Kresling, Alexander 

Geburtsdatum/-ort: 08.01.1897; St. Petersburg
Sterbedatum/-ort: 22.11.1977;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Chorleiter und akademischer Lehrer
Kurzbiografie: 1915 Abitur am human. Gymnasium St. Petersburg
1915–1916 Studium d. Nationalökonomie in St. Petersburg
1916–1918 Militärdienst in d. russ. Armee, reitende Artillerie
1918–1924 Bürgerkrieg, Armee Judenitsch, 1919 Emigration u. Studium d. Nationalökonomie in Berlin bis 1921, dann auch d. Philosophie in Freiburg
1924–1927 Übersetzer, u.a. für Verlag Reichel, Darmstadt
1927–1977 Lektor für Russisch an d. Univ. Freiburg
1929/1930 Gründung des Russischen Chors
1924–1939 Beratung schwedischer Firmen über sowjetische Holzwirtschaft
ab 1938 Lehrauftrag für Wirtschaft d. Sowjetunion an d. Univ. Freiburg
1940 Einbürgerung u.Eheschließung
1939–1945 in d. Auslandsabteilung des Statist. Reichsamts in Berlin Sachverständiger für die Wirtschaft d. UdSSR; 1943 Umzug dieser Abteilung nach Langenburg/Württ.
1945 Entnaziffizierung: „unbelastet“; Wiederaufnahme d. Lehrtätigkeit in Freiburg
1959–1977 Heimleiter des Ulrich-Zasius-Hauses
1965 Bundesverdienstkreuz Erster Klasse
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1940 (Berlin) Ute, geb. Wiebalck (1915–2014)
Eltern: Vater: Karl (1860–1929) Apotheker, russischer Staatsrat
Mutter: Eleonore, geb. Heimberger (1876–1942 ?)
Geschwister: 3; Else, Biruta (1906–2002) u. Hans (1909–1979)
Kinder: 2; Andreas (geboren 1941) u. Biruta (geboren 1942)
GND-ID: GND/118747185

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 274-276

„Der damalige Dirigent Kresling hatte ein unglaublich charismatisches Auftreten, mit dem er die Leute für sich gewann“ (G. Steinhart, in: BZ vom 12.5.2010). Nicht nur die Mitglieder des Russischen Chors der Universität Freiburg, den Kresling 1930 gegründet und fast 50 Jahre lang geleitet hat, auch die Konzertbesucher ließen sich vom mystischen Klang seiner Lieder und seinen Erzählungen aus dem alten Russland bezaubern.
Die Universität Freiburg war für den Exilrussen die zweite Heimat, erst als Student, dann als markantes und beliebtes Mitglied des Lehrkörpers. In der Philosophischen Fakultät wirkte er als Lektor für russische Sprache, neben dem Russischen Chor leitete er den Musikkreis des Studium Generale, wo er als Bratschist mit Konzertreife auch Orchester betreute; gefördert von Walter Eucken hatte Kresling 1938 außerdem einen Lehrauftrag für Wirtschaft der Sowjetunion erhalten. Fritz von Hippel schrieb 1954, Ordinarien könne man jederzeit ersetzen, Kresling nicht; denn dieser könne „die Verödung bannen“, sei „eine der Schlüsselfiguren unserer Universität“ (HStAS EA3/150). Das Zitat stammt aus einer der vielen Akten, die über Jahrzehnte zwischen Universität Freiburg und Kultusministerium entstanden sind im Kampf um eine dem Ansehen Kreslings entsprechende Eingruppierung und einen ihm gemäßen Titel; denn Kresling hatte keinen universitären Abschluss und als Lehrbeauftragter war er nur gering bezahlt. Die Liste seiner universitären Fürsprecher ist lang; auch Politiker wie Hermann Kopf und Alex Möller von der SPD setzten sich für Kresling ein, dem es erst 1946 gelang, einen Rentenanspruch zur Alterssicherung zu erwerben.
