Ratzel, Ludwig 

Geburtsdatum/-ort: 13.02.1915;  Friedrichsfeld bei Mannheim
Sterbedatum/-ort: 05.02.1996;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Physiker, Mitglied des Bundestags – SPD, Oberbürgermeister
Kurzbiografie: 1930-1933 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ)
1934 Abitur am Lessing-Gymnasium in Mannheim und Freiwilliger Arbeitsdienst (FAD) in Breisach
1934-1940 Studium der Physik, Mathematik und Physikalischen Chemie in Freiburg im Br. und Heidelberg
1940 Promotion bei W. Bothe, Freiburg: „Die Einzelstreuung schneller Elektronen in Aluminium und Nickel“
1940-1945 Kriegsdienst, ab 1941 als Wissenschaftler bei der Luftwaffenerprobungsstelle in Rechlin/Mecklenburg
1945-1946 Schulrektor in Mirow/Mecklenburg
1946-1947 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Firma Carl Zeiss in Jena
1947-1955 Dozent für Mathematik, Physik und Hochfrequenztechnik an der Städtischen Ingenieurschule Mannheim, seit 1952 deren Rektor
1948-1950 Mitglied des Landesvorstands der Jungsozialisten Württemberg-Baden
1948-1956 Stellvertretender Kreisvorsitzender der SPD Mannheim
1952 Mitglied im Landesvorstand der SPD in Baden-Württemberg
1955-1960 Mitglied des Bundestags – SPD, ab 1958 auch Mitglied des Europäischen Parlaments – SPD
1956-1972 Kreisvorsitzender der SPD Mannheim
1959-1972 Erster Bürgermeister der Stadt Mannheim
1972-1980 Oberbürgermeister der Stadt Mannheim
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., seit 1936 freireligiös
Auszeichnungen: Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1977); Ehrenbürger der Städte Mannheim und Toulon, Ehrensenator der Universität Mannheim und Commander of the Order of the British Empire (1980); Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1981); Ehrensenator der Fachhochschule für Technik Mannheim (1982)
Verheiratet: 1938 (Mannheim) Margarete (Grete), geb. Brand (geb. 1914)
Eltern: Vater: Ludwig Ratzel (1885-1916), Schreiner
Mutter: Martha, geb. Gebauer (1895-1966)
Geschwister: keine
Kinder: 3:
Peter (geb. 1940)
Barbara (geb. 1944)
Marianne (geb. 1951)
GND-ID: GND/119133946

Biografie: Andrea Hoffend (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 282-284

Wohl kein Mannheimer Lokalpolitiker der Zeit nach 1945 hat größeren Einfluss auf die öffentliche Infrastruktur, aber auch auf das äußere Erscheinungsbild der Stadt genommen als Ratzel in den über zwei Jahrzehnten seines Wirkens in der Stadt – ob immer zum optischen Vorteil, darüber schieden und scheiden sich die Geister.
Bescheidene Lebensumstände bestimmten Ratzels Kindheit und Jugend. Der Vater fiel 1916 im Krieg, und da die Mutter nun arbeiten musste, wuchs er im sozialdemokratisch geprägten Friedrichsfelder Großelternhaus in Armut auf. Wegen seiner Begabung vom Schulgeld befreit, konnte er dennoch das Gymnasium besuchen. Während eines zweieinhalbjährigen Aufenthalts mit der Mutter in Hergisdorf nahe Eisleben trat der damals 14-Jährige der Naturfreundebewegung bei und verfasste Artikel für das Hallenser SPD-Organ. 1931 nach Mannheim zurückgekehrt, schloss Ratzel sich der freilich nach der NS-„Machtergreifung“ verbotenen Sozialistischen Arbeiterjugend an. Am Lessing-Gymnasium machte er 1934 das Abitur.
