Schlichter, Rudolf 

Geburtsdatum/-ort: 06.12.1890;  Calw
Sterbedatum/-ort: 03.05.1955; München
Beruf/Funktion:
  • Zeichner, Maler und Schriftsteller
Kurzbiografie: 1896-1906 Katholische Volksschule und Lateinschule Calw bis 1904, dann Lehre als Emailmaler bei der Firma Herion, Pforzheim
1907-1916 Kunstgewerbeschule Stuttgart bis 1909, dann Kunstschule Wilhelm Plock, Karlsruhe, ab 1911 Studium an der Kunstakademie Karlsruhe bei Walter Conz, Walter Georgi, Kaspar Ritter, Hans Thoma, Wilhelm Trübner u. a.
1916-1918 Militärdienst als Munitionsfahrer in Frankreich; Dienst in Heimatlazarett, 1918 Soldatenrat in Karlsruhe, Mitglied im „Arbeitsrat für Kunst“ Berlin, Gründung der Künstlergruppe „Rih“ in Karlsruhe
1919 Ausstellung (mit Wladimir Zabotin) in der Galerie Moos, Karlsruhe, Umzug nach Berlin, Neue Winterfeldstraße 17 A, Mitglied der „Novembergruppe“ und der „Berliner Sezession“
1920 Teilnahme an der „1. Internationalen Dada-Messe“, Berlin
1924 Mitbegründer, Schriftführer der „Roten Gruppe“, Ausstellungsbeteiligung „Erste Deutsche Kunstausstellung“ in der UdSSR, Freundschaft mit dem in Calw ansässigen Künstler Kurt Weinhold
1928 Mitglied der „Assoziation Revolutionärer Künstler“, ASSO
1932 Übersiedlung nach Rottenburg, Seebronnerstraße 1
1935 Ausschluss aus der „Reichsschrifttumskammer“ und dem „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“
1936 Übersiedlung nach Stuttgart, Neue Weinsteige 5
1937 Entfernung von Werken Schlichters aus deutschen Museen
1938 Jan.-1939 Jan. Ausschluss aus der „Reichskammer der bildenden Künste“, dann wieder aufgenommen
1939-1943 Übersiedlung nach München, Pettenkoferstr. 25/III
1942 Wohnung und Atelier in München ausgebombt, Notwohnung Fraunhoferstraße 38/I, 1943 Umzug nach München-Laim, Egetterstraße 17/II, Kontakt zum Kreis um die katholische Zeitschrift „Hochland“ (Max Stefl, Theodor Haecker, Carl Muth, Hans Scholl)
1955 2. Mai Tod nach einer Operation in der Münchner Privatklinik Prof. Dr. Maurers, auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt, Grabstätte 1984 aufgelassen
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1929 (Berlin-Schöneberg, Trauzeuge George Grosz) Elfriede Elisabeth, geb. Koehler, genannt Speedy (1902-1975 München), Schauspielerin, Schriftstellerin
Eltern: Vater: Franz Xaver (1852-1893), rk., Gärtner
Mutter: Rosine Pauline, geb. Schmalzried (1857-1942), ev., Näherin
Geschwister: 5:
Klara (geb. 1881, eine undatierte Zeichnung Schlichters zeigt sie auf dem Totenbett)
Max (1882-1933), Küchenchef des Hotels Kaiserhof, ab 1917 Inhaber des Berliner Künstlerlokals „Restaurant Schlichter“ (1969 geschlossen)
Gertrud (1884-1917), verheiratete Wassmannsdorff
Franz (1885-1953)
Pauline Rosine (1889-1894)
Kinder: keine
GND-ID: GND/118759388

Biografie: Clemens Ottnad (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 324-326

Die während der Schulzeit Schlichters von biblischer Thematik inspirierten Illustrationen wurden früh von Zeichnungen nach literarischen Vorlagen Karl Mays, Charles Fenimore Coopers oder Charles Sealsfields (i. e. Karl Postl) abgelöst. Aus unterschiedlichem historischem Kontext entnommene Motive gewalttätiger Massenszenen, von Mord und Hinrichtungen bilden die blutrünstige Phantasiewelt Schlichters. Die in Pforzheim begonnene Lehre zum Porzellanmaler brach Schlichter ab und besuchte bis 1909 die Stuttgarter Kunstgewerbeschule. In Karlsruhe, wo er sich 1910 auf das Studium an der Kunstakademie vorbereitete, faszinierte Schlichter die Freizügigkeit der Demimonde. Die Lebensgefährtin „Fanny“ sollte durch Prostitution den gemeinsamen Lebensunterhalt verdienen, er selbst vertrieb aus seiner Hand stammende pornographische Graphik. Während der Akademiejahre eignete sich Schlichter auch Kenntnisse druckgraphischer Techniken an. Vorrang werden in Schlichters Werk zeitlebens das Zeichnerische und Zeichnungen haben. Zunächst vom Kriegsdienst zurückgestellt arbeitete er bis 1916 als Meisterschüler von Kaspar Ritter und Wilhelm Trübner in einem Atelier in Karlsruhe.
