Geißmar, Berta 

Geburtsdatum/-ort: 14.09.1892;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 03.11.1949; London
Beruf/Funktion:
  • Mitarbeiterin Wilhelm Furtwänglers und Sir Thomas Beechams, Verfolgte des NS-Systems
Kurzbiografie: 1910-1914 Stud. phil. an der Universität Heidelberg (Philosophie, Kunstgeschichte, Psychologie, Archäologie)
1914-1918 Arzthelferin im Hospital der Firma Lanz, Mannheim
1918-1920 Vorstandsmitglied im Konzertverein Mannheim, Abschlußarbeiten an der Dissertation („Kunst und Wissenschaft als Mittel der Welterfassung“)
1920 Umsiedlung nach Frankfurt, Dr. phil. an der dortigen Universität
1921-1934 Sekretärin Furtwänglers in Berlin, nebenamtlich Vorstandsmitglied im „Verband der konzertierenden Künstler“
1936 Emigration nach New York – kurzzeitig – und London
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev. (jüd. Abkunft)
Eltern: Vater: Leopold Geißmar, Rechtsanwalt (1863-1918)
Mutter: Anna, geb. Hirsch (1868-1961)
Geschwister: 1
GND-ID: GND/118891758

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 87-90

Geißmar entstammt einer der großbürgerlichen Familien des längst assimilierten Judentums in Mannheim, in denen die Kenntnis von Literatur, Philosophie und Sprachen ebenso selbstverständlich war wie die künstlerischen Aktivitäten und die Teilnahme am öffentlichen Leben der Stadt. Im Leben der Familie Geißmar stand die Musik im Mittelpunkt. Der Vater Geißmar, ein erfolgreicher Anwalt, der Beruf und Muße im Alltag streng trennte, spielte jahrzehntelang in einem von ihm gegründeten Streichquartett Geige und Bratsche in einem Dilettantismus weit übersteigenden Maß. Geißmar hörte von früher Kindheit an bei den Quartettabenden zu und erschloß sich so die Schätze der Kammermusik als festen Besitz. Ein vom Vater gegründeter Konzertverein veranstaltete Kammermusikkonzerte; die Proben fanden im Elternhaus Geißmars statt, und nach den Konzerten kamen die Künstler dort zusammen. „Ein Elternhaus solcher Art gibt etwas mit auf den Lebensweg, das stark und unabhängig macht“ (Geißmar). Was Leopold Geißmar, ein weithin bekannter Kenner und Sammler von Instrumenten, für seine Kunst zu investieren bereit war, zeigt der Erwerb (1900) einer Stradivari-Geige – auch ein Zeichen für die Vermögensverhältnisse der Familie. – Geißmar gelang es, bei ihrer Emigration im Jahre 1936 das wertvolle Instrument mitzuführen. Die Geige überstand den Krieg.
Daß Geißmar im Jahre 1910 das Abitur bestand, war ihr nicht wichtig genug, es in ihren Lebenserinnerungen (siehe Werke) zu erwähnen. Der Vater hätte gewünscht, daß sie, die vorzüglich Geige spielte, Musikerin geworden wäre; aber die Tochter entschied sich für Philosophie und war 1910 die einzige Studentin an der Universität Heidelberg mit diesem Fach als Hauptfach. Während des Studiums wurde sie in den Ferien nach England geschickt – „meine Eltern fürchteten, daß ich mich sonst zu sehr zu einem Blaustrumpf entwickeln würde“ – und sammelte auf der später rettenden Insel erstmalige und lebensbestimmende Eindrücke von der Unabhängigkeit und Unbekümmertheit der Bewohner.
Bei Kriegsausbruch stellten sich Geißmar und ihre Mutter sofort als Arzthelferinnen in Lazaretten zur Verfügung. Die philosophischen Studien, vor allem die Arbeit an der ihr von Wilhelm Windelband, dem hochverehrten Meister, übertragenen Dissertation, konnten so nur ganz eingeschränkt fortgeführt werden.