Nach Ableistung des Freiwilligen Arbeitsdienstes in Breisach – eine unablässige Voraussetzung, um zum Studium zugelassen zu werden – schrieb Ratzel sich zum Wintersemester 1934/35 an der Universität Freiburg in den Fächern Mathematik, Physik und Physikalische Chemie ein. 1938 wechselte er nach Heidelberg, wurde dann aber 1940 wieder in Freiburg bei dem späteren Nobelpreisträger Walther Bothe mit einer kernphysikalischen Arbeit promoviert. Im selben Jahr wurde er zur Wehrmacht eingezogen, von 1941 bis Kriegsende blieb er der Luftwaffenerprobungsstelle in Rechlin/ Mecklenburg zugeteilt.
Nach Kriegsende wirkte Ratzel zunächst in einer mecklenburgischen Kleinstadt als Lehrer, auch hatte er Anteil beim Aufbau der örtlichen SPD. Nach mehrmonatiger Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Zeiss-Werken in Jena kehrte er schließlich 1947 nach Mannheim zurück, wo er als Dozent für Mathematik, Physik und Hochfrequenztechnik in den Dienst der soeben wieder eröffnenden Städtischen Ingenieurschule eintrat, die er seit 1952 auch leitete; wenn diese Einrichtung Ende der 1950er Jahre bundesweit zu den modernsten ihrer Art zählte, so war dies nicht zuletzt Ratzels Verdienst. Er selbst allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt den Rektorenposten bereits zugunsten einer kommunalpolitischen Laufbahn aufgegeben. Denn auch in Mannheim hatte Ratzel sein politisches Engagement fortgesetzt. Seine Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der Mannheimer SPD im Jahr 1948 markierte den allmählichen Beginn eines Generationenwechsels in der ansonsten noch ganz von den alten „Haudegen“ aus der Zeit vor 1933 geprägten Parteiorganisation. Mitglied im Landesvorstand der Jungsozialisten Württemberg-Baden war Ratzel von 1948 bis zum Erreichen der Altersgrenze 1950, in den Landesvorstand der SPD wurde er 1952 gewählt. 1955 in den Bundestag nachgerückt, wirkte der Kernphysiker als stellvertretender Vorsitzender des Atomausschusses und als Obmann seiner Fraktion für Fragen von Wissenschaft und Forschung. Auch im Europäischen Parlament, in das seine Partei ihn 1958 wegen seiner Fachkenntnisse entsandte, widmete er sich Fragen seiner Wissenschaftsrichtung.
Beide Mandate legte Ratzel aber nieder, nachdem er 1959 zum Ersten Bürgermeister der Stadt Mannheim und damit zum Stellvertreter von Oberbürgermeister Hans Reschke gewählt worden war. Als für Wohnungsbau, Versorgungs- und Verkehrswesen zuständiger Dezernent widmete er sich nicht zuletzt einer Neustrukturierung der Energieversorgung. Mit dem unter seiner Ägide energisch in Angriff genommenen Aufbau eines Fernwärmenetzes nahm die von Emissionen schwer belastete Industriestadt in Bezug auf Energieeffizienz und Luftreinhaltung eine Vorreiterrolle ein, die dabei konsequent zum Einsatz gebrachte Technik der Kraft-Wärme-Koppelung erwies sich als richtungweisend. Im Rahmen der Umstellung der Wärmeversorgung von Kohle und Koks auf Öl wurde eine Raffinerie errichtet, und die von Ratzel maßgeblich mit aufgebaute „Gasversorgung Süddeutschland“ (GVS) brachte den Großstädten des Landes bei der Energieversorgung ein gutes Stück Unabhängigkeit.
