Kienle, Else Ida Pauline 

Geburtsdatum/-ort: 26.02.1900;  Heidenheim
Sterbedatum/-ort: 19.07.1970; New York
Beruf/Funktion:
  • Ärztin, Gegnerin des § 218
Kurzbiografie: 1918 Abitur am Georgii-Gymnasium Esslingen
1918–1924 Medizinstudium an den Univ. Tübingen, Kiel u. Heidelberg mit Staatsexamen u. Promotion: „Ein Fall von Melanosarkom d. Aderhaut mit Perforation nach außen“
1924 Assistenzärztin am Stuttgarter Katharinenhospital
1928 Eröffnung einer Praxis mit Krankenstation in Stuttgart; Leitung d. Stuttgarter Beratungsstelle für Geburtenregelung u. Sozialhygiene
1931 Verhaftung wegen unerlaubter Schwangerschaftsabbrüche; Einsatz für die Abschaffung des § 218
1932 Buchveröffentlichung „Frauen – Aus dem Tagebuch einer Ärztin“; 1932 über Frankreich in die USA
1935 Eröffnung einer Praxis für Wiederherstellungschirurgie in New York
1968 Autobiographie „Mit Skalpell u. Nadel“
2016 Eröffnung der Else-Kienle-Staffel
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1929 (Stuttgart) Stefan Jakobowitz (1886–1946), Inhaber d. Württ. Privatbank AG;
II. 1932 George LaRoe, Europavertreter d. Socony Oil Company;
III. 1937 (USA) Ernest C. Gierding, Zahnarzt;
IV. 1950 (USA) Wesley L. Robertson, Sänger (gestorben 1968)
Eltern: Vater: Otto Konrad (1872–1946), Realschullehrer, Studienrat
Mutter: Elisabeth, geb. Zeller (1873–1944)
Geschwister: Otto (1906–1997), Dr. iur., Rechtsanwalt, Landespolizeidirektor, Ministerialdirigent im Innenministerium Baden-Württemberg
GND-ID: GND/118890476

Biografie: Jörg Schweigard (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 245-248

Kienle kam in Heidenheim als älteste Tochter eines Realschullehrers zur Welt. Nach dem Besuch der hiesigen höheren Töchterschule ging sie – bedingt durch die Versetzung des Vaters – in Niederstetten in die Realschule und anschließend ins Progymnasium in Bad Mergentheim, wo sie bei einem Kollegen des Vaters in Pension lebte und nur an den Wochenenden nach Hause kam. Als ihr Vater 1916 zum Studienrat befördert wurde, zog sie mit den Eltern nach Esslingen und besuchte als einziges Mädchen das Georgii-Gymnasium, wo sie 1918 als Jahrgangsbeste das Abitur bestand.
Früh interessierte sich Kienle für die Medizin. Unter ihren mütterlichen Vorfahren befanden sich mehrere Mediziner. Der bekannteste war Urgroßvater Ernst Albert Zeller (1804–1877), Direktor von Winnenthal, der ersten psychiatrischen Anstalt Württembergs.
Kienle verkörperte früh den Typus der selbstbewussten Frau. Als ihr autoritärer Vater ihren Wunsch verwarf, Medizin zu studieren, setzte sie sich mit der moralischen und finanziellen Unterstützung ihrer Großmutter durch. Im Oktober 1918 begann ihr Studium in Tübingen, und als ihr Bruder Otto an einer Ablösung der Netzhaut erkrankte, verlegte sie sich auf Augenheilkunde. Nach der medizinischen Vorprüfung im März 1921 wechselte sie für die klinischen Studien für zwei Semester nach Kiel und schließlich nach Heidelberg, wo sie Ende 1923 das Staatsexamen ablegte und 1924 promoviert wurde. Als Frau hatte sie in der Universität kaum Chancen, auch die von ihr bevorzugte Chirurgie blieb ihr weitgehend verschlossen. So wandte sie sich der Dermatologie zu. Nach Praktika an Stuttgarter Krankenhäusern wurde sie Assistenzärztin auf der geschlossenen Abteilung für Geschlechtskrankheiten am Stuttgarter Katharinenhospital. Hier behandelte sie Prostituierte und lernte nicht nur deren körperliche Gebrechen, sondern auch ihre seelischen Leiden kennen, machte Erfahrungen, die sie prägen sollten.
