Reiner, Hans Paul 

Andere Namensformen:
  • Reiner, Johann Paul
Geburtsdatum/-ort: 19.11.1896;  Waldkirch
Sterbedatum/-ort: 04.09.1991;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie: 1902ff. Volksschule in Waldkirch, Gymnasien in Freiburg, dann in Colmar bis Abitur
1915–1918 Teilnahme am I. Weltkrieg mit Auszeichnungen Eisernes Kreuz II. u. I.. Klasse, Ritterkreuz II. Klasse mit Schwertern des Zähringer Löwenordens
1919–1922 Studium: Philosophie, alte Sprachen, Geschichte, Theologie u. Nationalökonomie in Freiburg im Br. bis Promotion bei Edmund Husserl: „Freiheit, Wollen u. Aktivität. Phänomenologische Untersuchungen in Richtung auf das Problem d. Willensfreiheit“, Nebenfächer Griechisch u. Nationalökonomie; Mitglied d. Freiburger Einwohnerwehr; 1922 weiterführende Studien an d. Univ. München
1924–1927 Mitglied im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
1927–1928 weiterführende Studien, ev. Theologie u. Philosophie, an d. Univ. Marburg
1929 1. Preis d. Kant-Gesellschaft für die Schrift „Die Psychologie des Glaubens“
1931 V 7 Habilitation bei Emil Utitz (1883–1956) an d. Univ. Halle: „Zum Phänomen des Glaubens, dargest. im Hinblick auf seinen metaphysischen Gehalt“
1933 u. 1934 Eintritt in den NSLB am 1. Juni, am 1. Nov. in den Stahlhelm, 1934 in die SA überführt
1937 V 1 Mitglied d. NSDAP, Nr. 4 345 279
1939 VIII 25–1945 V 8 apl. Professor für Philosophie an d. Univ. Halle
1946 Lehrauftrag für Ethik an d. Univ. Freiburg im Br.
1946 IX 8 politische Reinigung: Verbleiben im Dienst unter Kürzung d. Dienstbezüge um 10 Prozent
1948 IX 12 Säuberungsbescheinigung vom 12.Nov. 1948: Mitläufer ohne Sühnemaßnahmen
1951–1956 Gastprofessor für Ethik an d. Univ. Freiburg im Br., am 28. Dez. 1956 Beamter auf Lebenszeit
1957–1965 Lehrstuhl für Ethik an d. Univ. Freiburg im Br. bis Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1931 (Aach) Clara, geb. Thurner
Eltern: Vater: Wilhelm, Brauereidirektor in Colmar
Mutter: Helene, geb. Hensle
Geschwister: Antonie Margaretha (1900–1935)
Kinder: Regelindis Antonia Hildegard, verh. Schamberger (geboren 1943)
GND-ID: GND/11878823X

Biografie: Jörg-Johannes Lechner (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 401-403

Bereits auf dem Gymnasium erwachte Reiners philosophisches Interesse. Das macht verständlich, warum er nach Teilnahme am I. Weltkrieg beim Beginn seines Geschichts- und Philologiestudiums in Freiburg auch bei allen Philosophie-Dozenten Vorlesungen hörte. Eine gegen Husserl und seine Phänomenologie von Joseph Geyser (1869–1948) geführte Polemik überzeugte ihn, dass nicht dessen, sondern Husserls Standpunkt der richtige sei. Daher bat er diesen 1920 um Aufnahme in sein Seminar und erhielt sie ohne die übliche Vorstufe über das damals von Martin Heidegger als Husserls Assistenten geleitete Proseminar. Doch hatte er seit 1919 auch bei Heidegger Vorlesungen gehört, wenn auch z.T. unter heftigem innerem Widerstreben gegen manche seiner Lehren, und ging später auch zu ihm ins Seminar. Bleibender Gewinn wurde ihm seine Einführung in Aristoteles und das damit verbundene Lernen des Interpretierens von Texten überhaupt. Im Sommersemester 1922 hörte Reiner in München die dortigen Phänomenologen Alexander Pfänder (1870–1941), Moritz Geiger (1880–1937) und Dietrich von Hildebrand (1889–1977). Im Wintersemester 1922/23, nach Freiburg zurückgekehrt, vereinbarte er mit Husserl zunächst eine Dissertation über Schuld und blieb ihm und der Vereinbarung treu, als im Herbst 1923 der größte Teil der Freiburger Phänomenologen mit Heidegger nach Marburg zog. Im Sommersemester 1926 promovierte er bei Husserl. Aus der Dissertation über Schuld war eine Phänomenologische Untersuchungen in Richtung auf das Problem der Willensfreiheit geworden unter dem Titel „Freiheit, Wollen und Aktivität“. In Verfolgung seiner religiösen Fragen hatte er auch theologische Vorlesungen bei Engelbert Krebs (1881–1950) und Alfred Wikenhauser (1883–1960) gehört.