Kresling entstammte einer großbürgerlichen balten-deutschen Familie. Sein Abitur machte er am humanistischen Gymnasium der reformierten Gemeinde St. Petersburg. Unterbrochen von kurzen Studienzeiten leistete er danach seinen Militärdienst in der russischen Armee. Er nahm dann auf weißrussischer Seite am Bürgerkrieg teil. Nach dem Scheitern der Einnahme von St. Petersburg emigrierte er, während die Eltern und seine Schwestern zurückblieben, und ließ sich in Berlin als Student der Nationalökonomie immatrikulieren. Daneben boten sich dem musik- und sprachbegabten gutaussehenden jungen Mann diverse Nebentätigkeiten, auch als Eislauflehrer. 1921 setzte er seine Studien in Freiburg fort, das er vor dem I. Weltkrieg auf zwei Schweizreisen vom Zug aus gesehen hatte. Sein Ziel wurde bald die „Erforschung der Sowjetwirtschaft“ (Lebenslauf 1956). Mit seinen russischen Sprach- und Ortskenntnissen konnte er schon als Student Firmen beraten, die in der Folge des Rapallo-Vertrags von 1922 Geschäftsverbindungen mit Russland aufnahmen, so die Freiburger Firma Gebr. Himmelsbach, die sich an der zur Nutzung einer Holzkonzession gegründeten Mologa AG beteiligte.
1923 verbrachte Kresling viel Zeit mit dem Dichter Maxim Gorki, der einige Monate in Günterstal lebte. Kresling scheint ihm die Wohnung beschafft zu haben, zur Miete, „gekauft für 24 Dollar“ (Gedenkschrift, S. 31) ist eine künstlerische Übertreibung. Für die Mitte der 1920er-Jahre nennt Kresling als Schwerpunkt seiner Arbeit die Übersetzung und Herausgabe russischer Philosophen wie Berdjajew, Bulgakow, Wjatscheslaw Iwanow und die Übertragung von Max Webers Werken ins Russische. Hauptauftraggeber dabei war der Verlag Reichel in Darmstadt. 1927 übertrug ihm die Universität Freiburg das Lektorat für Russisch. Damit begann seine Lehrtätigkeit, die er während 50 Jahren ausübte. Er spielte auch als Bratschist in verschiedenen Orchestern und pflegte einen großen Bekanntenkreis, darunter viele Wirtschaftswissenschaftler. Der von ihm 1929/30 gegründete Russische Chor übrigens hatte seinen ersten Auftritt im Hause Eucken bei einer Dekanatsfeier. Die Hausherrin Eucken-Erdsiek, die wie Kresling ihre Jugendjahre in Russland verbracht hatte, gestaltete einen russischen Abend.
Um die gleiche Zeit erhielt Kresling einen interessanten Auftrag: Schwedische Firmen zogen ihn als Sachverständigen für sowjetische Holzwirtschaft zu Rate und besorgten ihm den „Nansenpass“ für Staatenlose. Bei Kriegsausbruch 1939 hielt er sich in Schweden auf. Damals stand schon fest, dass Kresling künftig in Berlin an der Seite von Hans Langelütke, eines Freundes aus Freiburger Studientagen, in der von diesem geleiteten Auslandsabteilung des Reichsamts für wehrwirtschaftliche Planung arbeiten werde, ab 1940 Zentralreferat Auslandsforschung im Statistischen Reichsamt. Der Umzug nach Berlin hatte laut Freiburger Meldekarte schon 1938 stattgefunden. 1940 beendete Kresling sein Dasein als Staatenloser, betrieb seine Einbürgerung unter Vorlage eines lückenlosen Ariernachweises und heiratete. Den Kontakt zu Freiburg wollte er während der Kriegsjahre nicht aufgeben; „sporadische Wiederaufnahme der Lehraufträge“ (HStAS EA3/150) beschreibt den Zustand treffend. Das Pendeln war beschwerlich, er nahm es jedoch auf sich, nicht zuletzt wegen der großzügigen Wohnung im „Professorenhaus“ in der Burgunderstraße. Sein Feind war der NS-Dozentenführer Dr. Eduard Steinke, der zu Papier brachte, Kresling entfremde die Studenten dem Nationalsozialismus. Dieser bewirkte, dass der Lehrauftrag „Sowjetwirtschaft“ im Wintersemester 1944/45 nicht mehr angekündigt wurde. Unklar bleibt, ob Steinke die Qualität von Kreslings Berliner Tätigkeit kannte. Kresling selbst zumindest hielt nicht damit hinterm Berg und betonte in der Korrespondenz mit der Universität wegen der Aufrechterhaltung seiner Lehraufträge seine Tätigkeit im Rahmen des Vierjahresplans, hohe Belastung durch den Krieg im Osten, Beratung des OKW und des Stabs der Luftwaffe in Wehrwirtschaftsfragen. Am 4. Oktober 1941 schrieb er: „Morgen fliege ich für 10 Tage nach Dnjepropetrowsk, und auch für die nächsten Monate werde ich mit einer Reihe von Dienstreisen nach dem Osten rechnen müssen“ (UA Freiburg B1/1385). Es war nach 22 Jahren die erste Reise in die alte Heimat.
