Haarburger, Alice 

Geburtsdatum/-ort: 16.11.1891;  Reutlingen
Sterbedatum/-ort: 26.03.1942; Riga (erschossen)
Beruf/Funktion:
  • Malerin
Kurzbiografie: 1891–1903 glückliche Kindheit im Wohn- und Bürohaus der väterlichen Firma in der Bismarckstraße 4 in Reutlingen
1903 Umzug nach Stuttgart-Mitte in das vom Vater in der Danneckerstraße 36 gebaute Haus, Besuch eines Stuttgarter Mädchengymnasiums, von Internaten in Genf, Lausanne und London
1910 private Malschule für Damen von Alfred Schmidt, Stuttgart
1917 Studium an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei Arnold Waldschmidt
1920 Besuch der Debschitz-Schule für angewandte Kunst in München; Mitgliedschaft im „Württ. Malerinnenverein“ in Stuttgart
Seit 1921 Mehrfache Ausstellungen in Stuttgart, u. a. im Kunstverein
1932–1933 Erste Schriftführerin des „Württ. Malerinnenvereins“
Ab 1933 Gleichschaltung des „Württ. Malerinnenvereins“ und Ausschluss, nur noch Zugang zu geschlossenen jüdischen Ausstellungen, vor allem bei der von Karl Adler eingerichteten „Stuttgarter jüdischen Kultur-Gemeinschaft“
1938 Zwangsverkauf des Hauses in der Danneckerstraße
1938–1941 Wohnung mit mehreren Familienmitgliedern und Freunden im Haus der Familie in der Sandbergerstraße 26, Stuttgart-Ost
1.12.1941 wird mit der ersten Deportation der jüdischen Bevölkerung Stuttgarts vom Sammellager auf dem Stuttgarter Killesberg nach Riga verbracht und dort am 26.3.1942 bei einer Massenerschießung umgebracht
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Eltern: Vater: Friedrich Haarburger (* 14.2.1855 Mühringen/Horb, † 6.5.1920 Stuttgart), Fabrikant Kunststoffproduzent in der Firma Julius Vottelers Nachfolger GmbH in Reutlingen
Mutter: Fanny, geb. Hess (* 11.11.1868 Ellwangen/ Jagst, † 1.7.1942 Dellmensingen)
Geschwister: 2: Karl (* 15.1.1893 Reutlingen, † 17.5.1935 Reutlingen); Ernst
(* 22.6.1897, † 7.1.1927 Davos)
GND-ID: GND/119115395

Biografie: Mascha Riepl-Schmidt (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 93-95

In einem Brief vom 12. September 1941 an ihre Schwägerin Johanna Haarburger, geb. Seible (1884–1977), der Witwe ihres verstorbenen Bruders Karl, beschrieb Haarburger die alptraumartige deutsche Wirklichkeit in dem für sie charakteristischen ironisch-lakonischen Ton folgendermaßen: „Vom 19. ab dürfen wir nicht mehr ohne polizeiliche Genehmigung verreisen und können nur noch dekoriert herumspazieren; dagegen darf man seine Kriegsorden und -ehrenzeichen nicht mehr tragen.“
Damals lebte die Malerin, die allerdings kaum mehr Zeit und Ruhe zum Malen fand – mit mehreren Familienmitgliedern und Freunden im vollkommen überbelegten Haus Sandbergerstraße 26 – in einer Villengegend in Halbhöhenlage des Stuttgarter Ostens. Vorher hatte das Haus in der Danneckerstraße 36 erzwungenermaßen stark unter Wert verkauft werden müssen. Nur dank der Tatsache, dass neben Haarburger auch der „halbjüdische“ Neffe Friedrich und die Nichte Hanna Haarburger Miterben waren, konnte mit dem Verkaufserlös das kleinere, zum Verkauf anstehende Haus in der Sandbergerstraße 26 erworben werden. Aber auch dieses Haus wurde 1942 „arisiert“: Das heißt, alle Bewohner, die dort Zuflucht gefunden hatten, sind kurz nach den Verschleppungen und Deportationen gestorben oder wenig später umgebracht worden. Hier seien genannt: Haarburgers betagte Mutter Fanny Haarburger. Sie war 1942 in das jüdische „Altenheim Dellmensingen“ verschleppt worden und starb dort wenig später. Deren Schwester Emma Hess, geboren 1870, wurde ebenfalls 1942 nach Dellmensingen verschleppt und im selben Jahr in Theresienstadt ermordet. Der verwitwete Bruder der Mutter, Rechtsanwalt Dr. Ludwig Hess, geboren 1864 in Ellwangen, hatte seine Wohnung und sein Büro in der Gaußstraße 109 räumen müssen und mit einer heiß erkämpften Genehmigung im September 1941 in der Sandbergerstraße 26 einziehen „dürfen“. 1942 wurde auch er nach Dellmensingen verbracht und in Theresienstadt im Herbst dieses Jahres ermordet. Die Cousine der Mutter, Fanny Hess, geboren 1862 in Ellwangen, starb ebenfalls 1942 in Dellmensingen. Von Tante Emma und Onkel Ludwig kamen noch Postkarten an Alicens Neffen Friedrich Haarburger (1927–2003) und dessen Schwester Hanna Haarburger (geboren 1928), aus Theresienstadt nach Reutlingen.