An der französischen Front setzte Schlichter 1917 mit einem Hungerstreik seine Entlassung aus dem aktiven Dienst durch. Zurück in Karlsruhe rief er Ende 1918 die nach der Pferdefigur Karl Mays benannte Künstlergruppierung „Rih“ ins Leben, die als Arm der 1918 gegründeten revolutionären Berliner „Novembergruppe“ auftrat. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin 1919 wurde Schlichter Mitglied der KPD und pflegte Kontakt mit den Dadaisten um George Grosz, John Heartfield (i. e. Helmut Herzfelde), Wieland Herzfelde und Raoul Hausmann. Futuristische sowie expressionistische Experimente entstanden. In Montagetechniken und in malerischer Manier der Pittura Metafisica zeigte Schlichter Prothesenmenschen in einer technisierten Umwelt. Ein anlässlich der Berliner „Dada-Messe“ bei Burchard 1920 gezeigtes Exponat trug Schlichter die Verurteilung wegen „Beleidigung der Reichswehr“ ein. Weitere Geldstrafen, wie die wegen der Illustrationen zu „Jack der Aufschlitzer“ von Peter Paul Althaus, folgten. Seit 1922/23 lebte Schlichter in Berlin mit dem Modell „Jenny“ zusammen. Ebenso wie bei George Grosz oder Otto Dix bestimmen neben Wildwest-Phantasien und anderen Exotismen Darstellungen wie „Zusammenkunft von Fetischisten und manischen Flagellanten“, um 1923, „Lustmord“, 1924, oder „Der Künstler mit zwei erhängten Frauen“, um 1924, Schlichters Werk. Seit Mitte der 1920er Jahre wurde Schlichter von der Kunstkritik als Vertreter des Verismus bezeichnet und zwei seiner Arbeiten waren 1925 in G. F. Hartlaubs programmatischer Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ in Mannheim zu sehen.
Von der „Novembergruppe“ spaltete sich 1924 die linksradikale „Rote Gruppe“ ab, deren Schriftleiter Schlichter wurde. In sozialistischer Agit-Prop verpflichteten Periodika publizierte er Illustrationen. Neben Straßen- und Café-Szenen, Darstellungen von Arbeitern und Gassenkindern, entstanden zahlreiche Portraits befreundeter Literaten: Bert Brecht, Oskar Maria Graf, beide 1927, Erich Maria Remarque, 1928/29, u. a. Elisabeth „Speedy“ Koehler, die Schlichter 1927 in Berlin kennenlernte und bald heiratete, verkörperte seither als Kultfigur jahrzehntelang die vorgestellten Clichées von Domina und Madonna in Schlichters Leben und Bildern. Mit Speedy in der Rolle des Lustobjekts, die das von ihm bevorzugte Schuhwerk im Alltag ebenso wie in seinen Darstellungen trägt, realisierte Schlichter seine Phantasien bis hin zu Strangulationsexperimenten (1928). Nach der Hochzeit lebte Schlichter mit Speedy, die selbst mit literarischen Arbeiten befasst war, in einer Art Josefsehe zusammen. Auf ihren Einfluss wurde Schlichters Konversion vom Kommunismus zum Katholizismus zurückgeführt. Zwischen 1931 und 1933 verfasste er religiös gefärbte Gedichte und widmete sich der Landschaftsmalerei. In der 1931 erschienenen Schrift „Zwischenwelt. Ein Intermezzo“ stilisierte Schlichter die als „Schwarzwälder Oscar Wilde“ gelebte Jugendzeit zur Scheinexistenz, aus der er durch die schicksalhafte Begegnung mit seiner Frau erlöst wurde. Der Analyse seines Stiefelfetischismus und sadomasochistischer Phantasien ließ Schlichter 1932 mit „Das widerspenstige Fleisch“ und 1933 „Tönerne Füße“ weitere romanhafte Selbstbespiegelungen folgen. Erst 1995 erschien unter dem Titel „Die Verteidigung des Panoptikums“ postum der dritte Teil von Schlichters Lebensbeschreibung, eine aus belletristischen und kunsttheoretischen Beiträgen zusammengesetzte „Malerbiographie“.
