Reusch, Paul Otto Hermann Eduard 

Geburtsdatum/-ort: 09.02.1868;  Königsbronn
Sterbedatum/-ort: 21.12.1956;  Backnang
Beruf/Funktion:
  • Unternehmer
Kurzbiografie: 1873–1889 Volksschule in Königsbronn, Lateinschule in Aalen, Dillmann Realgymnasium u. Oberrealschule in Stuttgart bis Abitur 1886 dann Studium des Berg- u. Hüttenwesens am Polytechnikum in Stuttgart
1889–1890 Assistent bei den Jenbacher Berg- u. Hüttenwerken in Tirol
1890–1891 Einjährig-Freiwilliger beim I. Bayer. Feld-Artillerie-Regiment Prinzregent Luitpold in München
1891–1895 Ingenieur in d. Gießereiabt. d. Firma Ganz&Comp., Eisengießerei u. Maschinen-Fabriks-AG in Budapest
1894–1956 Vereins- u. Vorstandsmitglied im Verein Dt. Eisenhüttenleute
1895–1901 Oberingenieur bei d. Witkowitzer Bergbau- u. Hüttengewerkschaft in Ostrau/Mähren
1901–1905 Direktor bei d. Friedrich Wilhelms-Hütte in Mülheim/Ruhr
1905–1942 bis 1909 Vorstandsmitglied d. Gutehoffnungshütte, GHH, in Oberhausen, verantw. für die Abt. Sterkrade, dann Vorstandsvorsitzender
1918–1942 Aufsichtsratsvorsitzender d. Dt. Werft AG, Hamburg
1919–1956 Präsident u. Ehrenpräsident d. Niederrhein. IHK Duisburg-Wesel
1919–1933 Mitglied u. Präsidiumsmitglied im Reichsverband d. Dt. Industrie
1920–1956 Stellv. Vorsitzender, Vorsitzender u. Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats d. Maschinenfabrik Esslingen AG
1920–1942 Stellv. Vorsitzender u. Vorsitzender des Aufsichtsrats d. Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg AG, MAN
1921–1954 Gesellschaftsvertreter bei d. Schwäb. Hüttenwerke GmbH
1922–1956 Stellv. Vorsitzender u. Ehrenmitglied im Verein dt. Eisen- u. Stahlindustrieller
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Roter Adlerorden IV. Klasse (1909); Kommerzienrat (1910); Ehrenbürger d. Städte Sterkrade (1913), Oberhausen u. Weil d. Stadt (1940) sowie d. Gemeinden Königsbronn u. Strümpfelbach (1935); Dr. h. c. d. TH Stuttgart (1914); Württ. Wilhelmskreuz (1916); Ehrenkreuz des Ordens d. Württ. Krone (1917); Eisernes Kreuz II. Klasse, mit schwarz-weißem Band; Verdienstkreuz für Kriegshilfe; Friedrich-August Kreuz II. Klasse; Ehrensenator d. TH Stuttgart (1923), d. Univ. Tübingen (1927) u. d. TH Breslau (1930); Kriegsverdienstkreuz II. Klasse (1940); Großes Verdienstkreuz mit Stern (1952); Ehrenring u. Ehrenmitglied des Dt. Museums (1949).