Zwei in das Leben Geißmars tief einschneidende Ereignisse traten während des Krieges ein: 1915 wurde der 29jährige Wilhelm Furtwängler Erster Dirigent der Mannheimer Oper und Leiter der städtischen Konzerte. Ihm wurde sie zwei Jahrzehnte lang uneigennützigste Helferin und treueste Freundin. Tief erschüttert wurde Geißmar durch den Tod ihres geliebten Vaters im Jahre 1918; Furtwängler half ihr über den Verlust hinweg. „Sein Zuspruch flößte mir Mut ein und gab mir das Selbstvertrauen wieder“ (Geißmar).
Windelbands Nachfolger, Heinrich Rickert, befand die ihm vorgelegte Dissertation Geißmars als „zu selbständig“ und schlug ihr vor, sie während eines weiteren Studienjahres umzuarbeiten. Sie glaubte jedoch, ausstudiert zu haben, und reichte ihre Arbeit kurz entschlossen an der Universität Frankfurt ein, die sie sofort annahm. Auch das Rigorosum bestand sie dort.
1921 schlug ihr Furtwängler vor, in seine Dienste zu treten. Von dieser Zeit an datiert ihre enge Zusammenarbeit mit dem Dirigenten, in der sie ihm, der im Jahre 1922 die Leitung der Berliner Philharmoniker übernahm, alle organisatorischen und bürokratischen Hindernisse aus dem Weg räumte; sie plante Konzerttourneen und -programme, verhandelte mit Komponisten, Solisten, Orchestern, Verlegern und Presse. Den Grad des Vertrauens, das Dirigent und Privatsekretärin verband, zeigt am besten an, daß er sie auch beim Kauf seiner Trauringe (1923) zu Rate zog.
Im Jahrzehnt von 1923-1933 ging es vor allem darum, die notleidenden Bilanzen der Berliner Philharmoniker zu regulieren. Gehaltskürzungen um fast ein Viertel und die verzweifelte wirtschaftliche Situation rückten vor 1933 mehr als einmal die Liquidation des Orchesters in Reichweite. 1933, nach der „Machtübernahme“, wurde die bis dahin bestehende Orchester-GmbH in eine Gesellschaft mit dem Deutschen Reich als einzigem Gesellschafter umstrukturiert. Damit war zwar die Existenz des Orchesters gesichert, aber die bisherige Unabhängigkeit hinsichtlich der personellen Besetzung, Programmwahl etc. war dahin. Nach der Einführung des „Arierparagraphen“ 1933 waren „Fräulein Dr. Geißmar“, die „jüdische Sekretärin“ Furtwänglers, und sieben jüdische Orchestermitglieder „nicht mehr tragbar“. Der Dirigent wehrte sich energisch, und es gelang ihm, die Anwendung des „Arierparagraphen“ auf das Orchester einige Zeit zu verhindern. Aber sein Eintreten für Bruno Walter, Otto Klemperer, Bronislaw Hubermann, Max Reinhardt etc., der „Fall Hindemith“ und sein Rücktritt von allen Ämtern am 5. 12. 1934 spitzten die Situation derart zu, daß Dirigent und Sekretärin übereinkamen, im Dezember 1934 die Zusammenarbeit zu beenden.
Ein Jahr quälenden Nervenkriegs begann für Geißmar. Unter fadenscheinigen Vorwänden wurde ihr immer wieder ihr Paß vorenthalten, und erst als sich Furtwängler – mit dem sie nach wie vor in Verbindung stand – bei Göring nachdrücklich für sie einsetzte, wurde ihr der Paß ausgehändigt. Am 4. 1. 1936 fuhr sie nach New York. Die von ihr zu entrichtende „Reichsfluchtsteuer“ belief sich auf 100 000 Mark.
