Voll, Christoph Reinhold 

Geburtsdatum/-ort: 27.07.1897; München
Sterbedatum/-ort: 16.06.1939;  Karlsruhe, bestattet in Oksby (Dänemark)
Beruf/Funktion:
  • Bildhauer, Grafiker und Maler
Kurzbiografie: Kindheit im Waisenhaus Kloster Kötzting
1903–1910 Volksschule Altötting
1911 Lehrerbildungsanstalt in Deggendorf; Umzug nach Dresden
1911–1915 Bildhauerlehre bei Albert Starke, Dresden
1915–1918 Kriegsfreiwilliger im Infanterie Reg. 241, Einsätze an d. West- u. Ostfront
1919–1923 Akademie d. Bildenden Künste Dresden bei Prof. Selmar Werner (1864–1953)
1920 Mitglied d. Künstlervereinigung „Gruppe 1919“; Mitglied d. „Dresdner Sezession“
1924 Beteiligung an der „Ersten Allgemeinen Kunstausstellung“ Moskau mit Otto Dix (BWB I 64), George Grosz (1893–1959), Käthe Kollwitz (1867–1945), Rudolf Schlichter (BWB IV 324) u. a.
1924–1928 Leiter d. Bildhauerklasse an d. Staatl. Schule für Kunst u. Handwerk Saarbrücken
1926 Ehrentitel Professor im Saarland
1928–1935 Professor an d. Bad. Landeskunstschule Karlsruhe
1928 Preuß. Staatspreis; Ehrenpreis d. Kunstakademie Dresden
1933 Unterrichtsverbot
1935 „Beurlaubung“ vom Lehramt; Werke in den Ausstellungen „Entartete Kunst“; Entlassung u. Verlust des Akademieateliers
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1922 Erna Emilie Sörensen-Krake, gen. Musse, Künstlerin
Eltern: Vater: Roman (1868–1897), Bildhauer
Mutter: Felicitas, geb. Hösch, wiederverh.
Geschwister: 4; darunter: Hertha Romana, verh. Vogel-Voll (1898–1975), Schriftstellerin
Kinder: Karen (* 1924)
GND-ID: GND/118770152

Biografie: Clemens Ottnad (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 418-421

Nach dem Tod des Vaters und der Wiederverheiratung der Mutter wuchs Voll zeitweise in einem Kinderheim und in ärmlichen Verhältnissen auf. So wurde er mit den sozialen Missständen vor dem I. Weltkrieg aus eigener Erfahrung bestens vertraut. Kurz nach dem Beginn der Ausbildung zum Volksschullehrer in Deggendorf in Niederbayern zog er mit der Mutter nach Dresden, wo er bei Albert Starke eine Lehre als Bildhauer absolvierte. In Einsätzen an der West- und Ostfront überlebte er die Kriegsjahre und kehrte 1918 nach Dresden zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt an der Kunstgewerbeschule wechselte Voll an die Akademie der Bildenden Künste Dresden über, wo er bei Selmar Werner studierte, der in den 1890er Jahren selber zusammen mit Ernst Barlach (1870–1938) hier seine Ausbildung erhalten hatte. Neben dem Bildhauer Barlach waren es besonders Mitglieder der 1905 in der sächsischen Kapitale gegründeten Künstlergruppe „Die Brücke“, Erich Heckel (1883–1970), Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) und Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), die – abgesehen von dem in der Hauptsache verwendeten druckgrafischen Ausdrucksmedium des Holzschnittes – den dem wilhelminischen Denkmalswahn entgegengesetzten Werkstoff Holz zur Entwicklung ihrer plastischen Werke benutzten. Im Unterschied zu den Brücke-Künstlern ging es Voll in seinen frühen Skulpturen allerdings nicht so sehr um die von diversen Exotismen durchwobene zivilisationskritische Rückbesinnung auf ursprünglich-naturnahe Lebensformen und die damit verbundene Weltflucht. Volls Figuren bilden die gesellschaftlichen Zustände der Nachkriegszeit schonungslos ab, indem sie Einzelschicksale der zeitgenössischen sozialen Katastrophe als exemplarisch zeigen. Die Darstellungen etwa von Waisenhausszenen, Kriegsinvaliden, Bettlern, bedürftigen Arbeiterfamilien sowohl in der Skulptur als auch in dem bislang umfangreichen, kaum zur Kenntnis genommenen Werk auf Papier, Zeichnung, Druckgrafik und Aquarellen stehen damit den mit beißendem Realismus vorgetragenen sozialkritischen Arbeiten des gleichaltrigen Conrad Felixmüller (1897–1977) oder von Otto Dix näher. Der 1919 federführend von den Genannten gegründeten Künstlervereinigung „Dresdener Sezession Gruppe 1919“, auch als „Sozialistische Gruppe der Geistesarbeiter Dresdens“ bekannt, die eher (kunst)politische als bildkünstlerische Zielsetzungen verfolgte, trat Voll im Jahr 1920 bei. Gerade die in dieser Werkphase Volls intensiv um Mutter-Kind-Themen kreisenden Arbeiten erinnern in ihrem blockhaft urtümlichen Charakter besonders auch an die sozialkritische Grafik und Skulpturen der in Berlin tätigen Käthe Kollwitz.
