Münchinger, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 29.05.1915;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 13.03.1990;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Dirigent, Organist und Orchestergründer
Kurzbiografie: 1934 Abitur am Karls-Gymnasium Stuttgart
1941–1943 Niedersächsisches Symphonieorchester Hannover
1944 Kriegsteilnahme; weiteres nicht ermittelt
1945 Gründung des Stuttgarter Kammerorchesters
1949 Debut in Paris, Exklusiv-Vertrag mit Decca
1951 Mitbegründer des Festivals von Menton
1953 Professor des Landes Baden-Württemberg
1954 Erste Tournee durch USA u. Kanada
1966 Gründung d. Klassischen Philharmonie Stuttgart
1968 Gastspiel in Teheran
1976 Australien u. Japan
1977 China-Tournee
1978 Gründung des Festivals Colmar
1985 Konzerte zum 40-jährigen Bestehen des Kammerorchesters
1987 Rücktritt als Leiter des Kammerorchesters
1988–1989 Konzerte mit dem Kammerorchester Karl Münchinger
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1948 (Stuttgart) Olga, geb. Rockenhäuser (1912–1993)
Eltern: Vater: Karl (1891–1918)
Mutter: Emilie, geb. Seitter (1884–1948)
Geschwister: Johannes Emil (Zwillingsbr., gestorben 2003)
Kinder: Stiefsohn Wolfgang (geboren 1938)
GND-ID: GND/118735039

Biografie: Michael Strobel (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 287-289