Verheiratet: 1895 (Breslau) Gertrud Ida Nina, geb. Zimmer (1869–1944), Tochter des Amtsgerichtsrats Robert Zimmer (1829–1907)
Eltern: Vater: Karl Hermann (1824–1894), Hüttenverwalter beim Hüttenwerk Ludwigstal in Tuttlingen (1859–1861), beim Hüttenwerk Königsbronn (1861–1876) u. beim Hüttenwerk Wasseralfingen (1876–1881); Mitglied des königl. württ. Oberbergamtes Stuttgart (1892)
Mutter: Marie, geb. Riecke (1835–1900), Tochter des Direktors d. Hofdomänenkammer Christian Heinrich (1802–1865)
Geschwister: 4; Karl Hermann Christian Friedrich (1860–1918), Maria Friederike Charlotte (1862–1930), Sophie Friederike Charlotte, verh. Saemann (1865–1946) u. Hermann Karl Otto (1875–1891)
Kinder: 4;
Hermann (1896–1971), Dr. phil., Vorstandsvorsitzender d. Gutehoffnungshütte,
Barbara, verh. Hahn (geboren 1897),
Bozena, verh. Tschunke (1901–1968),
Paul Robert (geboren 1905), Vorstand d. Hackethal Draht- u. Kabelwerke AG, Hannover
GND-ID: GND/118744666

Biografie: Christian Marx (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 403-407

Reusch, Sohn eines schwäbischen Oberbergrates, besuchte die Volksschule in Königsbronn, die Lateinschule im benachbarten Aalen, dann das Realgymnasium und die Oberrealschule in Stuttgart. Der finanzielle Hintergrund seiner Familie ermöglichte ihm vom Wintersemester 1886/87 an das Studium des Berg- und Hüttenwesens am Polytechnikum in Stuttgart. Hier belegte er Veranstaltungen in Chemie, Physik, Mechanik, Mineralogie und im Bereich Konstruktionen und trat 1886 der Landsmannschaft Saxonia bei. Als sich ihm die Möglichkeit eröffnete, in den von seinem Vater geführten Jenbacher Berg- und Hüttenwerken als Assistent anzufangen, ergriff er diese Chance und verließ die Hochschule vor einem Examen.
Im Anschluss an seinen Militärdienst erhielt er zunächst eine Anstellung als Ingenieur bei der Firma Ganz&Comp., Eisengießerei und Maschinen-Fabriks-AG, in Budapest. Anschließend wechselte er zur Witkowitzer Bergbau- und Hüttengewerkschaft. Nach 10-jähriger Auslandstätigkeit gelang ihm 1901 der Sprung ins Ruhrgebiet als Direktor der Friedrich Wilhelms-Hütte, ein außergewöhnlicher Karriereschritt für den 33-jährigen Revierfremden. Seine Auslandserfahrungen und sein rasanter Aufstieg zur Friedrich Wilhelms-Hütte waren Voraussetzungen für seine Aufnahme in den Vorstand der Gutehoffnungshütte, GHH, in Oberhausen, eines der größten Eisen- und Stahlunternehmen des Ruhrgebiets. Die Eigentümerfamilie Haniel hatte sich zwar aus der operativen Geschäftsführung herausgezogen, kontrollierte das Unternehmen aber über Aktienbesitz und ihre Mehrheit im Aufsichtsrat. Nachdem Reusch sich als Verantwortlicher für die GHH-Abteilung Sterkrade bewährt hatte und andere Vorstandsmitglieder als Nachfolger ausgefallen waren, entschied sich die Familie Haniel für Reusch als neuen Vorstandsvorsitzenden. Inzwischen hatte Reusch geheiratet. In den folgenden Jahren kamen vier Kinder zur Welt, was dem typischen Bild von Unternehmerfamilien im Kaiserreich entsprach.
Nach Übernahme des GHH-Vorstandsvorsitzes verfolgte Reusch zunächst das Ziel, die Erzvorkommen des Unternehmens zu erweitern, anschließend stieß er vor dem Hintergrund bestehender Kartell- und Syndikatsbestimmungen in die Weiterverarbeitung vor. Mit den ersten Angliederungen, Boecker&Comp., dem Altenhundemer Walz- und Hammerwerk sowie dem Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk, setzte Reusch die im Sterkrader Maschinenbau bestehenden Entwicklungspfade des Unternehmens fort und bildete mit über Oberhausen hinausreichenden Akquisitionen die Grundlage für den späteren Aufbau eines überregionalen Konzerns. Die strategische Ausrichtung der GHH wurde bis zum I. Weltkrieg noch nicht alleine von Reusch bestimmt, sondern geschah in enger Absprache mit dem jeweiligen Aufsichtsratsvorsitzenden. Dies galt besonders für die Unternehmensfinanzierung, die in der Tradition der GHH von Skepsis in Bezug auf die Banken gekennzeichnet war.