Nach kurzer Tätigkeit in dem von dem Musikologen Anthony van Hoboken (1887-1983) gegründeten „Archiv für Photogramme musikalischer Meisterhandschriften“ – während der sie u. a. das Originallibretto der „Meistersinger“ in Wagners Handschrift ermittelte – erreichte sie das Angebot Beechams, als dessen Generalsekretärin und Organising Manager des von ihm 1932 gegründeten London Philharmonic Orchestra praktisch dieselben Aufgaben zu übernehmen, die sie für Furtwängler wahrgenommen hatte. Eine Konzerttournee Beechams mit seinem Orchester in Deutschland auf Einladung der Reichsregierung (1936), das Gastspiel der Berliner Philharmoniker in London mit Furtwängler anläßlich der Krönung Georgs VI. (1936) und die legendäre Plattenaufnahme der „Zauberflöte“ unter der Leitung Beechams mit den Berliner Philharmonikern und der damaligen deutschen Sängergarde – unter ihnen Wilhelm Strienz – verdienen besondere Erwähnung unter der Vielzahl der von Geißmar betreuten glanzvollen Aufführungen in den Jahren von 1936-1940. Die zur Vorbereitung erforderlichen Deutschlandaufenthalte waren Geißmar „nicht ganz geheuer“, aber der deutsche Botschafter in London, Joachim von Ribbentrop (1893-1946), versicherte Beecham, Geißmar habe „in Deutschland nur Freunde“. So reiste die aus Deutschland hinausgeekelte Jüdin mehrfach als Regierungsgast in die alte Heimat, auch nach Berlin, Bayreuth und Mannheim ...
Der „Blitz“, die mehrmonatigen pausenlosen Bombenangriffe auf London im Herbst 1940, brachte das Konzertleben dort zum Erliegen. Geißmar selbst wurde mehrfach ausgebombt, verlor alle ihre Habe und rettete mit knapper Not ihr Leben. Nach dem Erlöschen des „Blitzes“ führte das von Geißmar nach wie vor gemanagte Orchester in vorbildlichem Korpsgeist seine Konzerttätigkeit unter Kriegsbedingungen weiter. Einmal wurden bei einem Bombardement der Konzertsaal und alle Instrumente vernichtet. Sir Thomas allerdings entschwand 1940 in Richtung Australien, Kanada und USA, und als er im Herbst 1944 zurückkehrte, weigerte sich das Orchester, ihm die alleinige Leitung zu überlassen. Beecham gründete daraufhin im Jahre 1946 ein anderes Orchester. Die glänzenden Erfolge „ihres“ London Philharmonic Orchestra in den folgenden Jahrzehnten unter Dirigenten wie Pritchard, Haitink und Solti hat Geißmar nicht mehr erlebt.
Ihre Lebenserinnerungen, gewidmet ihren „Freunden vom London Philharmonie Orchestra“, sind nicht nur ein packend geschriebenes zeitgeschichtliches Zeugnis, sondern wegen der mit überlegener Objektivität geschilderten Persönlichkeit zweier großer Dirigenten unseres Jahrhunderts eine erstklassige Quelle für die Musikgeschichtsschreibung.
Werke: The Baton and the Jackboot, 1944, 1945 4. Aufl.; deutsch (ergänzt und bearb. von der Verfasserin): Musik im Schatten der Politik, 1945.
Nachweis: Bildnachweise: Nicht ermittelt.

Literatur: (Auswahl) Fritz Stein, Furtwängler, Wilhelm, in: MGG 4 Sp. 1155-1158; Robert Simpson, Beecham, Sir Thomas, Baronet, in: MGG 1 Sp. 1500-1501; Charles Reid, Thomas Beecham, An Independent Biography, 1961; Helmut Grohe, Z. Gedenken an Anna Geißmar, in: Mannheimer Hefte 3 (1961) 40-42 (mit Beileidsschreiben W. Furtwänglers zum Tod von B. Geißmar an deren Mutter, Frau Anna Geißmar, vom 6. 11. 1949); Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, 1982; Joachim Kaiser, Polit. Biographie e. Unpolitischen, in: Ein Maß, das heute fehlt – W. Furtwängler im Echo d. Nachwelt, hg. von Gottfried Kraus, 1986; Karl Otto Watzinger, Gesch. d. Juden in Mannheim, 1987; Peter Cosse, Die Geschichte, in: Das Berliner Philharmon. Orchester, hg. von Paul Badde u. a., 1987; Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich, E. Dokumentation, 1989; Stephan Eisel, Politik u. Musik/Kunst zw. Zensur u. polit. Mißbrauch, 1990; Dominic Fyfe, Beecham in Berlin – Die Schallplattenaufnahme der „Zauberflöte“, in: Mozart, Die Zauberflöte, Sir Thomas Beecham – Berlin 1937, Beiheft Nimbus Records CD NI 7827/8, 1991; Lt. 8.
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