Mit acht Jahren erhielt Münchinger bereits Geigenunterricht. Nach dem Besuch des Stuttgarter Karls-Gymnasiums studierte er bei Hugo Distler an der Staatlichen Hochschule für Musik, Komposition und Chorleitung und erhielt bei Carl Leonhardt Dirigierunterricht. Daneben arbeitete er als Chorleiter und Organist an der evangelischen Martinskirche. Anfängliche Pläne für eine Komponistenlaufbahn gab er bald auf, stattdessen belegte Münchinger Dirigierkurse bei Hermann Abendroth in Leipzig und im Sommer bei Clemens Krauss in Salzburg. Auf Empfehlung Wilhelm Furtwänglers wurde Münchinger 1941 Leiter des Niedersächsischen Symphonieorchesters Hannover. In dieser Zeit reiften seine Pläne, ein eigenes kleines Ensemble zu gründen, mit dem er nach gründlichen Proben Werke aus Barock und Klassik aufführen könnte. Seiner Meinung nach waren viele Stücke nicht für die inzwischen übliche große, romantische Orchesterbesetzung konzipiert worden, sondern für kleine Kammerformationen gedacht.
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1945 suchte der gerade 30-Jährige im zerstörten Stuttgart noch lebende Musiker zusammen, die er teilweise aus seiner Studienzeit kannte, und gründete mit ihnen das Stuttgarter Kammerorchester, dessen erstes Konzert am 18. September 1945 im Furtbachhaus stattfand. Bis zu seinem Rücktritt 1987 sollten über 4000 Konzerte mit diesem Ensemble im In- und Ausland folgen. Im Zentrum von Münchingers Arbeit stand stets die Musik von Johann Sebastian Bach, die für Münchinger zur lebenslangen Herausforderung wurde. Daneben widmete er sich in seinen Programmen während der ersten Jahre vor allem Mozart und Haydn, außerdem Kompositionen von Händel, Pergolesi, Gabrieli, Gluck, Schubert, Schumann, Grieg und Dvorak. Schließlich wurden Stücke von Hindemith, Honegger und Roussel als Vertreter einer gemäßigten Moderne gespielt.
Die Anfangsjahre waren finanziell und logistisch schwierig, mit Hilfe von Sponsoren und unterstützt von der Stadt Stuttgart setzte sich Münchinger aber durch, bis 1947 die finanzielle Grundlage durch die Gründung des Trägervereins hinlänglich gesichert war. Schon ab 1946 konzertierte das Kammerorchester in den westlichen Besatzungszonen, 1948 gastierte es erfolgreich in Zürich, was Münchinger eine Einladung nach Paris und einen Exklusiv-Vertrag mit der Londoner Plattenfirma Decca einbrachte. Die Konzerte im Saal Gaveau in Paris waren die ersten eines deutschen Ensembles nach dem Krieg und nicht nur politisch sensationell, sie eröffneten Münchinger und seinen Musikern auch den Weg zu einer Weltkarriere, deren Höhepunkte Tourneen durch Europa, erstmals 1954 durch die USA und Kanada, 1962 durch die Sowjetunion, Südafrika, Israel und Persien, Neuseeland, Australien, Mexiko, schließlich 1977 nach Japan und China bildeten. Münchinger bediente sich nicht der heute üblichen historisch informierten Aufführungspraxis, sondern orientierte sich an einem klassischen, bewusst antiromantischen Klangideal mit schlankem, beweglichem Ton. Sich selbst bezeichnete er in Gesprächen als unbequemen Dirigenten, der unerbittlich sei in Sachen Tonreinheit, Dynamik, Übergang, Ausdruck und Tempo. Das Orchester müsse im Konzert mitdenken und mitgestalten, die Musik innerlich mitsingen. Münchingers Erfolge und zahlreiche preisgekrönte Platteneinspielungen führten zu weiteren Gastverpflichtungen bei großen europäischen Orchestern, so den Wiener Philharmonikern, dem Conservatoire-Orchestre Paris oder der Tschechischen Philharmonie. Zahlreich waren seine nationalen und internationalen Auszeichnungen, darunter der Ehrentitel Professor des Landes Baden-Württemberg 1953, und das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1955. Münchinger war auch Ehrenbürger der südfranzösischen Stadt Menton, deren angesehenes Kammermusikfestival er mitbegründet hatte und wo das Kammerorchester alljährlich auftrat.
1966 rief Münchinger die Klassische Philharmonie Stuttgart aus Mitgliedern des Kammerorchesters und externen Musikern ins Leben, um das klassisch-romantische Repertoire in Richtung Symphonik zu erweitern. Einen ähnlichen Weg war die 1959 entstandene Academy of St. Martin in the Fields unter Neville Marriner gegangen, die ebenfalls bei Decca unter Vertrag stand. Münchinger schloss jedoch eine Erweiterung des Repertoires auf Werke des 20. Jahrhunderts aus. Die Firma Intercord produzierte eine Reihe erfolgreicher Einspielungen mit der Klassischen Philharmonie. Diesen Weg verfolgte Münchinger aber nach einigen Jahren nicht weiter. Unterdessen waren neben Marriners Academy mehrere Kammerorchester entstanden, darunter mit Nikolaus Harnoncourts Concentus Musicus erstmals ein Orchester, das einen energischen Vorstoß in Richtung historischer Aufführungspraxis unternahm und damit Pionierarbeit leistete.
Münchinger blieb seinen Prinzipien und seinem Repertoire treu, ungeachtet mehrfach gewechselter Musikerbesetzung. In den 1970er-Jahren mehrte sich dann die Kritik an Münchingers autokratischem Auftreten, den zahlreichen personellen Änderungen, die nicht immer reibungsfrei verliefen, und an der fortschreitenden Einengung des Repertoires. Viele Stücke, wie die Orchester-Suiten von Bach, hatte Münchinger inzwischen mehrfach eingespielt. Interne Spannungen, schwindender Rückhalt bei Trägerverein und Stadt Stuttgart und eine deutlich rückläufige Konzerttätigkeit waren zu beobachten, aber auch Münchingers schlechter werdende gesundheitliche Verfassung. 1985 entstanden letzte Aufnahmen für Decca, darunter Händels Feuerwerks- und Wassermusik.
Nach heftigen Querelen legte Münchinger im Januar 1987 überraschend auf eigenen Wunsch die Leitung des Kammerorchesters nieder. Der Bruch war perfekt. Während das Orchester sich um seine künstlerische Eigenständigkeit und seinen Weiterbestand bemühte, versuchte Münchinger ein eigenes Kammerorchester Karl Münchinger zu etablieren. Es gab auch noch einige Konzerte an seinem angestammten Platz in der Stuttgarter Liederhalle am Dreikönigstag, bis Münchingers sich weiter verschlechternde Gesundheit das Projekt beendete und Gastspielangebote nicht mehr wahrnehmen ließ. Noch nicht ganz 75-jährig verstarb er und wurde auf dem Friedhof in Stuttgart-Untertürkheim begraben.
Quellen: Nachlass im Privatbesitz von Wolfgang Röhrle, Euerdorf.
Werke: Haydn, Sinfonien Nr. 88 u. 101, Wiener Philharmoniker, Decca 1955, 2. Aufl. 2004; Bach, Matthäus-Passion, Stuttgarter Kammerorchester, Hymnus-Chorknaben, mit Peter Pears, Marga Höffgen, Hermann Prey, Fritz Wunderlich, Decca 1965, 2. Aufl. 2007; Händel, Feuerwerks- u. Wassermusik, Stuttgarter Kammerorchester, Decca 1982, 2. Aufl. 1995; Bach, Orchester-Suiten, Stuttgarter Kammerorchester, Decca 1986, 2. Aufl. 1995.
Nachweis: Bildnachweise: Bernhard Gavoty, Die großen Interpreten: Karl Münchinger, 1959, 11.

Literatur: Erwin Schwarz, Humanität durch Musik. 40 Jahre Stuttgarter Kammerorchester, 70 Jahre Karl Münchinger, o. J. [1985]; Norbert Bolin, Stuttgarter Kammer-Orchester 1945–1995, 1995.
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