An der Dresdener Kunstakademie, in der 1920 die örtliche Kunstgewerbeschule aufgegangen war, stellte die Beschäftigung mit Bildsujets aus dem Großstadt- und Arbeitermilieu, insbesondere mit den Unterprivilegierten der Gesellschaft, Kindern und Behinderten, keine Ausnahmeerscheinung dar. Im Gegensatz zu Zeichnerinnen wie Paula Lauenstein (1898–1980), Elfriede Lohse-Wächtler (1899–1940) oder Alice Sommer (1898–1982), die gleichaltrig mit Voll in der sächsischen Hauptstadt studierten und der Region verhaftet blieben, verließen prominente Hochschullehrer die Akademie dagegen rasch wieder. Otto Dix übersiedelte schon 1922 nach Düsseldorf und Oskar Kokoschka (1886–1980) ließ sein Professorenamt ruhen, bevor er Dresden im Sommer 1923 ganz den Rücken kehrte.
Verheiratet mit Erna Krake, einer Studentin aus der Malklasse Kokoschkas, und durch erfolgreiche Ausstellungen in den Dresdener Galerien Emil Richter 1922 oder bei Rudolf Probst 1923 hinlänglich bekannt erhielt Voll 1923 ebenfalls in jungen Jahren eine Berufung, die ihn nach Saarbrücken führte. An der neugegründeten saarländischen „Staatl. Schule für Kunst und Handwerk“ trat er 1924 die Leitung der Bildhauerklasse an und wurde im Jahr 1926 zum Professor ernannt. Im selben Jahr lernte er auf einer Skandinavienreise den berühmten norwegischen Maler Edvard Munch (1863–1944) kennen, der Volls Arbeiten sehr schätzte und sich auch nach 1933 ungeachtet der NS-Kunstdoktrin mehrfach für den deutschen Bildhauer im Ausland verwandte.
In der Saarbrücker Zeit um die Mitte der 1920er Jahre zeigt sich bei Volls bildhauerischen Arbeiten eine zunehmende Konzentration auf kompaktere Körperformen und in sich geschlossene Konturen. Diese bringt eine weitgehende Glättung der Materialoberflächen bzw. den Wechsel zu Werkstoffen wie Granit, Marmor, Diabas oder aber Bronzen in kleiner Auflage mit sich. Die Psychologisierung der dargestellten Charaktere mittels nervös-expressiver Oberflächenbearbeitung in verschiedenen Hölzern nimmt der Bildhauer zugunsten der Entwicklung allgemeiner gefasster Idealtypen zurück. Insbesondere die voluminösen weiblichen Akte erinnern dabei deutlich an französische Vorbilder der vorigen Generation um Aristide Maillol (1861–1944) oder Charles Despiau (1874–1946). Weg von sozial interagierenden Gruppenbildern in dem als unprätentiös geltenden Werkstoff Holz führte so die Gestaltung von Einzelfiguren oder antikisch fragmentarischen Figurentorsi in Stein oder Bronzeguss zu einer von neoklassizistischen Formprinzipien geprägten Auffassung des Körperbildes und damit einhergehend auch zur Entpolitisierung gewählter Themen und Genren. Die spätere Rezeption nahm diese Entwicklungen häufig in Analogie mit den gleichzeitigen Tendenzen in der Malerei des Verismus wahr, die Voll in der Bildhauerei von einem Kritischen Realismus über die Neue Sachlichkeit zu einer neuklassisch orientierten Werkphase leiteten.