Das Haus in der Sandbergerstraße wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nach einen Rückerstattungsprozess an die überlebenden „nur halbjüdischen“ Nachfahren der Familie zurückgegeben und wurde dann verkauft. Der alte Bestand ist von den jetzigen Besitzern umgebaut und verändert worden.
Obwohl die Spuren des Lebens und Wirkens der Stuttgarter Bürgerin Haarburger in der Stadt ihres künstlerischen Wirkens immer noch präsent sind, wurden sie doch bisher kaum dokumentiert. Immerhin erinnert seit 1987 die Alice-Haarburger-Staffel, die vom Stuttgarter Hoffeld ins Ramsbachtal hinunterführt, an das heillos traurige Schicksal der schwäbischen Malerin, die an ihrem fünfzigsten Geburtstag den Einberufungsbefehl der Gestapo zur Deportation bekommen hatte. Heute erinnern vor dem Haus in der Sandbergerstraße drei „Stolpersteine“ des Kunstprojekts: „Spuren vergessener Nachbarn“ an Haarburger, ihre Mutter Fanny Haarburger und deren Schwester Emma Hess.
Eine Emigration hatte sie wohl nie in Erwägung gezogen. 1940 hatte sie ein Schweizer Visum bekommen, dann aber auf die Ausreise verzichtet. Sie wollte für die Mutter dableiben und fühlte sich auch sicher, weil beide Brüder im Ersten Weltkrieg gedient hatten und „dekoriert“ worden waren.
Dass die Ermordung ihr eigenes Schicksal sein könnte, hatte sie wohl selbst in ihren dunkelsten Vorahnungen trotz der immer deutlicher werdenden gesellschaftlichen Ausgrenzung nie befürchtet. Als sie kurz vor der Deportation ihr Köfferchen packte, in der Annahme, sie würde in ein Arbeitslager geschickt, war ihre frühere Kinderfrau und Gouvernante Fräulein Rau zu Besuch und fragte: „Wie packen Sie denn? Sie fahren doch nicht in die Sommerfrische!“ Verzweifelt wirkte sie anscheinend nicht. Aus Riga schickte sie noch eine Postkarte an den Neffen und die Nichte.
Unvorstellbar war dieses Schicksal auch für die Bürgerstocher, die in einer stabilen Familie aufgewachsen und auf ihr Vaterland stolz war, die ihren deutschen Patriotismus selbst noch 1936 im Schweizer Urlaub anlässlich der Feier zum Schweizer Nationalfeiertag so bewies, dass sie sich bei den Feierlichkeiten im Hotel beim Singen der deutschen Nationalhymne begeisterte! Und die so gar nicht „jüdisch“ aussah: „Großgewachsen, mit blondem Haar und blaugrauer Augenfarbe war sie – den „Judenstern“ tragend – eine lebendige Widerlegung der NS-Ideologie“, so der Neffe.
Haarburgers Vater Friedrich, einer der wohlhabendsten Fabrikanten des angehenden 20. Jahrhunderts, und die Mutter, Fanny geb. Hess, eine Urenkelin des bedeutenden jüdischen Buchhändlers und Emanzipators der Juden Württembergs Isaak Hess aus Ellwangen (1789–1866) waren im Jahr 1903 nach Stuttgart gezogen, um den drei Kindern in der württembergischen Residenz eine bessere Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Die Familie lebte im vom Vater 1902 geplanten und erbauten Haus in der Danneckerstraße – die stilisiert-verschnörkelten Initialen FH sind noch heute über dem Toreingang des stattlichen dreigeschossigen Hauses zu sehen. Von der Rückseite aus öffnet sich der Ausblick auf die Stuttgarter Stadtlandschaft.
Präzis gemalte Stillleben mit buntem Kinderspielzeug und braven Topfpflanzen waren Lieblingsmodelle der Malerin und repräsentieren ein verschwundenes und doch heiles Kinderland und ein intaktes Zuhause. Ihre lichtumsponnenen Interieurs und die Stuttgarter Stadtlandschaften im impressionistischen Flair zeugen von ihrem Hang zu Harmonie, zu einem ungebrochenem Schönheitsempfinden und von ihrer Liebe zu Stuttgart.
Nach dem Umzug ins neue Stuttgarter Haus hatte Haarburger bald Freundinnen gefunden, die mit ihr ein Mädchengymnasium der Landeshauptstadt besuchten. Sie fand Gefallen an Theater-, Opern- und Konzertbesuchen. Noch vor Abschluss der Höheren Schule wurde Haarburger in Schweizer Internate geschickt, um Französisch und Italienisch zu erlernen, später auch nach London, um ihr Englisch zu verbessern.
