Reiß, Wilhelm Johann 

Geburtsdatum/-ort: 13.06.1838;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 29.09.1908; Könitz/Thüringen
Beruf/Funktion:
  • Geologe und Forschungsreisender
Kurzbiografie: 1850–1851 Bendersches Institut Weinheim
1851–1855 Höhere Bürgerschule Mannheim, dann kaufmänn. Vorbereitungsschule Antwerpen
1856 viermonatige Studienreise in Italien
1856–1857 Bergwerkspraktikant bei Bernkastel/Mosel
1857–1858 Studien d. Chemie, Physik, Mineralogie, Kristallographie, Paläontologie, Meteorologie u. Geographie in Berlin, SS – WS 1857/1858, u. Bonn, SS 1858
1858–1860 Forschungsreise nach Portugal, Madeira, Azoren u. Teneriffa
1860–1864 Studien an d. Univ. Heidelberg, Polytechn. Schule Karlsruhe, SS 1862, Univ. Gießen, WS 1862/1863, dann wieder Heidelberg bis Promotion zum Dr. phil. u. Habilitation: „Die Diabas- u. Lavenformation d. Insel Palma“
1866 Forschungsreise nach Santorin, Griechenland
1868–1876 große Südamerikaexpedition durch Kolumbien, Ecuador u. Peru
1877–1892 Privatgelehrter in Berlin
1885–1887 Vorsitzender d. Gesellschaft für Erdkunde
1888 Vorsitzender d. Gesellschaft für Anthropologie
1891–1892 Vorsitzender d. Gesellschaft für Erdkunde
1892–1908 Alterssitz auf Schloss Könitz bei Saalfeld/Thüringen
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Orden und Auszeichnungen: Ritterkreuz vom Orden des Zähringer Löwen I. Klasse (1879), mit Eichenlaub (1887); Preuß. Roter-Adler-Orden III. Klasse (1879); Preuß. Geheimer Regierungsrat (1892)
Verheiratet: 1883 (Mannheim) Emilie Franciena, geb. Wiederhold, gesch. Kuipers (* 1845)
Eltern: Vater: Gustav Friedrich (1802–1881), Großkaufmann, Oberbürgermeister von Mannheim 1849–1852
Mutter: Wilhelmine Friederike, geb. Reinhardt (1809–1868)
Geschwister: Anna (vgl. S. 313) u. Carl Friedrich (vgl. S. 314)
Kinder: keine
GND-ID: GND/118810332

Biografie: Susanne Vogt (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 319-322

Reiß war das zweite der drei Kinder des Großkaufmanns und ehemaligen Mannheimer Oberbürgermeisters. Für den wohl eher dominanten Vater stand eigentlich fest, dass der älteste Sohn in seine Fußstapfen treten sollte. Die Auseinandersetzung mit dem Vater über die Frage der Berufswahl prägte dann auch Reißens junges Erwachsenenalter maßgeblich. Aus Briefen an seinen Vater geht hervor, dass dieser seinen Sohn finanziell recht kurz hielt, selbst als er bereits seine späteren Studien aufgenommen und seine Berufswahl längst getroffen hatte. Als der Vater das Oberbürgermeisteramt übernahm, wurde Reiß 1850 im Benderschen Institut in Weinheim aufgenommen, im folgenden Jahr jedoch bereits in die höhere Bürgerschule in Mannheim geschickt, die er bis zum Abschluss der Klasse 6 im Jahr 1855 besuchte. Im Juli und August 1855 ging er dann in die Handelshochschule in Antwerpen, die dem jungen Mann nach dem Willen des Vaters eine kaufmännische Karriere ebnen sollte, fand aber, „dass die Theorien des Handels schauderhaft langweilig sind“.