Im Frühjahr 1928 lernte sie den Inhaber der Württembergischen Privatbank Stefan Jakobowitz kennen und heiratete 1929. Der freigeistige Bankier stand der linksliberalen DDP nahe, die Trauung fand in einer Freimaurerloge statt. Mithilfe ihres Mannes eröffnete Kienle eine Praxis mit angeschlossener kleiner Krankenstation, in der sie kleine Operationen z. B. entstellender Unfall- oder Kriegsnarben durchführte. Daneben leitete sie die einzige, kostenlose Beratungsstelle des „Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene“ in Stuttgart.
Der befreundete Stuttgarter Schriftsteller und Arzt Friedrich Wolf (1888–1953) sowie weitere Stuttgarter Ärzte überwiesen Frauen aus medizinisch- sozialen Gründen zum Schwangerschaftsabbruch auf die Station Kienles. Sie nahm illegal Abtreibungen vor, um anstelle eines „Kurpfuschers“ in Not geratenen Frauen zu helfen. Aufgrund der Erfahrungen in ihrer ärztlichen Praxis bekannte sich Kienle zum sozial bedingten Schwangerschaftsabbruch, was rechtlich durch den § 218 geahndet wurde; sie setzte sich öffentlich für dessen Aufhebung ein. In der Berliner „Weltbühne“ Carl von Ossietzkys legte sie 1931 ihre Motive zum Schwangerschaftsabbruch dar: „Ich bin genau wie Friedrich Wolf und wie jeder fühlende Mensch Gegner der sogenannten Abtreibung, hingegen Anhänger der Geburtenregelung. […] Wo vier Menschen ein einziges Bett zum Schlafen haben und denen eine seltene Feststunde der Tag bedeutet, an dem sie alle zusammen sich für dreißig Pfennig Schinkenwurst leisten können, da hat eben ein fünftes Lebewesen keine Existenzberechtigung mehr“ (zit. nach Riepl-Schmidt, 1989, S. 163f.).
In ihrem Buch „Frauen – Aus dem Tagebuch einer Ärztin“ (1932) schilderte Kienle die durch gesellschaftliche Scheinmoral und den § 218 verschärfte Zwangslage ihrer Patientinnen, die nicht nur aus dem Arbeitermilieu stammten. Die „Befreiung der Frau“ sah sie an einer Rechtsprechung scheitern, die das Primat des Mannes verteidigte: „Die Gültigkeit dieses Gesetzes, das in vielen seiner Bestimmungen die Existenz zweier Menschenklassen festlegte, […] verewigte die Unterlegenheit des schwächeren Geschlechts.“ (Else Kienle, 1989, S. 151). Dabei sah Kienle im Milieu der Arbeiter eine aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit geborene größere Akzeptanz gegenüber den Frauen als in den bürgerlichen Klassen.
Im in der Weimarer Republik umstrittenen § 218 erkannte Kienle ein Instrument zur Unterdrückung der Frau, die zur Rolle als Mutter gezwungen werden sollte, und als 1929 im Reichstag über ein neues Strafgesetzbuch beraten wurde, formierte sich der Protest. Am 6. September 1929 wurde in Berlin Friedrich Wolfs Theaterstück „Cyankali“ uraufgeführt, das die Begleitumstände einer Abtreibung thematisierte. Der Premiere folgten bis zum Januar 1930 über 100 Aufführungen. Danach ging das Ensemble auf Deutschland-Tournee und jedem Auftritt folgte die laute mediale Begleitmusik der Gegner und Befürworter des Paragrafen. Vor diesem Hintergrund wurden Kienle und Friedrich Wolf am 19. Februar 1931 von einem Kollegen wegen unerlaubter Schwangerschaftsabbrüche in Stuttgart denunziert und verhaftet. Der Vorgang spaltete das Land in zwei Lager. Die Untersuchung erstreckte sich auf 210 Fälle. Viele Patientinnen Kienles gerieten dadurch in erhebliche Nöte. Ein „Kampfausschuss gegen den § 218 und für die Verteidigung Dr. Friedrich Wolfs und Frau Dr. Kienles“ bildete sich; die KPD forderte ihre Freilassung. Während Wolf nach eineinhalb Wochen freikam, blieb Kienle einen Monat und zehn Tage in Haft. Nach zahlreichen Vernehmungen trat sie in Hungerstreik: „Es hätte mir mehr gelegen, mit sachlichen Mitteln zu kämpfen, […] besonders aber das Gefühl, hier eine Mission zu erfüllen, ließ mich das demonstrative Mittel des Hungerstreiks wählen.“ (1989, S. 162).