Zahlreiche Präsentationen der Werke Volls in renommierten deutschen und internationalen Ausstellungsinstitutionen folgten, in der bekannten Berliner Galerie Neumann-Nierendorf 1927 ebenso wie die Einladung zur Biennale nach Venedig 1928. Noch im selben Jahr erhielt der etwas über 30 Jahre alte Voll die Berufung an die Bad. Landeskunstschule in Karlsruhe, die Vorläuferin der bad. Kunstakademie. Dort wurde er mit der Leitung der Meister-Werkstatt für Bildhauerei betraut, wo er noch nach 1933 zunächst sein Akademieatelier behalten konnte. Entgegen der Anfeindungen von NS-Kunstfunktionären aufgrund seines frühen politischen Engagements waren Voll die öffentliche Unterstützung und Ankäufe von Seiten anerkannter Fachleute, so Kurt Martin (1899–1975), dem damaligen Direktor der Staatl. Kunsthalle Karlsruhe, Otto Haupt (➝ III 119), Direktor der Karlsruher Kunstakademie, oder Alois Schardt (1889–1955), Direktor der Nationalgalerie Berlin, sicher. Im Jahr 1935 war Voll so in der von den deutschen Machthabern offiziell legitimierten Ausstellung „5 Deutsche Bildhauer“ neben Karl Albiker (➝ III 1), Wilhelm Gerstel (1879–1963), Georg Kolbe (1877–1947) und Edwin Scharff (1887–1955) im Kunsthaus in Zürich präsent, wo eine im öffentlichen Raum der Stadt installierte Bronzefigur eines „Arbeiters“ jedoch schon im Jahr 1931 einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen war. Dennoch wurden auch seine Arbeiten 1935 bis 1938 in verschiedenen deutschen Städten durch NS-„Ausstellungen“ als „Entartete Kunst“ gebrandmarkt und zahlreiche seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen entfernt. Voll wurde als Hochschullehrer entlassen.
Mit der Entwicklung überzeitlich neuklassischer Aktdarstellungen in Stein oder Bronze in der Karlsruher Zeit seit der 2. Hälfte der 1920er Jahre hatte sich Voll allerdings auch monumentalen Figurengestaltungen zugewandt. In deren Folge wurden etliche um 1935 entstandene Entwürfe zu Auftragsarbeiten als Zugeständnisse an einen „völkisch“ geprägten Zeitgeschmack interpretiert. Neben dem nicht überlieferten Modell zu einem „Denkmal der Volksgemeinschaft“ blieb eine verkleinerte Bronzeguss-Version der Darstellung eines „Adlerträgers“ erhalten, die auf eine Gesamthöhe von etwa sieben Metern vergrößert wohl den Bestandteil des propagandistischen Skulpturenschmuckes an der Reichsautobahn bei Mannheim bilden sollte. Der nach weiteren Modellen in Zink und Bronze um 1938 gefertigte Guss in Originalgröße blieb aufgrund des Kriegsausbruches zunächst auf dem Hof der Gießerei Noack in Berlin stehen, bevor er bizarrerweise 1948 nach Mannheim ausgeliefert und in der Nähe des dortigen Rhein-Neckar-Stadions platziert 1957 dann als „künstlerisch wertlos“ verschrottet wurde.