Um seine immer wieder auftretende Augenentzündung auszukurieren, begab er sich 1856 in Begleitung seines Freundes, des Malers Louis Coblitz (1814–1863), auf eine viermonatige Studienreise nach Italien. Hier entdeckte Reiß seine Neigung zur Mineralogie und Vulkanologie. Spätestens nach einem Aufenthalt als Praktikant in einem Bergwerk bei Bernkastel an der Mosel bis zum Januar 1857 stand für ihn fest, dass er nicht die vom Vater gewünschte Berufswahl treffen, sondern seiner Leidenschaft für die Naturwissenschaften folgen würde. Reiß studierte Chemie, Physik, Mineralogie, Kristallographie, Paläontologie, Meteorologie und Geographie in Berlin, Bonn, Karlsruhe, Gießen und Heidelberg. Dort wurde er 1864 in den Fächern Geologie, Chemie und Physik aufgrund einer mündlichen Prüfung zum Dr. phil. promoviert – die Verselbständigung der Naturwissenschaftlich-Mathematischen Fakultät erfolgte erst 1890! – und noch im gleichen Jahr mit der bereits 1861 erschienenen Schrift „Die Diabas- u. Lavenformation d. Insel Palma“ zum Privatdozenten habilitiert.
Reine Lehrtätigkeit stellte für Reiß keine echte Herausforderung dar. Sein Metier waren Forschungsreisen, die ihn bereits zwischen 1859 und 1860 nach Portugal, auf die Azoren, nach Madeira und auf die Kanarischen Inseln geführt hatten sowie 1866 zusammen mit Karl von Fritsch (1838–1906) und Moritz Alphons Stübel (1835–1904) nach Santorin. Nun folgte 1868 bis 1876 eine umfangreiche und sehr ergiebige Expedition durch Kolumbien, Ecuador und Peru. Zusammen mit dem Geologen Stübel gelang es Reiß, Messungen durchzuführen und Gesteinsproben zu entnehmen, die sehr bald die bisherige Vulkantheorie maßgeblich beeinflussen sollten. Von dieser Reise brachte Reiß u. a. über 800 Fotografien mit nach Mannheim, Bilder, die er professionellen Fotografen abgekauft hatte.
Am 28. November 1872 bestieg Reiß als erster Europäer den 6000 m hohen Vulkan Cotopaxi in der Ostkordillere von Ecuador. Als einzige Begleitung folgten ihm sein Diener und sein Hund. Über diese Vulkanbesteigung liegt eine handschriftliche Übersetzung seines Berichts an den Präsidenten von Ecuador im Faksimile in den Reiß-Engelhorn-Museen vor. Die Beschwerlichkeit der Tour kann daraus nur erahnt werden: Schlechte Witterungsverhältnisse, dünne Luft, entkräftete Träger und Diener, die auf den letzten tausend Metern zurückblieben, sowie eine kurz vor dem Ziel zugezogene Verletzung, die fast dem Erfolg des Unternehmens vereitelt hätte.
Im April 1876 zurück in Deutschland forderten die jahrelangen Strapazen und Forschungen in Südamerika unter primitiven Bedingungen ihren Tribut. Schon als junger Mann augenleidend und durchaus auch hypochondrisch veranlagt, war seine Gesundheit nun schwer beeinträchtigt. So verbrachte er die Jahre bis 1892 als Privatgelehrter in Berlin, immerzu beschäftigt mit seinen Aufzeichnungen und Forschungen an seinen Gesteinssammlungen, dem Publizieren seiner Forschungsergebnisse und seiner Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen und Gesellschaften.
Reiß wurde nach Beendigung seiner Expedition mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Als Vorsitzender leitete er von 1885 bis 1887 die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und 1888 die Gesellschaft für Anthropologie. Noch zu Lebzeiten wurde er im Brockhaus von 1903 aufgeführt. Zusammen mit seiner Frau unternahm er 1888 eine letzte größere Reise nach Italien, Ägypten, Griechenland und in die Türkei. Trotz seines Ruhmes zog sich Reiß im letzten Lebensjahrzehnt zurück. Nach anfänglicher Fortführung der Zusammenarbeit mit Stübel entfremdeten sich beide, zumal Stübel eine von Reiß nicht akzeptierte eigene Vulkantheorie aufstellte. Ab 1898 arbeitete jeder für sich. Wie tief der Riss war, zeigt sich etwa in Stübels letztem Willen, die erhaltenen Briefe von Reiß zu vernichten. Reiß selbst litt immer mehr unter dem Unvermögen, die Fülle seiner Forschungsergebnisse in geordnete Bahnen zu lenken. Längst waren nicht alle Untersuchungsgebiete ausgewertet, was ihm auch nicht mehr gelingen sollte. Bereits zusammen mit Stübel hatte er sieben Jahre gebraucht, um das Prachtwerk „Das Totenfeld von Ancon in Perú“ zu veröffentlichen, allein auf sich gestellt gelang ihm kein speditives Arbeiten mehr: Was während der Expedition als schnelles Festhalten eines Eindrucks ins Tagebuch eingetragen wurde, erwies sich Jahre später einfach nicht mehr als nachvollziehbar. Desillusioniert schrieb Reiß an den Geographen und Forschungsreisenden Hans Meyer (1858–1929): „Ich bringe nichts mehr fertig und lese nur noch Vulkanologisches und Philosophie.“
Zum Alterssitz wurde ab 1892 Schloss Könitz in Thüringen, wo er am 29. September 1908 bei einem Jagdausflug ums Leben kam.