Bei Ausbruch des I. Weltkrieges war das Unternehmen nicht auf einen langjährigen militärischen Konflikt eingerichtet, doch noch 1914 stellte Reusch die Produktion auf Rüstungsgüter um. Aufgrund staatlicher Rüstungsaufträge stiegen die Gewinne bald erheblich und bildeten die Grundlage für weitere Angliederungen, Profite, die nur durch den Einsatz von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erzielt werden konnten. Diese Form der Zwangsarbeit hat Reusch explizit unterstützt.
Nach dem I. Weltkrieg gründete Reusch mit der AEG und der HAPAG die Deutsche Werft in Hamburg und erwarb zahlreiche weitere Beteiligungen für die GHH, darunter die Aktienmehrheit der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, MAN, und der Maschinenfabrik Esslingen sowie die Haniel&Lueg GmbH und das Eisenwerk Nürnberg. Nachdem die in der Normandie gelegenen Erzfelder der GHH 1916 beschlagnahmt und die Gruben im lothringischen Minettegebiet nach dem I. Weltkrieg unter französische Zwangsverwaltung gestellt worden waren, bemühte sich Reusch um eine Kompensation dieser Verluste. Hierzu erwarb er Erzvorkommen in Süddeutschland und beteiligte die GHH an den 1921 neu gegründeten Schwäbischen Hüttenwerken, bei denen sein Vater bereits tätig gewesen war. Die meisten Übernahmekandidaten hatten ein Interesse an der Zusammenarbeit mit einem Großunternehmen der Ruhrindustrie, doch wollten sie ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. Reusch akzeptierte jedoch keine losen Interessen- oder Lieferverträge, sondern bestand in der Regel auf die Übernahme der Aktienmehrheit. Besonders im Fall der MAN führte dies zu Verstimmungen mit dem amtierenden Leiter der süddeutschen Maschinenfabrik Anton Rieppel (1852–1926). Diese expansive Phase endete 1923 mit der Gründung der Holding-Gesellschaft in Nürnberg bzw. der GHH Oberhausen AG im Zuge der Besetzung des Ruhrgebiets. Reusch, seit 1920 Generaldirektor der GHH, wurde innerhalb des Unternehmens unangefochtene Führungsfigur, die selbstständig ohne Rücksprache mit den Eigentümern oder übrigen Vorstandsmitgliedern Entscheidungen treffen konnte.
Nach der Besetzung des Ruhrgebiets 1923 entwickelte sich Reusch trotz gravierender sozialer Folgen für breite Teile der Bevölkerung zu einem vehementen Verfechter des passiven Widerstands. Aus Protest gegen die Entscheidung Gustav Stresemanns (1878–1929), den passiven Widerstand zu beenden, trat Reusch im September 1923 aus der DVP aus, was seine politische Einstellung symbolisiert. Reusch blieb zeitlebens durch die Gründung des Deutschen Kaiserreichs und die politisch-gesellschaftlichen Einflüsse der Wilhelminischen Zeit geprägt. Er strebte ein wirtschaftsliberales, national- konservatives und zugleich hierarchisch-autoritäres Staatsgebilde an, eine Geisteshaltung, die ihn zu einem Freund Oswald Spenglers (1880–1936) werden ließ. Zur Verbreitung seiner politisch-weltanschaulichen Ordnungsvorstellungen baute Reusch sich über mehrere Beteiligungen an Zeitungsverlagen – Münchener Neueste Nachrichten, Fränkischer Kurier, Schwäbischer Merkur – während der Weimarer Republik eine enorme Macht zur industriefreundlichen Beeinflussung der Presse auf, die er nicht alleine dem Montan- und Medienunternehmer Alfred Hugenberg (1865–1951) überlassen wollte. Gleichzeitig schuf er sich bis Mitte der 1920er-Jahre über die in Personalunion von ihm geführten Verbände, den Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, Langnamverein, und die Nordwestliche Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller eine Verbandsmacht, über die zu dieser Zeit kein zweiter Ruhrindustrieller verfügte. Neben seiner Macht als GHH-Vorstandsvorsitzender stieg er dadurch in der Weimarer Republik zu einem der einflussreichsten und bestinformierten Unternehmer Deutschlands auf.