Im Sommersemester 1927 zog Reiner nach Marburg, weniger um dort Heidegger weiterzuhören, als um durch evangelisch-theologische Studien zu einer weiteren Klärung seiner persönlichen religiösen Fragen zu gelangen. Drei Semester lang blieb er dort und hörte namentlich neutestamentliche, dogmengeschichtliche und dogmatische Vorlesungen bei Rudolf Bultmann (1884–1976), Hans von Soden (1881–1945), Heinrich Hermelink (1877–1958) und Rudolf Otto (1869–1937). Daneben nahm er auch an Heideggers Seminar und Vorlesungen teil. Dessen damals gerade erschienenes Werk „Sein und Zeit“ beeindruckte ihn indes nun doch ebenfalls stark und ließ gewisse innere Widerstände gegen seine Philosophie verstummen.
Als Reiner 1929 eine Preisaufgabe der Kant-Gesellschaft über „Die Psychologie des Glaubens“ bearbeitete, kam in der Ausarbeitung sein zwischen Husserl, Heidegger und der Theologie gewonnener Standpunkt deutlich zum Ausdruck. 1930 erhielt er mit dieser Schrift in der Kant-Gesellschaft unter 57 Bewerbern den 1. Preis. Mit dieser Arbeit habilitierte er sich dann bei Utitz in Halle, wo er seit 1930 eine Assistentenstelle angenommen hatte, und wurde dort 1939 zum außerplanmäßigen Professor und Beamten auf Widerruf ernannt. In dieser Eigenschaft war er bis zum Kriegsende im Amt.
Als Reiner im Herbst 1941 in Halle gerade mit der Ausarbeitung einer systematischen Ethik begonnen hatte, rief ihn Anfang Dezember ein Vertretungsauftrag für Psychologie und Philosophie nach Freiburg und nahm ihn dort zwei Semester in Anspruch. Diese Gelegenheit benutzte Reiner, um seine bereits in Halle bei Utitz begonnenen charakterologischen Studien auszubauen. Diese brachten ihm wertvolle Klärungen bei der Wiederaufnahme der Ausarbeitung seiner Ethik, die er im August 1941 vom Problem des Verhältnisses von „Pflicht und Neigung“ aus begann. Zugleich spielte dabei eine Auseinandersetzung mit Kant eine wesentliche Rolle, die er vorher mehrere Semester lang in Übungen betrieben hatte. Das im August 1943 fertiggestellte Manuskript wurde in Olmütz in Satz gegeben, gelangte allerdings bis zum Zusammenbruch 1945 nicht mehr zum Druck. 1945 vertrat Reiner in Halle auch die Pädagogik; sein Themenschwerpunkt war Rousseau.