Anlässlich des Erscheinens einer Festschrift zum XX. Deutschen Geographentag wertete Karl Heinz Dietzel Reisebriefe und Tagebücher aus dem Nachlass Reiß‘ aus, die Zeugnis über die große Südamerika-Expedition geben. Da er die persönlichen Passagen aber nicht aufnahm, wird die Persönlichkeit Reiß‘ daraus nur schwer fassbar.
Im Gegensatz zu seinen mit ihren Stiftungen und als Ehrenbürger in der Stadt Mannheim sehr prominenten Geschwistern ist weder eine Straße, geschweige denn ein Museum nach Reiß benannt. Einzig in der Völkerkundlichen Sammlung der Reiß-Engelhorn-Museen erinnern drei Gemälde Troyas, nach Zeichnungen von Reiß, sowie die erwähnten Faksimile-Drucke an einen zwar zu Lebzeiten hochgeehrten Forscher, einen im Alter jedoch letztlich vom seinem eigenen Lebenswerk überforderten Menschen. So besteht ein Gutteil von Reißens eigentlichem Vermächtnis in den von ihm auf seinen Forschungsreisen gesammelten Reisefotografien.
Zusammen mit den Aufnahmen aus den Nachlässen seiner beiden Geschwister besitzt das Forum Internationale Fotografie an den Reiß-Engelhorn-Museen in Mannheim ein bedeutendes Konvolut von ca. 10 000 Aufnahmen, welche einen repäsentativen Querschnitt durch die Reisefotographie der zweiten Hälfte des 19. Jh.s bietet.
Quellen: UA Heidelberg H-IV-102/62, Dissertation, u. PA 2138, Habilitation; StadtA Mannheim, Zeitgeschichtl. Sammlung S 1/1217 u. Nachlass Wilhelm Reiß, Zug. -/1924 [sic]; Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig K 134/1–69, Nachlass Wilhelm Reiß.
Werke: Die Diabas- u. Lavenformation d. Insel Palma, 1861; (mit H. G. Bronn), Mitteilungen über die tertiären Schichten von Santa Maria, d. südlichsten [Insel] d. Azoren, u. ihre organischen Einschüsse, in: Neues Jb. für Mineralogie 1862, 1–48; (mit A. Stübel) Ausflug nach den vulkanischen Gebirgen von Aegina u. Methana im Jahre 1866 nebst mineralogischen Beiträgen von K. v. Fritsch, 1867; (mit K. v. Fritsch u. G. Hartung) Tenerife, geologisch topographisch dargestellt, 1867; (mit A. Stübel) Santorin. Die Kaimeni-Inseln, 1867; (mit A. Stübel), Geschichte u. Beschreibung d. vulkan. Ausbrüche bei Santorin von d. ältesten Zeit bis auf die Gegenwart, 1869. (XII, 201 S.), (mit K. v. Fritsch) Geologische Beschreibung d. Insel Tenerife, 1868; (mit A. Stübel) Alturas principales tomadas en la República del Ecuador en los años de 1870 y 1871, 1871; (mit A. Stübel, zusammengest. von Prof. Meinicke) Vergleichende Höhenmessungen in den Republiken Colombia u. Ecuador. 12. Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dresden, 1875; (mit A. Stübel) Alturas tomadas en la República de Colombia en los años de 1868 y 1869, 1872 (29 S.); Alturas tomadas en la República del Ecuador, en los años de 1871, 1872 y 1873, 1873 (46 S.); Carta á S. E. el presidente de la república sobre sus viajes á las montanas Iliniza y Corazon y en especial sobre su ascension al Cotopaxi, 1873 (18 S.); Carta á S. E. el presidente de la república sobre sus viajes á las montanas del sur de la capital, 1873 (22 S); Besteigung des Cotopaxi, in: Zs. d. Gesellschaft für Erdkunde Berlin 3. Band, 1873, 240–249 u. 297–310; Über eine Reise nach den Gebirgen des Iliniza u. Corazon u. im Besonderen über eine Besteigung des Cotopaxi, in: Zs. d. dt geologischen Gesellschaft, 1873, 71–95; Bericht über eine Reise nach dem Quilotoa u. dem Cerro hermoso in den ecuadorischen Cordilleren, aus dem Spanischen übersetzt von G. vom Rath, ebd. 1875, 274–294; Über seine Reisen in Südamerika, in: Verhandlungen d. Ges. für Erdkunde Berlin, 1877, 122–136; (mit A. Stübel) Das Todtenfeld von Ancon in Perú. Ein Beitrag zur Kultur u. Industrie des Inca-Reiches, 3 Bde., groß Folio, 1880–1887 (englisch: The Necropolis of Ancon in Peru); Ein Besuch bei den Jivaros-Indianern, in: Verhandlungen d. Gesellschaft für Erdkunde Berlin, 1880, Extra-Nummer (13 S.); Sinken die Anden?, ebd. Nr. 1, 45–56; Bericht über den 4. internationalen Amerikanisten – Congress u. die damit verbundene Ausstellung in Madrid (vom September 1881), in: Verhandlungen d. Gesellschaft für Erdkunde Berlin, 1882, 51–60; Die geologischen Verhältnisse d. Fundstellen fossiler Säugetier-Knochen in Ecuador, in: W. Branco, Über eine fossile Säugetierfauna von Punin bei Riobamba in Ecuador. Paläontologische Abhandll. Bd. 1. Heft 2, 1883 (18 S. Quart); (mit A. Stübel) Indianer-Typen aus Ecuador u. Colombia. 28 Lichtdruck-Bilder, 1888; (mit A. Stübel) Reisen in Süd-Amerika, 1890–1902; Funde aus d. Steinzeit Ägyptens, in: Verhandlung d. Berliner anthropolog. Gesellschaft vom 16. 11. 1889, 1890, 700–712; (mit E. Elich) Ecquador 1870–1874. Petrograph. Untersuchungen, ausgeführt im mineralogisch-petrograph. Institut d. Univ. Berlin, Heft 1, 1901; Ist d. Untergang d. kleinen Antillen zu befürchten?, in: Magdeburg. Ztg. vom 12.6.1902; Über den Zweck d. Naturerscheinungen, in: Centralbl. für Mineralogie, Geologie u. Paläontologie, 1906, 189–191; Karl Heinrich Dietzel (Hg.), Wilhelm Reiß‘ Reisebriefe aus Südamerika 1868–1876. FS zum XX. Dt. Geographentag in Leipzig, 1921 (vgl. Literatur).
Nachweis: Bildnachweise: StadtA Mannheim – ISG, Bildsammlung, Meyer, 1911 u. Waller, 1988 (vgl. Literatur).

Literatur: Reiß, Wilhelm in: Brockhaus Konversationslexikon Bd. 3, 14. Aufl. 1903, 755; Hans Meyer, Wilhelm Reiß, Sonderdr. aus: Mitteilungen d. Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig über das Jahr 1910, 1911, 47–96; Karl Heinrich Dietzel (Hg.), Wilhelm Reiß‘ Reisebriefe aus Südamerika 1868–1876. FS zum XX. Dt. Geographentag in Leipzig, 1921; Franz Waller, Wilhelm Reiß. Photographien von seiner Reise durch Südamerika 1868–1876, 1988; ders., Die Sammlung historischer Fotografien Wilhelm Reiß in den Reiß-Engelhorn-Museen Mannheim, in: Zu den Ufern des Nil, 2005, 16–19.
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