Das Statistische Reichsamt, Kreslings Arbeitsplatz in der Neuen Königstraße 17, befand sich im größten, 1930/31 als Karstadt-Zentrale errichteten Bürogebäude Berlins, das 1934 vom Reichsfinanzministerium gekauft worden war. 1943 wurde die Auslandsabteilung ins Schloss Langenburg in Württemberg verlegt, einen sicheren Ort, der den Schutz der Westalliierten genoss dank der Verwandtschaft des Hauses Hohenlohe-Langenburg mit Prinz Philipp von Mountbatten. Deswegen sollen „die Herren vom Reichsamt“ gegen Kriegsende noch recht gelassen agiert haben. Während dessen Amtsakten in amerikanische Hände und schließlich ins Berlin Document Center gelangten, gilt das nicht für Kreslings Unterlagen: „Das von mir seit 1930 gesammelte Material über die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion habe ich Anfang 1945 fast vollständig nach Freiburg i. Br. verlagern können“ (Schreiben vom 17.9.1950, Kopie im Privatarchiv Alexander Kresling). So schrieb Kresling in seiner Bewerbung an das Institut für Wirtschaftsforschung, IFO, in München, die keinen Erfolg hatte. Im Gegensatz zu seinem Bruder Hans, der ebenfalls Mitarbeiter am Statistischen Reichsamt gewesen war und nach der Rückkehr vom Militär 1946 mit Langelütke über Stuttgart nach München ging, hatte Kresling wohl den rechten Zeitpunkt verpasst. Die folgenden 32 Nachkriegsjahre, die Kresling drum in Freiburg verbrachte als angesehener Lehrer und gefeierter Künstler mit seinem „legendären“ Russischen Chor, der 1957 die Feiern zum 500. Jubiläum der Universität eröffnen durfte, waren das positive Resultat davon.
Schon über 60 Jahre alt übernahm Kresling die Leitung eines Freiburger Studentenwohnheims, eine prosaische Verwaltungstätigkeit, die er mit der ihm eigenen Energie und menschlicher Wärme ausfüllte. Von Ruhestand wollte er nichts wissen. Kurz vor seinem Tod schrieb er an Rektor Helmut Engler, dass ihm nach bald 100 Semestern die Lehrtätigkeit immer noch Freude mache und er „Sowjetwirtschaft [und] Russisch für Hörer aller Fakultäten“ auch 1977/78 weiter lehren möchte (UA Freiburg B/24/1943). Die Akte schließt mit Kreslings Todesanzeige. Er starb im Auto, als ihn seine Frau vom Seminar abholte. Die hohe Wertschätzung, die er an der Universität und durch den Russischen Chor in der ganzen Stadt genoss, drückte sich auch in der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes aus, bei der Professor Folkert Wilken von Kreslings ungewöhnlicher menschlicher Wirksamkeit sprach (BZ vom 17.12.1965).
