis – Dialog in prophetischer Perspektive, in: ders., Rückkehr zu Israel, Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, 1991, 319-352; Robert Jütte, Die Emigration der deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums“, 1991, 193-195
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)