Reiner war 1933 dem NS-Lehrerbund und auch dem Stahlhelm beigetreten, wodurch er 1934 in die SA überführt und seit dem 1. Mai 1937 Mitglied der NSDAP wurde. Zusammen mit seiner Frau in den Listen der Zwangsevakuierten Wissenschaftler und Techniker Mitteldeutschlands beim Deputy Chief of Intelligence EUCOM geführt gehörte er zum Kreis, die im Sommer 1945 auf Anordnung der amerikanischen Besatzungsmacht zwangsweise in Eppertshausen im hessischen Kreis Dieburg evakuiert wurden.
1946 erhielt Reiner einen Lehrauftrag für Ethik an der Universität Freiburg, wo sein Hauptarbeitsgebiet bald die Ethik wurde. Das ihn betreffende Verfahren über die politische Reinigung der Verwaltung endete mit einer Kürzung seiner Dienstbezüge um 10 Prozent. Die Spruchkammer stufte ihn als Mitläufer ohne Sühnemaßnahmen ein. Damit stand seiner Lehrtätigkeit in Freiburg, wo er sich auch als eifriger Altbadener profilierte, nichts mehr im Wege. Er präzisierte auch seinen Standpunkt auf dem Gebiet der Ethik gegenüber Heidegger und versuchte, seine Meinung besonders bezüglich des Wertbegriffs zu konkretisieren, indem er entsprechende Ausführungen in „Pflicht und Neigung“ einarbeitete. Das Werk konnte endlich 1951 erscheinen. In diesem Jahr erhielt Reiner eine Gastprofessur, woraus 1957 seine planmäßige außerordentliche Professur für Ethik in Freiburg erwuchs, die einzige dieser Art in der Bundesrepublik.
In Auseinandersetzung mit Kant begründete Reiner das von ihm entworfene neue phänomenologische System der Ethik in seinem Werk „Pflicht und Neigung“ (1951). In zahlreichen Veröffentlichungen setzte er sich u.a. mit der thomistischen Ethik auseinander, wandte sich auch rechtsphilosophisch- politischen Themen zu und legte 1964 eine neue Begründung des Naturrechts vor. In einem später mehrfach gedruckten Rundfunkvortrag „Der Sinn unseres Daseins“ erweiterte er seine Systematik zu einer philosophischen Lebensanschauung. Werke von Reiner sind in spanischer, japanischer und koreanischer Übersetzung erschienen.
Quellen: StA Freiburg T 1, Nachlass Reiner Hans, F 109/1 Nr. 501, D 180/2 Nr. 205470, Entnazifizierungsakte; UA Freiburg im Br. B 66/18, Personalakte 1944–1957, B 03/860, Personalangelegenheiten, u.a. Fragebogen d. Militärregierung zur Entnazifizierung, Veröffentlichungsliste, Erteilung einer Gastprofessur, B 17/931, Quästurakte 1941–1953, B 42/2186, Promotionsakte 1926, 1976, D 29/35/691, Promotionsurkunde vom 7.10.1927, C 130/608 Korrespondenzen Hans Reiner 1958–1965 (aus Nachlass Erik Wolf ); UA Halle-Wittenberg, PA 12922 Reiner u. Rep. 6 Nr. 1407; Sammlung L. des Verfassers, Studienbücher, Promotions-, Habilitations- u. Ernennungsurkunde zum apl. Professor, Dokument zur Politischen Reinigung vom 8.11.1946, Säuberungsbescheinigung vom 12.9.1948, Bescheinigung vom 29.6.1950 über zwangsevakuierte Wissenschaftler u. Techniker Mitteldeutschlands u. Ernennungsurkunde zum apl. Professor für Philosophie an d. phil. Fakultät d. Univ. Freiburg ausgestellt am 5.1.1957. Auskünfte d. StadtA Waldkirch u. Freiburg im Br. vom Nov 2015 an den Herausgeber.