Eine um 1938 geplante Einzelausstellung Volls in Oslo, für die sich offenbar wiederum Edvard Munch verwandt hatte, scheiterte am NS-Eingreifen. Der Kunsttransport wurde an der deutsch-dänischen Grenze aufgehalten und die Arbeiten in Schloss Christiansborg eingelagert, wo sie weitgehend unbeschadet den Krieg überstanden. Weitere Präsentationen seines Werkes erlebte der Künstler, der im Sommer 1939 verstarb, nicht mehr. Nachdem der Nachlass nach 1945 kurzzeitig in die USA verbracht worden war, übergab die Tochter Volls, die zusammen mit ihrer Mutter nach Dänemark geflohen war, ihn im Jahr 1948 der Stadt Karlsruhe.
Quellen: Nachlass in d. Staatl. Kunsthalle Karlsruhe.
Nachweis: Bildnachweise: Anne-Marie Kassay-Friedländer, 1994 (vgl. Literatur).

Literatur: Durus, Ausstellung Christoph Voll, in: Die Rote Fahne, Berlin 1927; AKat. Bad. Kunstschaffen d. Gegenwart, Teil 1, 1929; Kurt Martin, Der Bildhauer Christoph Voll, in: Der Kunstwart 44, 1931, 532–535; AKat. Dt. Bildhauer, Zürich 1937; ThB 34, 1940, 524; Il Realismo in Germania, AKat. Galleria del Levante, Mailand 1971/72, 167, 172; Wilhelm Weber, Der Bildhauer Christoph Voll, 1975; Revolution u. Realismus, AKat. Altes Museum, Berlin 1978; Ernst Germer, Erinnerungen an Christoph Voll, in: Saarheimat 23, Heft 10, 1979; Eugen Frommhold, Christoph Voll, Radierungen u. Holzschnitte, 1981; Christoph Voll, Skulpturen, Aquarelle, Zeichnungen, AKat. Galleria del Levante München 1981; Karl-Ludwig Hofmann/Christmut Präger, Der Bildhauer Christoph Voll, Sein Weg vom „zornigen jungen Mann“ zum beruhigten Beobachter u. Professor, in: Kunst in Karlsruhe 1900–1950, AKat. Staatl. Kunsthalle Karlsruhe/Bad. Kunstverein Karlsruhe 1981, 79–84; German Expressionist Sculpture, AKat. County Museum of Art Los Angeles 1983/84; Gert Reising/Wilfried Rößling, Christoph Voll, Ein Bildhauer zwischen Revolte u. Reaktion, in: JB d. Staatl. Kunstsammlungen in B-W 22, 1985, 112–149; Wilfried Rößling, Künstlergruppen, in: Stilstreit u. Führerprinzip, AKat. Bad. Kunstverein, 1987, 83; Die Bildhauer d. Kunstakad. Karlsruhe von 1864 bis heute, AKat. Staatl. Akad. d. Bildenden Künste Karlsruhe 1989, 44; Siegmar Holsten, Staatl. Kunsthalle Karlsruhe, Die Sammlung d. Moderne, 1993, 89; Anne-Marie Kassay-Friedländer, Der Bildhauer Christoph Voll 1897–1939, Diss. phil. Hamburg 1985, 1994 (mit detaillierter Bibliografie); Anja Eichler/Siegmar Holsten, Staatl. Kunsthalle Karlsruhe, Katalog d. Skulpturen, 1994, 143–147; Dietrich Schubert, Ein Tolstoi d. Holzskulptur, Christoph Voll zum 100. Geburtstag, in JB d. Staatl. Kunstsammlungen Dresden, 27, 1996; Stephan Weber, Christoph Voll, Arbeiten auf Papier, Mit besonderer Berücksichtigung d. Dresdner Zeichnungen u. Druckgrafiken im Kontext ihrer Zeit, 1997; Dietrich Schubert, Holzbildwerke von Christoph Voll, in: Anzeiger des German. Nationalmuseums Nürnberg, 2006; Christoph Voll, Skulptur zwischen Expressionismus u. Realismus, Gerhard-Marcks-Haus Bremen 2007; Clara Reinecke, Christoph Voll, Ein Zeitgenosse von Otto Dix, Neuerwerbungen des Von der Heydt-Museums, in: Die Beste Zeit, Wuppertal 2010, 6–9.
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