Reusch saß auch im Verwaltungsrat des Deutschen Museums in München und des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, ansonsten war sein kulturelles Engagement aber begrenzt. Sein hohes Arbeitspensum als Unternehmer erlaubte kaum andere Aktivitäten. Aufgrund seiner Verbands- und Medienmacht verfügte Reusch über enormen Einfluss auf das politische Geschehen. Dies zeigte sich auch im Fall der von ihm initiierten Aussperrung im Ruhreisenstreit 1928, der größten Aussperrung während der Weimarer Republik, auch wenn ein Teil der Arbeitgeber nicht bereit war, das damit verbundene politische und wirtschaftliche Risiko mitzutragen und dieser Konflikt zu Reuschs Rückzug aus den Verbänden führte. Reusch verlagerte seinen politischen Einfluss daraufhin auf informelle Zirkel wie die von ihm begründete Ruhrlade, ein informelles Gremium zur Koordinierung schwerindustrieller Interessen, und den Freundeskreis Industrie und Landwirtschaft und bemühte sich Anfang der 1930er-Jahre um einen Zusammenschluss konservativer und rechtsgerichteter Parteien. Daneben beteiligte er sich an dem gegen die Weimarer Republik gerichteten „Bund zur Erneuerung des Reiches“. Die Verschärfung der ökonomischen und der politischen Krise Ende der 1920er-Jahre führte letztlich zu einer dramatischen Verengung seiner Handlungsoptionen. Reusch sah es während der Weimarer Republik als erforderlich an, die sozialen Errungenschaften und Eingriffsmöglichkeiten des Interventionsstaates wieder zurückzudrehen. Er bedauerte deshalb 1933 weder den Untergang des Parlamentarismus noch den Wegfall demokratischer Parteien. Obschon er 1932 einen Burgfrieden mit Hitler geschlossen hatte und fortan Angriffe der von ihm kontrollierten Medien auf den Nationalsozialismus unterband, trennte ihn seine wirtschaftsliberale Haltung von der NS-Vorstellungswelt. Reusch war nicht direkt an der NS-„Machtergreifung“ 1933 beteiligt, ebnete der NSDAP über seine ständigen Attacken auf das parlamentarische System aber den Weg.
Reusch unterstrich mehrfach seine Überzeugung vom Erfolg eines vertikalen Konzernaufbaus und wandte sich gegen horizontale Zusammenschlussideen, wie sie in den 1920er-Jahren in Gestalt der Vereinigten Stahlwerke realisiert wurden. Die Bestrebungen von Werner Carp (1886–1950), einem Mitglied der weitverzweigten Familie Haniel, die GHH 1930 in den Stahltrust zu integrieren, konnte Reusch in Kooperation mit dem amtierenden Aufsichtsratsvorsitzenden Karl Haniel (1877–1944) verhindern. Gleichzeitig stellte die Weltwirtschaftskrise eine existenzielle Herausforderung für den Konzern dar. Reusch verteidigte sein vertikales Unternehmensmodell auch über die ökonomisch bedrohlichen Jahre des großen Crashs hinweg und half den in Not geratenen Untergesellschaften im Zweifelsfall mit Kapital der Muttergesellschaft. Weder die finanziellen Sorgen bei der Deutschen und der Deggendorfer Werft noch entsprechende Probleme beim Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk führten zu ernstlichen Überlegungen, die Tochtergesellschaften in Konkurs gehen zu lassen. Vielmehr leitete Reusch weitreichende Sanierungsmaßnahmen ein, welche die Tochtergesellschaften mit frischem Kapital versorgten und ihre zukünftige Profitabilität sicherten.
Die NS-Machtübernahme veränderte keineswegs die Konzernstruktur, auch wenn sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen grundlegend wandelten und eine neue Produktausrichtung nach sich zogen. Reusch war kein überzeugter Nationalsozialist, sein Ideal bestand vielmehr in einem autoritären Staat à la Kaiserreich, in dem die Wirtschaftsakteure ihre Konflikte ohne staatliche Einmischung regeln konnten. Dennoch passte er den Konzern konsequent an die Aufrüstungswünsche des NS-Regimes an. Die wirtschaftliche Erholung der einzelnen GHH-Tochtergesellschaften kann deshalb nur im Zusammenhang mit dem Einstieg in die Rüstungsproduktion verstanden werden. Seine gegensätzliche Position zur NS-Wirtschaftspolitik sowie der vermeintlich geringere Nutzen der GHH aus „Arisierungsgeschäften“ im Vergleich mit anderen deutschen Industrieunternehmen können nicht über die Beteiligung an der Aufrüstung hinwegtäuschen. Zugleich führte Reuschs Eigenwilligkeit und Beharrlichkeit aber auch zu Konflikten mit den NS-Machthabern, welche in seinem erzwungenen Rücktritt 1942 kulminierten. Reusch trat nie in die NSDAP ein und wehrte sich stets heftig gegen staatliche Eingriffe in unternehmensinterne Angelegenheiten.