Sieben Tage später und nach einem wirkungsvoll verfassten Testament, wurde sie wegen Haftunfähigkeit freigelassen. Friedrich Wolf beschrieb den Proteststurm, den die Verhaftungen der beiden ausgelöst hatte, in einem Artikel: „Noch nie hat Stuttgart solche Erregung erlebt, wie in den letzten Wochen, überfüllte Massenversammlungen […] Empörung bis weit ins Bürgertum“ (zit. nach: Steinecke, 1992, S. 105). Der Stuttgarter Polizeipräsident verhängte ein Versammlungsverbot. In der Liederhalle fand eine Solidaritätskundgebung statt, die eine Stunde vor Beginn wegen Überfüllung polizeilich geschlossen werden musste. Zwei gleichzeitig stattfindende Veranstaltungen waren ausverkauft. Bekanntester Vertreter der Stuttgarter Proteste war der führende württembergische Sozialdemokrat Kurt Schumacher.
In Freiheit setzten sich Kienle und Friedrich Wolf weiter für die Abschaffung des § 218 ein. Im April 1931 sprachen sie im Berliner Sportpalast vor über 100 000 Menschen. Im Mai wurden beide von Ärzte- und Schriftstellerorganisationen in die Sowjetunion eingeladen. Trotz ihrer Freilassung drohten Kienle weitere juristische Verfolgungen. Selbst ihr Bruder Otto hatte als Referendar am Stuttgarter Gericht Nachteile hinzunehmen. Kienle verließ Stuttgart und eröffnete noch 1931 in Frankfurt am Main eine Praxis, in der sie weiterhin Schwangerschaftsabbrüche durchführte. Im Lauf des Jahres 1932 trennte sie sich von Stefan Jakobowitz, mit dem sie jedoch zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Im Herbst 1932 erhielt Kienle einen Hinweis, dass sie mit einer erneuten Verhaftung zu rechnen habe. Sie löste darauf ihre Praxis auf und reiste mit wenig Geld über das Saarland nach Frankreich. Im Januar 1933 wurde das Verfahren gegen Kienle und Friedrich Wolf vorläufig eingestellt; während der NS-Zeit wurden beide wieder steckbrieflich gesucht.
In Südfrankreich lernte Kienle den Amerikaner George Henry LaRoe kennen, den sie noch 1932 heiratete. Durch die Bindung mit dem wohlhabenden Amerikaner konnte Kienle Europa verlassen und sich in New York eine neue Existenz aufbauen. Ihre Eltern sah Kienle nur noch bei Treffen in der Schweiz. Beide starben kurz vor und nach dem II. Weltkrieg. Ihr Bruder Otto blieb im NS-Deutschland, wo er gleich nach der „Machtergreifung“ für seine abwesende Schwester in „Sippenhaft“ genommen wurde. Die Geschwister begegneten sich bis Kriegsbeginn wiederholt bei Kienles Reisen in die Schweiz und nach Frankreich. Dort traf Kienle auch ihren früheren Mann Stefan Jakobowitz, der verarmt vor den Nationalsozialisten geflohen war. Sie versuchte ihn vergeblich zur Übersiedlung in die Vereinigten Staaten zu bewegen. Erst nach Kriegsbeginn entschloss er sich, Ende 1940 zusammen mit dem Ehepaar Werfel nach Amerika auszuwandern. Franz Werfels Bühnenstück „Jacobowsky und der Oberst“, das in Amerika Erfolge am Broadway feierte, griff Motive der abenteuerlichen Flucht Jakobowitz’ auf.