Sie lernte Klavierspielen, vor allem aber Zeichnen und Malen in unterschiedlichen Malschulen und Akademien in Stuttgart, zuletzt in München.
Als der Vater 1920 starb, kehrte Haarburger wieder nach Stuttgart zurück und gehörte schon als Zwanzigjährige dem „Württembergischen Malerinnenverein“ in Stuttgart an. Ab 1930 organisierte sie Aktkurse, Atelierbesuche und offene Tage für den Verein.
Ab 1933 kann sie nur noch innerhalb geschlossener jüdischer Ausstellungen ihre Bilder zeigen, vor allem bei den von Karl Adler eingerichteten Ausstellungen der „Stuttgarter jüdischen Kunstgemeinschaft“. Im Dezember desselben Jahres markierte die Gleichschaltung des „Württembergischen Malerinnenvereins e.V.“ das Ende einer unabhängigen Vereinstätigkeit. Die Aufnahme des Vereins in die „Reichskammer der bildenden Künste“ und die Eingliederung in die politisch noch geduldete „Reichs-GEDOK“ bedeutet für die jüdischen Mitgliedsfrauen den sofortigen Vereinsausschluss und ein generelles Ausstellungsverbot im Verein. Die Namen aller jüdischen Künstlerinnen werden aus der Mitgliederliste und damit lange aus dem Gedächtnis der Stadt Stuttgart gelöscht: Neben Alice Haarburger erlitten Käthe Loewenthal (1878–1942), Maria Lemmé‚ (1880–1943) und Elli Heimann (1883–1941) das gleiche grausame Schicksal. Nur Klara Neuburger, geboren 1888 in Stuttgart, konnte entkommen und starb 1945 in der Nähe von New York.
Rund 150 Ölbilder erinnern heute noch an die Malerin Haarburger – Stillleben, Landschaften, Interieurs und Portraits. Sie befinden sich in Privatbesitz, in Kunstmuseen, Archiven und im alten Atelierhaus des „Württembergischen Malerinnenvereins“, dem heutigen „Bund Bildender Künstlerinnen Württemberg e.V.“ (BBK) in der Eugenstraße 17 in Stuttgart.
Quellen: Reisepass, StAL, Polizeipräsidium Stuttgart, Büschel F 215/265; Alice Haarburger. Briefe, StadtA Reutlingen; Archiv des „Bundes Bildender Künstlerinnen Württembergs e.V.“ (BBK); Gespräche mit Dorothee Haarburger, geb. Trüg, Backnang, am 24.3. und 10.4.2006.
Werke: Rund 150 Bilder in Privatbesitz; Galerie Böblingen; Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen; StadtA Stuttgart; Kunstsammlung „Bund Bildender Künstlerinnen Württemberg e. V.“; Stuttgart.
Nachweis: Bildnachweise: StAL, StadtA Stuttgart, „Bund Bildender Künstlerinnen Württemberg e.V.“, Stuttgart; Galerie Böblingen und Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen; Archiv Mascha Riepl-Schmidt und Stefan Tümpel, Stuttgart.

Literatur: Verband Bildender Künstler Württemberg e. V. (Hg.), Künstlerschicksale im Dritten Reich in Württemberg und Baden, o. J., 1987, 78f; Wolfgang Kermer, „Künstlerin zwischen den Kriegen – Alice Haarburger – Eine vergessene Stuttgarter Malerin“, in: Amtsblatt der Landeshauptstadt Stuttgart, Nr. 13, 26.3.1987, 8; Manfred Schmid, Hermann Fechenbach – Alice Haarburger, Zwei jüdische Künstler in Stuttgart, Eine Begleitschrift zur Ausstellung im Wilhelmspalais 10.11.1991–1.2.1992, Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.), 1991; Thomas Leon Heck (Hg.), Alice Haarburger. 1891 Reutlingen–1942 KZ Riga, Ausstellungskatalog der Gedächtnisausstellung in der Galerie Contact in Böblingen, 1992; Edith Neumann, Künstlerinnen in Württemberg, Zur Geschichte des Württembergischen Malerinnenvereins und des Bundes Bildender Künstlerinnen Württemberg, 2 Bde., 1999; Bernd Serger/Karin-Anna Böttcher, Es gab Juden in Reutlingen, Geschichte, Erinnerungen, Schicksale, StadtA Reutlingen (Hg.), 2005; Totenbuchprojekt der Stiftung „Die AnStifter“, 2006; Mascha Riepl-Schmidt, Alice Haarburger, Die fast vergessene Malerin der kleinen Lebenswelten, in: Harald Stingele/Die AnStifter (Hg.), Stuttgarter Stolpersteine, Spuren vergessener Nachbarn. Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken, 2006, 95–100.
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