Kresling war eine Persönlichkeit, die in kein Schema passte, ein „Weltbürger mit bewegter Vita“, wie ihn Wolfgang von Hippel nennt (vgl. Quellen). Als Bratschist und Chorleiter hatte er Erfolge, war als Universitätslehrer „eine Institution“, auch wenn das fehlende Examen sein Fortkommen lebenslang behinderte. Steinke, der NS-Dozentenführer, irrte nicht: Kresling war kein Nationalsozialist, auch wenn klar zutage tritt, dass er sich durch seine intensive Mitarbeit am Vierjahresplan willig und unbekümmert in das System des „Dritten Reiches“ eingeordnet hatte. Genauso lag die Rote Studentengruppe 1931 richtig, als sie ihm vorwarf, er verkörpere eine Lebenshaltung aus dem alten Russland, und ihre Gesinnungsgenossen vor dem Russischen Chor warnte. Selbst sein Russisch war das „Honoratiorenrussisch der Zarenresidenz“ geblieben (Schwäb. Tagblatt vom 13.7. 1970). Aus den politischen Überprüfungen durch die Amerikaner am Ende des II. Weltkriegs ging er „als einer der ganz wenigen politisch völlig unbelasteten Fachleute“ (StAF C 25/8 Nr. 868) hervor, was die französische Besatzungsmacht anerkannte und der Universität Freiburg meldete. „Die Mil.Reg. hat mitgeteilt, dass Prof. Dr. Tellenbach und Lektor Kresling als ‚maintenu‘ bezeichnet sind“ (29.10.45, UA Freiburg B 1/1385).
Quellen: BA R 3101/35321, Bestand Reichswirtschaftsministerium; StAF C 25/8 Nr. 868, Personalakte Kresling; UA Freiburg B 24/1943, B 110/395, B 3/893, B 1/2613, B 1/1385, Nachlass Kresling; HStAS J 191, Kresling, Zeitungsausschnitt Schwäb Tagblatt vom 13.7.1970, EA 3/150; StAL EL 902/20 Bü 92757, Hans Langelütke, EL 902/20 Bü 11400, Bernhard Bickhoff; HZA GA 98/352, Hanna Führer, Das Kriegsende in Langenburg 1945; StadtA Freiburg Auskünfte aus d. Meldekartei vom Jan. 2014; Mitteilungen von Biruta Kresling, Tochter von Kresling, u. Kopien von Dokumenten aus dem von ihr verwalteten PrivatA Alexander-Kresling, Freiburg, Jägerhäusleweg 55, Schreiben an Institut für Wirtschaftsforschung, IFO, vom 17.9.1950 u. Lebenslauf Kreslings vom 23.8.1956; Mitteilung von Professor Wolfgang von Hippel an den Hg. vom 6.10.2014.
Werke: Tonaufnahmen von russ. Volksliedern auf Schallplatten u. Tonbändern, ca. 1400 Originalpartituren, in: PrivatA Alexander Kresling, vgl. Quellen; Dokumente zum Russ. Chor u. Material „Wirtschaft u. Kultur d. Sowjetunion“, Stichwortbearbeitungen für Lexika wie Neuer Herder u. Schweizer Lexikon in: UA Freiburg, Nachlass Kresling; UNISEUM Freiburg, Bild- u. Tonskizze Russ. Chor.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.), in: Baden-Württembergische Biographien, S. 274 Jugendbild aus dem Besitz d. Tochter Biruta. – Gedenkschrift 1985, 30, 55 (vgl. Literatur).

Literatur: Rainer u. Renate Liessem, Die Mologa AG 1923–1927. Eine Holzkonzession in Russland unter Beteiligung d. Firma Himmelsbach, Freiburg, in: Schauinsland 93, 1975, 87; Das russische Volkslied an d. Univ. Freiburg. Ein Interview mit Kresling, in: Freiburger Universitätsbll. Heft 57 vom Sept. 1977, 17-34; Ute u. Biruta Kresling, Kresling Gedenkschrift anlässl. d. Gedenkfeier am 10 Februar 1978 in d. Univ. Freiburg, 1978, Reprint 1985; Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker d. Vernichtung. Auschwitz u. die dt. Pläne für eine neue europ. Ordnung, 1991, 47; Nils Goldschmidt u. Michael Wohlgemuth (Hgg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition d. Ordnungsökonomik, 2008, 403; BZ vom 12.5.2010, Interview mit Chormitglied Gabi Steinhart u. Bericht 80 Jahre Russischer Chor; Klaus Hockenjos, Maxim Gorki im Schwarzwald, in: Schauinsland 132, 2013, 118.
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