Durlacher, Gerhard Leopold 

Geburtsdatum/-ort: 10.07.1928;  Baden-Baden
Sterbedatum/-ort: 02.07.1996; Haarlem bei Amsterdam
Beruf/Funktion:
  • Soziologe, Schriftsteller
Kurzbiografie: 1928– 1937 Kindheit und Jugend in Baden-Baden
1933 Übergriffe auf das elterliche Geschäft für Innenausstattung bis zu dessen Aufgabe
1937 Flucht nach Rotterdam, Niederlande
1942 Deportation ins Lager Westerbork
1945 Tod d. Eltern im Konzentrationslager, Befreiung Durlachers aus dem Arbeitslager Schotterweg
1945 Rückkehr nach Apeldoorn
1948–1959 Studium d. Medizin, später d. Sozial- u. Politikwissenschaften
1959 Dozent d. Politik u. Sozialwissenschaft an d. Univ. Amsterdam, 1965 Promotion: „De laagstbetaalden“
1985 „Streifen am Himmel“
1987 „Ertrinken“
1991 „Die Suche“
1993 „Wunderbare Menschen“
1995 „Niet verstaan“
Weitere Angaben zur Person: Religion: jüd.
Auszeichnungen: Ehrungen: Anne Frank Literaturpreis (1994); Literaturpreis des Amsterdamsche Kiosk Onderneming, AKO (1994); Dr. h. c. d. Univ. Amsterdam (1995); Bronzebüste im Soziologischen Institut d. Univ. Amsterdam (1998); „Stolperstein“ in Baden-Baden (2008).
Verheiratet: 1959 Anneke, geb. Sasburg, Haarlem bei Amsterdam
Eltern: Vater: Arthur Joseph (1902–1945, Bergen-Belsen), Innenausstatter
Mutter: Erna Sofia, geb. Salomonica (1906–1945 Stutthoff ), aus Baden-Baden
Kinder: 3; Jessica Erna (geboren 1961), Eva Pauline (geboren 1963) u. Channah Sophia (geboren 1970)
GND-ID: GND/119124408

Biografie: Sigrid Münch (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 75-77