Um 1929 lernte Schlichter mit Ernst Jünger, Ernst von Salomon u. a. Vertreter deutschnationaler Ideen kennen. Mit Jünger und dessen Frau Gretha verband die Schlichters ein jahrzehntelanger Briefwechsel und persönlicher Kontakt. Schlichter portraitierte Ernst Jünger 1929 und 1937, den Bruder Georg Friedrich Jünger 1937. In Schlichters literarischem Fragment „Kreuztragung“, 1936/42, tritt E. Jünger in der Figur des Onias auf. 1932 siedelte Schlichter nach Rottenburg über, wo er sich der Landschaft des Schwäbischen Jura zuwandte. Das monumentale, an Tizians Venusdarstellungen anklingende Gemälde „An die Schönheit“ von 1935 zeigt einen in eine südwestdeutsche Hügellandschaft einmontierten lebensgroßen Akt (Speedys). Schlichters Naturauffassung ist hier den Meistern der Donauschule um 1500 verpflichtet, sein Menschenbild entspricht jedoch eher der zeitgenössisch offiziösen „Schamhaarmalerei“ Adolf Zieglers. Schlichters Text „Grundsätzliches zur deutschen Kunst“, 1933, propagiert einen Realismus-Begriff, der sich aus der Synthese des Religiösen und des spezifisch Nationalen, der „Verlebendigung des Geistes der Dürer, Cranach, Holbein, Grünewald, Altdorfer ...“, ergäbe. Doch die Annäherung vieler seiner zwischen 1933 und 1939 entstandenen Arbeiten an die NS-Kunstdoktrinen sollte Schlichter später selbst „mit Ekel“ erfüllen. Indes erkannte ihm die Reichsschrifttumskammer angesichts anarchistischer und pornographischer Inhalte der autobiographischen Schriften 1935 nicht die „Eignung zu einem kulturschöpferischen Beruf“ zu. Im Januar 1938 erfolgte ein einjähriger Ausschluss Schlichters aus der Reichskammer der bildenden Künste. Bilder wie das 1933 entstandene Gemälde „Verspottung Christi“, „Blinde Macht“, 1935-37, oder die verschollenen „Gottesmörder“, 1945, sind Allegorien für die während des NS bedrohte Lebens- und Berufssituation des Künstlers. Nach Denunziationen verbüßte Schlichter Ende 1938 „wegen unnationalsozialistischer Lebensführung“ drei Monate Untersuchungshaft. Die im Januar 1939 ergangene Verurteilung zu zwei Monaten Gefängnis war damit mehr als abgebüßt. Auch in München, wohin Schlichter im September 1939 übersiedelte, war der Künstlerhaushalt, in dem die in der Wohngemeinschaft mit Schlichters lebenden jungen Männer als Liebhaber Speedys angesehen wurden, vor Nachstellungen nicht sicher. Im September 1942 wurden bei einem Bombardement Münchens Wohnung und Atelier getroffen, die meisten Bilder jedoch nicht beschädigt. In den 1940er Jahren verdiente Schlichter vor allem mit Buchillustrationen, deren Anzahl von 1920 bis 1951 nahezu 200 beträgt, seinen Lebensunterhalt. Wiederholt beschäftigte er sich mit Stoffen aus Märchen und „Tausendundeiner Nacht“.