Das vorrangige Interesse Ratzels aber hatte dem Wohnungsbau zu gelten. Um die anhaltende Unterversorgung auf diesem Sektor in den Griff zu bekommen, ließ Ratzel nach dem noch von seinem Amtsvorgänger und Mentor Jakob Trumpfheller geplanten Wohnbezirk Waldhof-Ost mit der nach dem Vorbild der Neuen Vahr in Bremen erstellten „Vogelstang“ einen völlig neuen Stadtteil emporwachsen. Bewusst wurde bei diesem landesweit größten Wohnungsbauvorhaben auf eine gemischte Sozialstruktur abgestellt. Zeittypische städtebauliche Akzente setzte Ratzel dann vor allem entlang des Neckars zunächst mit dem Stadtwerke-Hochhaus, später auch mit dem Collini-Center und der Neckarufer-Nord-Bebauung. Hierbei musste ein altes Straßenbahndepot weichen, und auch die schließlich als Kulturzentrum genutzte Alte Feuerwache wäre beinahe dem Baueifer zum Opfer gefallen. Im wie außerhalb des Gemeinderats heftig umkämpft war vor allem der von Ratzel vorangetriebene Um- und Erweiterungsbau des Veranstaltungszentrums „Rosengarten“, gegen den aus den Reihen der örtlichen CDU Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Anschlag gebracht wurden.
Nachdem Reschke vorzeitig aus dem Amt geschieden war, wurde Ratzel 1972 bereits im ersten Wahlgang mit 53,6 Prozent der Stimmen zum Oberbürgermeister der Stadt Mannheim gewählt. In seine achtjährige Amtszeit fiel die Umgründung der Stadtwerke Mannheim zur Mannheimer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (MVV) 1974 und im Folgejahr dann die Ausrichtung der Bundesgartenschau, die er zuvor als Erster Bürgermeister gegen starke Widerstände vor allem der CDU-Fraktion in der letztlich realisierten Form vorbereitet hatte. Mehrere in diesem Zusammenhang errichtete Gebäude wie vor allem der Fernmeldeturm am Luisenpark oder die Multihalle im Herzogenriedpark sollten sich zu architektonischen Markenzeichen der Stadt entwickeln; dem damals viel beachteten Aerobus hingegen, einer neuartigen Schwebebahn, die beide Parks verband, war wegen technischer Probleme keine Zukunft beschieden. Dennoch brach die Mannheimer Bundesgartenschau mit acht Millionen Besuchern alle Rekorde und gilt noch drei Jahrzehnte später als die erfolgreichste Veranstaltung ihrer Art.
Nachdem Ratzel bereits während seiner Amtszeit als Oberbürgermeister zunehmend in Distanz zu seinen Nachfolgern an der Spitze der Mannheimer SPD geraten war, trat er nach 61 Jahren SPD-Mitgliedschaft im Frühjahr 1993 wegen der Jansen-Engholm-Affäre aus der Partei aus. Nach seinem Tod wurde in Mannheim ein kleiner Straßenabschnitt nach ihm benannt.
Quellen: UA Freiburg B 31/978, Promotionsakten u. 29/50/152, Promotionsurkunde vom 10. 9. 1940; StadtA Mannheim Nachlass L. Ratzel (2,28 lfm 1948-1981); ferner dort die Bestände Dezernatsregistratur, Hauptamt, OB u. Beigeordnete sowie ZGS; Auskünfte des UA Freiburg an den Hg. d. Reihe vom Januar 2007.
Werke: Die Einzelstreuung schneller Elektronen in Aluminium u. Nickel, Diss. rer. nat. Freiburg 1940, in: Zs. für Physik 115, H. 3 u. 10, 497-513; Die Gemeinden u. d. Wandel in d. süddt. Gaswirtschaft, in: Mannheimer Hefte 1961/3, 6-10; Wohnungsprobleme, 1962; Aufgaben u. Bedeutung d. Mineralölwirtschaft in B-W, in: Die öffentl. Wirtschaft 7/4, 1963, 177-188; Grundlagen sozialdemokratischer Kommunalpolitik, 1965; Sozialer Wohnungsbau für Mannheim, 1971; Erinnerungen, 1993 (300 S.).
Nachweis: Bildnachweise: StadtA Mannheim.

Literatur: Walter Spannagel, Der Politiker u. Mensch L. Ratzel im Spiegel seines Nachlasses, in: Mannh. Geschichtsbll. 6, 1999, 443-449; ders., „Immer die Kleiderordnung beachten“ – L. Ratzel, in: Die höchste Auszeichnung d. Stadt, 2002, 157-160.
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