Werke: Freiheit, Wollen u. Aktivität. Phänomenologische Untersuchungen in Richtung auf das Problem d. Willensfreiheit, Diss. phil. Freiburg 1926, gedr. 1927; Phänomenologische u. menschliche Existenz, 1931; Der Grund d. sittlichen Bindung u. das sittlich Gute. Ein Versuch, das Kantische Sittengesetz auf dem Boden seiner heutigen Gegner zu erneuern, 1932; Das Phänomen des Glaubens, dargestellt in Hinblick auf das Problem seines metaphysischen Gehalts, Habilitationsschrift Halle 1931, gedr. 1934; Die Existenz d. Wissenschaft u. ihre Objektivität. Die Grundfrage d. Universität u. ihrer Erneuerung, 1934; Das Prinzip von Gut u. Böse, 1949 (spanisch 1985); Pflicht u. Neigung. Die Grundlagen d. Sittlichkeit, erörtert u. neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant u. Schiller, 1951 (englisch 1983); Die Ehre. Kritische Sichtung einer abendländischen Lebens- u. Sittlichkeitsform, 1956; Der Sinn unseres Daseins, 1960, 3. Aufl. 1987; Die philosophische Ethik. Ihre Fragen u. Lehren in Geschichte u. Gegenwart, 1964 (niederländisch 1969); Grundlagen, Grundsätze u. Einzelnormen des Naturrechts, 1964 (auch spanisch); Gut u. Böse. Ursprung u. Wesen d. sittlichen Grundunterscheidungen, 1965; Die Grundlagen d. Sittlichkeit, 1974 [erw. Aufl. von Pflicht u. Neigung].
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1936), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 403, UA Halle-Wittenberg, Rep. 40/I, R 7 mit Genehmigung des Archivs. – Hans-Rainer Sepp (Hg.), Edmund Husserl u. die phänomenologische Bewegung, 1988, 284 (Foto um 1925); BZ vom 19.11.1976.; Jörg Johannes Lechner, Martin Heidegger: „Ein Denker in dürftiger Zeit“, Boethiana – Forschungsergebnisse zur Philosophie, Bd. 118, 2015, Umschlagfoto, Reiner gemeinsam mit Martin Heidegger (um 1929).

Literatur: Ethik in Praxis u.Theorie. Der Philosoph Hans Reiner wird heute in Freiburg 80. Jahre alt, in: BZ vom 19.11.1976; Ein Philosoph wird 85, ebd. vom 19.11.1981; Carstens gratuliert, ebd. vom 20.11.1981; Leute in d. Stadt: Professor Hans Reiner, ebd. vom 18.11.1986; Hans Reiner. Pflege des Lebenswerkes, ebd. vom 21.11.1996; Wolfhart Henckmann, Das Problem d. intersubjektiven Geltung von Werten bei Hans Reiner, in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Die Freiburger Phänomenologie, 1996, 141-170; Jörg-Johannes Lechner, Die Bedeutung d. Phänomenologie für die Wertethik Hans Reiners, in: Norbert Huppertz (Hg.), Zu den Sachen selbst, 1997, 73-102; Henrik Eberle, Die Martin-Luther-Universität in d. Zeit des Nationalsozialismus, 2002; Jörg-Johannes Lechner, Ethik u. Pädagogik. Die philosophisch-anthropologische Ethik Hans Reiners u. ihre Bedeutung für eine lebensbezogene Pädagogik, Erziehung – Unterricht – Bildung, Bd. 121, 2005 (434 S.); Norbert Huppertz, Der Brief d. Hl. Edith Stein. Von d. Phänomenologie zur Hermeneutik, 2010 (Analyse eines Briefes der Hl. Edith Stein an Hans Reiner); Stefanie Albus-Kötz, Hans Reiner, 2011 auf: https://www2.landesarchivbw.de/ofs21/olf/einfueh.php?bestand=10431 (eingesehen 6.11.2015); Henrik Eberle, Hans Reiner, auf: http://www.catalogusprofessorum-halensis.de/reinerhans.html (eingesehen 6.11.2015).
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