In kunstphilosophischen Schriften wie „Karl May“, 1942, zeichnet Schlichter die Entstehung des Nationalsozialismus aus der Attitüde des christlich-germanischen Übermenschentums des ausgehenden 19. Jahrhunderts nach. Nach 1945 attackierte Schlichter die sich in der Kunstszene allgemein durchsetzende Abstraktion in zahlreichen Polemiken als kurzlebige Modeerscheinung. Sedlmayrs kulturpessimistische Streitschrift „Verlust der Mitte“ von 1948 findet in Schlichters im darauffolgenden Jahr erschienenen Band „Das Abenteuer der Kunst“ deutliche Parallelen. Dagegen favorisierte er einen neuen, der Malerei Dalís nahestehenden Surrealismus, der mit den in Schlichters Alterswerk auftretenden Mutantenwesen in Bildtraditionen von Hieronymus Bosch bis James Ensor steht. Im letzten vollendeten Ölgemälde, „Strandleben am Styx“, 1955, geht die sterilisierte Umwelt der solipsistisch agierenden Figuren in eine surreal das Chaos ordnende Alptraumwelt am Rande des Totenflusses auf.
Quellen: Nachlass in d. Galerie Alvensleben, München, verwaltet von Viola Roehr-von Alvensleben; A d. Nationalgalerie Berlin, Briefwechsel Schlichter – Justi, 1933; A Ernst Jünger, Wilflingen, Konvolut R. Schlichter; BA Berlin, Korrespondenz mit d. Reichsschrifttumskammer 1937-38; BA Koblenz, N 1258 Drexel/225, N 1221 Heuss/196, N 1332 Wenger/85; Bayer. Staatsbibliothek, München; DLA, Korrespondenz Schlichters mit Theodor Heuss, Ernst Jünger, Ernst Rowohlt, Skizzenbücher, Dt. RundfunkA Frankfurt a. M.; Dr. Dirk Heißerer, München; Galerie Michael Hasenclever, München; Harvard University Library, Cambridge, Mass.; Nachlass George Grosz; Korrespondenz Schlichters mit George u. Eva Grosz; Bibliothek Schlichter in Privatbesitz; Sammlung Rieth, Tübingen; Stadtbibliothek München, Monacensia, LiteraturA, Nachlass Melichar, Biogr. Dok. VII. 4, mit d. Korrespondenz Schlichter – Franz Roh; Nachlass Max Stefl; StadtA u. Hermann-Hesse-Museum, Calw; Stiftung A d. Akad. d. Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Werkfotos Schlichters; Zentralbibliothek Zürich.
Werke: Künstlerische Arbeiten in: AKat. Tübingen u. a., 1997/98 (vgl. Lit.). – Literar. Arbeiten: R. Schlichter Bibliographie, bearb. u. mit einem Nachwort hg. von Dirk Heißerer, 1998 (umfangreiche Bibliographie selbständiger u. unselbständiger Veröffentlichungen, Illustrationen, Ex Libris, Korrespondenzen u. a.).
Nachweis: Bildnachweise: AKat. Tübingen u. a., 1997/98 (vgl. Lit.).

Literatur: ThB 30, 1936, 109; Vollmer 4, 1958, 192; Literatur 1920-1998 zusammengestellt in: R. Schlichter Bibliographie, 1998 (vgl. W); R. Schlichter AKat. Staatl. Kunsthalle Berlin/Württ. Kunstverein, Stuttgart 1984, 1984; Michael Karl Albert Rabe, Linien, die ihre Opfer wie auf Mokassins umschleichen. Zur ästhet. u. polit. Funktion des Tagtraums im Werk R. Schlichters, Diss. Univ. Hamburg 1985, Typoskript; Götz Adriani (Hg.), R. Schlichter – Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. AKat. Tübingen/Wuppertal/München 1997/98.
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