Auslöser seiner Entlassung war die Entmachtung Ernst Frankes, des Direktors des GHH-Tochterunternehmens Kabel- und Metallwerke Neumeyer in Nürnberg. Franke, überzeugter Nationalsozialist, hatte die Produktionsstruktur der Kabel- und Metallwerke einseitig auf Rüstungsgüter umgestellt, obwohl Reusch vor den damit verbundenen Risiken warnte. In der darauffolgenden Auseinandersetzung unterstützten die Reichskanzlei Hitlers und der Reichssicherheitsdienst Franke, Reusch dagegen setzte auf seine Beziehungen zum Reichswirtschaftsministerium und zu einzelnen Militärs. Letztlich gab es für den regimekritischen Reusch dauerhaft keine Chance an der Spitze eines rüstungsrelevanten Großkonzerns. Mit ihm musste auch sein Sohn Hermann den GHH-Konzern verlassen.
Die Verbindungen zwischen der Eigentümerfamilie Haniel und der Managerfamilie Reusch blieben bestehen, auch nach dem Tod von Karl Haniel 1944. Sohn Hermann war 1935 in den GHH-Vorstand bestellt und von den Alliierten nach 1945 als „Unbelasteter“ eingestuft worden. Insofern erschien er der Eigentümerfamilie nach dem II. Weltkrieg als ideale Besetzung für die Konzernspitze. Zwar konnte Reusch seinem Sohn den Vorstandsvorsitz nicht direkt vererben, gleichwohl hatte er ihm hierfür eine passgenaue Ausbildung ermöglicht. Mit der Entflechtung des von Reusch aufgebauten GHH-Konzerns und der Gründung mehrerer Nachfolgegesellschaften zerfiel die vertikale Konzernorganisation in rechtlich selbstständige Unternehmen. Der GHH Aktienverein wandelte sich zu einem weiterverarbeitenden Anlagen-, Maschinen- und Fahrzeugbauer mit deutlichem Schwerpunkt in Süddeutschland und trat damit in eine neue Phase der Unternehmensentwicklung ein.
Reusch hatte sich bei seinem erzwungenen Rückzug noch die Sitze in den Aufsichtsräten der Maschinenfabrik Esslingen und der Schwäbischen Hüttenwerke gesichert. Diese Funktion übte er noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus und schaltete sich aktiv in die Neubesetzung von Leitungspositionen in den beiden Unternehmen ein. Eine Rückkehr an die GHH-Konzernspitze war hingegen für den nun über 70-jährigen ausgeschlossen. In den letzten Kriegsjahren musste Reusch mehrere Schicksalsschläge hinnehmen. Im März 1942 starb sein enger Freund Robert Bosch, Anfang 1944 auch seine Ehefrau Gertrud und in den letzten Kriegsmonaten kam sein Enkel Hermann Leopold ums Leben. Darüber hinaus wurden nicht nur die Anlagen des von ihm aufgebauten GHH-Konzerns von alliierten Luftangriffen getroffen, auch seine Villa in Oberhausen wurde bei einem Bombenangriff 1942 zerstört. Reusch zog sich daraufhin bis zu seinem Lebensende nach Süddeutschland zurück, wo er bereits 1916 das Schloss Katharinenhof bei Backnang erworben hatte.