Kienle verbesserte in den Vereinigten Staaten ihre Englischkenntnisse und bewarb sich um das amerikanische Arztdiplom und die Zulassung als Ärztin. Zwischenzeitlich arbeitete sie in einem Schönheitsinstitut, wobei sie ihre Kenntnisse als Hautärztin einbrachte. Als sie 1935 die Genehmigung zur Niederlassung als Ärztin hatte, eröffnete sie in der Park Avenue eine Praxis für Wiederherstellungschirurgie. Durch Kontakte zu dem Schweizer Paul Niehans (1882–1971), den sie in Vevey besuchte, lernte sie Erkenntnisse der Frischzellenforschung kennen, die sie in ihrer Praxis anwandte.
Gesellschaftlich etabliert hatte Kienle privat weniger Glück. Sie verließ ihrem zweiten, alkoholkranken Ehemann und heiratete 1937 den Zahnarzt Dr. Ernest C. Gierding, von dem sie sich jedoch nach kurzer Zeit auch wieder trennte. Erst ihre Heirat 1950 mit dem Konzertsänger und Modezeichner Wesley L. Robertson führte zu einer dauerhaften, glücklichen Ehe. Kienle schrieb 1957 ihr zweites Buch mit dem Titel „Woman Surgeon – The Autobiography of Else Kienle La Roe“, das 1968 in Deutschland unter dem Titel „Mit Skalpell und Nadel“ erschien. In der romanhaften, zwischen Fiktion und Realität springenden Autobiografie beschrieb sie die Stationen ihres abenteuerlichen Lebens. Nach Deutschland kam sie nur noch besuchsweise. Erst in jüngster Zeit erinnerte man sich in Stuttgart wieder an die Frauenrechtlerin Kienle. Der Bezirksbeirat Stuttgart-Ost stimmte im September 2015 zu, die Staffel zwischen Landhausstraße und Stöckachplatz nach ihr zu benennen.
Kienle starb im Alter von 70 Jahren. Wie ihr indianischstämmiger Mann ließ sie sich einäschern und wurde in dessen Heimat Oklahoma beigesetzt.
Quellen: HStA Stuttgart J 191, La Roe, Else, geb. Kienle, Zeitungsausschnittsammlung; PrivatA Mascha Riepl-Schmidt, Stuttgart, Kopie d. Sterbeurkunde von Kienle.
Werke: Der Fall Kienle, in: Die Weltbühne, Ausgabe 15 vom 14. April 1931, 535-539; Else Kienle, Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin, 1932 (Nachdruck 1989); Else Kienle-LaRoe, Woman Surgeon, 1957, deutsch: Mit Skalpell und Nadel, 1968.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (um 1930), in Baden-Württembergische Biographien 6, S. 248, PrivatA Mascha Riepl-Schmidt, Stuttgart. – Steinecke, 1992, 7.

Literatur: Anton Kaes, Martin Jay, Edward Dimendberg, The Weimar Republic Sourcebook. 1994, 213ff; Atina Grossmann: Reforming Sex: the German movement for birth control and abortion reform 1920–1950, 1995; Ingrid Zwerenz, Frauen. Die Geschichte des § 218, 1980; Marielouise Janssen-Jurreit (Hg.), Frauen u. Sexualmoral, 1986; Georg Kubik, Gegen § 218. Zwei Stuttgarter Ärzte in d. Weimarer Republik, 1993; Paul Weindling, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism 1870–1945, 1989, 459ff; Maja Riepl-Schmidt, Else Kienle, in: Else Kienle, Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin, 1989, 157-171; Verena Steinecke, Ich musste zuerst Rebellin werden. Trotz Bedrohung u. Gefahr – das gute u. wunderbare Leben d. Ärztin Else Kienle, 1992; Maja Riepl-Schmidt, Else Kienle (1900–1970). Die Verteidigung d. Frauen gegen das Gesetz u. das Gericht d. Männer, in: Birgit Knorr, Rosemarie Wehling (Hgg.), Frauen im deutschen Südwesten, 1993, 269-274; Maja Riepl-Schmidt, Wider das verkochte u. verbügelte Leben. Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800, 1998; Katja Patzel-Matern, Das „Gesetz d. Frauenwürde“, in: Anke Väth, (Hg.), Bad Girls: unangepasste Frauen von d. Antike bis heute, 2003, 177-200; Jörg Schweigard, Stuttgart in den Roaring Twenties, 2012; Gabriele Katz, Else Kienle, in: dies., Stuttgarts starke Frauen, 2015, 142-154.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)