Durlacher schrieb fünf autobiographische Bücher, die mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet wurden. Seine Erlebnisse im „Dritten Reich“ hatten, neben erheblichen Gesundheitsschäden, Narben hinterlassen, die immer wieder aufbrachen. Aber erst im frühen Ruhestand, nach 30-jährigem Schweigen, hatte er die literarische Auseinandersetzung und Verarbeitung seiner deutschen Vergangenheit mit der Niederschrift von „Streifen am Himmel“ begonnen. Auslöser dafür waren zwei Bücher der Historiker Walter Laqueur „The Terrible Secret“ und Martin Gilbert „Auschwitz and the Allies. How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution“. Beide Bücher untersuchten, was die Alliierten, Juden und Nichtjuden, wann über die Endlösung erfuhren, inwieweit die grauenhaften Nachrichten in Deutschland und der übrigen Welt geglaubt wurden, und warum die Alliierten trotz Kenntnis der „Endlösung“ zwischen 1942 und 1945 nichts zur Rettung der Juden unternommen hatten. Damit waren Durlachers drängende Fragen beantwortet und jede Illusion zerstört. Mit „Streifen“ meinte er die Kondensstreifen von alliierten Bombern 1944 am Himmel über dem KZ Birkenau, die bei den Gefangenen Hoffnung auf Befreiung und Bombardierung der Verbrennungsöfen geweckt hatten. Tatsächlich hatten sie nur die Ölraffinerien und Fabriken in der Nähe betroffen. Durlacher überlebte durch die Selektion des für seine Menschenversuche berüchtigten KZ-Arzts Mengele im Männerlager B II B. Er musste ab Oktober 1944 in den Konzentrationslagern Groß-Rosen/Merzbachtal, Dornau und Schotterweg Zwangsarbeit leisten. Das Buch „Streifen am Himmel“ schließt mit seiner Rückkehr in die Niederlande.
Die Familie Durlachers mit ihrem eigenem Geschäft für Innenausstattung hatte durchaus zur besseren Gesellschaft in Baden-Baden gehört. Ein Kindermädchen und Besuche im Theater und im Kurhaus zu Silvester erwähnt er in seinen Erinnerungen an die Kindheit. Nach der NS-„Machtergreifung“ aber machte er bald Erfahrungen mit Ausgrenzung und Verfolgung. 1937 lagen die Ausreisedokumente für die USA vor, doch die Großmutter wollte Europa nicht verlassen. Deswegen zog die Familie zu Verwandten nach Rotterdam. Die Kindheit in Baden-Baden bis zur Flucht 1937 beschrieb Durlacher in seinem zweiten Buch „Ertrinken, Eine Kindheit im Dritten Reich“. Im Nachwort dazu beschrieb er spätere Kurzbesuche in seiner Heimatstadt mit Frau und Tochter Anfang der 1980er-Jahre: „Ich betrachte Fassaden, die keinen Touristen interessieren. Ich weiß genau, wo ich bin. Vor meiner Schule bleibe ich stehen. Niemals bin ich fort gewesen, nichts hat sich verändert.“ (ebd., S. 85)
1940, nach dem Bombardement Rotterdams durch die Deutschen, zog die Familie nach Apeldoorn, wo Durlacher im Oktober 1942 von der niederländischen Polizei festgenommen und ins Konzentrationslager Westerbork transportiert wurde. 1944 wurde die Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wenige Monate danach ins Familienlager Auschwitz-Birkenau, bis es am 10. Juli 1944 aufgelöst wurde. Nun wurde die Familie auseinandergerissen. Der Vater starb im März 1945 in Bergen-Belsen, die Mutter vermutlich Anfang Februar in Stutthoff.
Am 9. Mai 1945 wurde Durlacher durch die russischen Truppen befreit. Nach einer Odyssee über Prag und Paris gelangte er im Juli 1945 wieder nach Apeldoorn. Nirgendwo willkommen und auf sich gestellt, arbeitete der 17-jährige hart, um die verlorenen Schuljahre wieder aufzuholen und sein Abitur zu machen. Er konzentrierte sich auf die Zukunft, um zu vergessen, was er erlitten hatte. So begann Durlacher seine Vergangenheit regelrecht zuzumauern. 1948 begann er an der Universität Utrecht Medizin zu studieren. Er musste das Studium aber mehrfach unterbrechen, weil er schwer erkrankt war, die Folge eines im KZ erlittenen Herz- und Nierenschadens.
1955 wechselte er an die Universität Amsterdam, wo er Sozialwissenschaften studierte und auch seine spätere Frau kennenlernte, Nach dem Examen heiratete er. Die älteste seiner drei Töchter, Jessica, wurde eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin, die sich auch in ihren Romanen mit dem Thema der Judenverfolgung in der zweiten und dritten Generation nach dem „Dritten Reich“ beschäftigt, den Folgen für die Familie, für Kinder und Enkel, deren Selbstverständnis und Sicherheit als Juden.
Durlacher war Dozent in Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Amsterdam. 1965 promovierte er über das Thema Mindestlohnempfänger. Bereits 1983, mit 55 Jahren, wurde Durlacher dann wegen gesundheitlicher Probleme pensioniert und begann mit Unterstützung eines Therapeuten seine Vergangenheitsbewältigung, fand eine Sprache für das Gewesene.
In seinen Werken „Die Suche. Bericht über den Tod und das Überleben“ (1991) und „Wunderbare Menschen. Geschichten aus der Freiheit“ (1993) schildert er Begegnungen und Gespräche mit Auschwitz-Überlebenden. Seine Bücher erschienen außer in niederländischer und deutscher teilweise auch in englischer, italienischer und französischer Sprache. Allein sein letztes Buch „Niet verstaan“ wurde bis jetzt nicht ins Deutsche übersetzt. Postum erschienen zwei Bände mit Interviews, Gesprächen und Artikeln „Met haat valt niet te leven“ (1998) und „Godvergeten tijd“ (2008). Ein relativ früher Tod mit 67 Jahren verhinderte Durlachers Vorhaben, sich auch anderen Themen als seiner Vergangenheit schriftstellerisch zu widmen.
Quellen: Literaturmuseum in d. Stadtbibliothek Baden-Baden.
Werke: Strepen aan de hemel, 1985, dt. Streifen am Himmel, 1994; Drenkeling. Kinderjaren in het Derde Rijk, 1987, dt. Ertrinken, 1993; De Zoektocht, 1991, dt. Die Suche, 1995; Quarantaine, 1993, dt. Wunderbare Menschen 1998; Niet verstaan, 1995; Met haat valt niet te leven, 1998; Godvergeten tijd, 2008.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (ca. 1972) in Baden-Württembergische Biographien 6, S. 76, Literaturmuseum d. Stadtbibliothek Baden-Baden.

Literatur: Auswahl: Frank Ligtvoet, Strepen aan de hemel, in: Een jaar boek, 1985; Eberhard Fromm, Gerhard Leopold Durlacher, in: Berlinische Monatsschrift 9, 1996, 110f.; S. Dresden, Gerhard Leopold Durlacher, 1999; Fia Fischmann-Wiltschut, Kind in de Tweede Wereldoorlog, 1995; Willem Maas, Kritisch Lexicon van de Nederlandstalige Literatuur na 1945, 1999; Yehudi Lindemann, Abandonment, adjustment and memory, in: Reflections on the Holocaust, 2001, 79-98.
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