Schon während seiner Zeit als Konzernchef hatte sich sein schwäbischer Landsitz zu einer Begegnungsstätte von Industriellen, Politikern und Militärs entwickelt. Auch nach 1945 empfing Reusch hier zahlreiche Persönlichkeiten, darunter Theodor Heuss, zu dem er ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Trotz des engen Kontakts zum Bundespräsidenten kam Reusch politisch nicht mehr in der Bundesrepublik an. Er hatte starke Vorbehalte gegenüber einzelnen Parlamentariern und lehnte den nach dem II. Weltkrieg geschaffenen demokratischen Parteien- und Sozialstaat grundsätzlich ab. In die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik war Reusch, der sich Anfang der 1950er-Jahre sukzessive aus der Unternehmenspolitik der GHH zurückzog, nicht mehr eingebunden, auch wenn er über seinen Sohn Hermann ständig über Neuigkeiten aus Politik und Wirtschaft informiert wurde.
Reusch gehörte zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch einflussreichsten Unternehmern im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ihm gelang der Aufbau eines modernen Montan- und Maschinenbaukonzerns und die Weitergabe der Unternehmensleitung an seinen Sohn Hermann. Seine politischen Ziele vermochte Reusch hingegen kaum umzusetzen, besonders unterschätzte er den Machtwillen der Nationalsozialisten, deren umfassender Machtanspruch mit seinem eigenen „Herr-im-Hause“ Standpunkt kollidierte. Gleichwohl beteiligte Reusch die GHH an Aufrüstung, „Arisierungen“ und Zwangsarbeit. Spätestens mit der NS-„Machtübernahme“ hatte Reusch den Höhepunkt seines politischen Einflusses überschritten. So fehlten ihm letztlich 1942 belastbare Verbindungen in die Führungsspitze der NSDAP, die seinen Abgang hätten verhindern können.
Quellen: BA Berlin R 26 I 51, Reusch-Franke (1941–42); Daimler AG, Mercedes-Benz Archives&Collection, Stuttgart, Maschinenfabrik Esslingen; Haniel A, Duisburg, PD 29, Paul Reusch (1868–1956); Historisches A d. MAN AG, Augsburg, A 1. 2. 1, Paul Reusch; Stiftung Rheinisch-Westfäl. WirtschaftsA Köln, RWWA, 130–4001012 Nachlass Kommerzienrat Dr. Paul Reusch, 130–4001014 Nachlass Dr. Hermann Reusch u. 130–234 bis 130–263 Familienakten Reusch; StAL EL 902/3 Bü 7702 Entnazifizierungsakte Paul Reusch.
Werke: Lasst die Wirtschaft doch endlich einmal in Ruhe!, in: Dt. Wirtschafts-Ztg. vom 18.11.1926; Meine Ahnen. [Oberhausen]1938 (Werks A d. GHH im RWWA); (mit Richard Korherr, Bearb.) Oswald Spengler zum Gedenken [1938].
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 403 – RWWA 130–45000/57, 130–45000/75 u. 130–47000/0.

Literatur: (Auswahl) Johannes Reusch, Die Familie Reusch, 1990; Werner Bührer, Paul Reusch, in: NDB Biographie 21, 2003, 455; Henry Ashby Turner jr., The Ruhrlade, Secret Cabinet of Heavy Industry in the Weimar Republic, in: Central European History 40 (3), 1970, 195-228; Peter Langer, Paul Reusch und die Gleichschaltung d. „Münchener Neuesten Nachrichten“ 1933, in: VfZ 53 (2), 2005, 203-240; Johannes Bähr/Ralf Banken/Thomas Flemming, Die MAN. Eine dt. Industriegeschichte, 2008; Johannes Bähr, Paul Reusch u. Friedrich Flick. Zum persönlichen Faktor im unternehmerischen Handeln d. NS-Zeit, in: Hartmut Berghoff/Jürgen Kocka/Dieter Ziegler (Hgg.), Wirtschaft im Zeitalter d. Extreme, 2010, 275-297; Peter Langer, Paul Reusch. Der Ruhrbaron, 2012; Christian Marx, Paul Reusch u. die Gutehoffnungshütte. Leitung eines dt. Großunternehmens, 2013; ders., Paul Reusch – ein politischer Unternehmer im Zeitalter d. Systembrüche. Vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: VSWG 101 (3), 2014, 273-299.
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