Kuhn, Richard 

Geburtsdatum/-ort: 03.12.1900; Wien
Sterbedatum/-ort: 31.07.1967;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Chemiker, Biochemiker und Nobelpreisträger
Kurzbiografie: 1910-1917 Besuch des Döblinger humanistischen Gymnasiums Wien
1918 Jan.-Okt. Militärdienst
1918-1922 Chemiestudium in Wien (2 Semester) und München (6 Semester)
1922 22. Nov. Promotion „summa cum laude“ an der Universität München: „Zur Spezialität von Enzymen im Kohlenhydratstoffwechsel“
1925 5. Mär. Privatdozent; Habilitationsschrift: „Der Wirkungsmechanismus der Amylasen; ein Beitrag zum Koordinationsproblem der Stärke“
1926 1. Okt. ordentlicher Prof. für allgemeine und analytische Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Antrittsvorlesung vom 18.6.1927: „Die Chemie der Gegenwart und die Biologie der Zukunft“
1929 1. Apr. Direktor des chemischen Instituts des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung, Heidelberg
1938 9. Nov. Nobelpreis des Jahres 1938 für Chemie für die Arbeiten über Carotinoide und Vitamine
1945 31. Okt.-1946 1. Jul. Dienstentlassung durch die Militärregierung
1950 10. Jun. ordentlicher Professor für Biochemie an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
1955-1967 Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft
1958 Verleihung des Ordens Pour le mérite der Friedensklasse
1964-1965 Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1928 (Zürich) Daisy, geb. Hartmann (1907-1967)
Eltern: Vater: Richard Clemens (1860-1935), Wasserbauingenieur, Vorstand der Seebehörde in Triest
Mutter: Angelika, geb. Rodler (1863-1945), Volksschullehrerin
Geschwister: Angelika (geb. 1899), Malerin
Kinder: 6:
Daisy Angelika (geb. 1930)
Richard Peter (geb. 1932)
Hans-Jürg (geb. 1934)
Heidi Julie, verheiratete Kaempfer (geb. 1937)
Elfriede Helene, verheiratete Schindler (geb. 1939)
Linda Birgitta (geb. 1943)
GND-ID: GND/119171805

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 196-198

Die außergewöhnlichen Fähigkeiten des zukünftigen Klassikers der Biochemie erkannten die Eltern bereits früh. Deswegen erteilte ihm seine Mutter, eine Lehrerin, den ganzen Volksschulunterricht zu Hause. Nur einmal pro Jahr legte er eine Prüfung ab. Seine reguläre, glückliche und ausgefüllte Schulzeit begann Kuhn mit 9 Jahren: Die Klasse bestand aus sehr begabten Schülern, sein bester Klassenfreund war der spätere Physiknobelpreisträger W. Pauli, mit dem Kuhn lebenslang eng verbunden blieb.
Der vielseitig begabte Junge dachte zuerst über eine Karriere als Künstler bzw. Schauspieler nach – so spielte er als Geiger bei den Wiener Philharmonikern mit –, schließlich gewann aber das Interesse für die Naturwissenschaften die Oberhand, wahrscheinlich unter dem Einfluß von Ernst Ludwig, eines Freundes der Familie und Professor für medizinische Chemie an der Universität Wien. Der damals 13-jährige durfte die Demonstrationsversuche mit ihm vorbereiten und studierte interessiert das ihm von Ludwig geschenkte Lehrbuch der Chemie für Pharmazeuten.
Wegen des Krieges bekam Kuhn seine Matura ohne jegliche Prüfungen, und schon am nächsten Tage begann sein Militärdienst, zunächst im Telegraphen-Regiment, später beim Ordnungsdienst. Kaum entlassen immatrikulierte er sich an der Universität Wien. Kuhns Lehrer in Wien waren der Organiker W. Schlenk und der Physikochemiker R. Wescheider. Letzterem verdankte Kuhn, das Forschungsprinzip der physikalisch-chemischen Methoden im Bereich der organischen und der biologischen Chemie anzuwenden. Nach zwei Semestern mit ausgezeichnet bestandenen Zwischenprüfungen in Wien wechselte Kuhn nach München, in die damalige Metropole der organischen Chemie in Deutschland und fand dort den hervorragenden R. Willstätter, dem 1915 der Nobelpreis für seine Forschungen über Chlorophyll verliehen worden war. Bereits nach sechs Semestern konnte Kuhn mit seiner Doktorarbeit anfangen und wurde genau vier Jahre nach der Immatrikulation in Wien mit der besten Note promoviert.
Willstätters Vorschlag folgend blieb Kuhn und vollendete seine Habilitationsarbeit. Gleichzeitig betreute er Doktoranden. Kuhns Habilitation wurde „ein glänzendes akademisches Ereignis ..., das seine Eltern in meinem Hause mit mir feierten“, so Willstätter. Danach arbeitete Kuhn in München noch eineinhalb Jahre. 1926 erhielt Willstätter einen Ruf nach Zürich, den er jedoch ablehnte. Er benannte Kuhn und konnte gegen einige Widerstände dessen Ernennung auch durchsetzen. In Zürich bearbeitete Kuhn zwei Grundprobleme der theoretischen organischen Chemie: Räumliche Anordnung organischer Moleküle und Zusammenhänge zwischen Konstitution und Farbe organischer Substanzen. Es gelang ihm, eine Reihe der sogenannten Polyene zu synthetisieren. Zu seinen Zürcher Studenten gehörte auch Daisy Hartmann, die seine Ehefrau wurde.
1927 begann durch Initiative von L. von Krehl die Errichtung eines „Kaiser-Wilhem-Instituts für medizinische Forschung“ in Heidelberg. Kuhn wurde zum Direktor der chemischen Abteilung gewählt. Er nahm den Ruf an und beteiligte sich noch bei der Planung und Einrichtung seines zukünftigen Instituts. Der Wechsel nach Heidelberg bedeutete gleichzeitig die Verschiebung des Schwerpunkts seiner Forschungen zur Biochemie. Seine Arbeiten über Polyene bildeten eine logische Brücke zur Chemie der natürlichen Farbstoffe, da Kuhn erkannt hatte, dass diese auch Polyene sind. Insbesondere erforschte er sogenannte Carotinoide. Der entscheidende Schritt für die Reindarstellung dieser Stoffe, zuerst α- und β-Carotin, war 1931 die Anwendung und Ausbildung chromatographischer Trennverfahren, der „fraktionierten Adsorption an Faser-Tonerde“, was der Neugeburt der Adsorptionschromatographie in der Naturwissenschaft entsprach. Anschließend konnte Kuhn die chemische Natur von Vitamin A und Vitamin D erklären. Eine weitere Höchstleistung stellte die Isolierung, Strukturerklärung und die Synthese des Vitamins B2 dar; er gewann etwa 1 g des reinen Stoffes aus 53000 Litern Molke! Grundlegend war auch die neu entdeckte Beziehung zwischen Vitamin B2 und Atmungsferment. Später konnte Kuhn auch weitere Vitamine, u.a. B6, und Fermente entdecken und ihre Struktur erklären. Insgesamt wurden ca. 300 natürliche Farbstoffe durch Kuhn und seine Mitarbeiter synthetisiert.
Mit Beginn des „Dritten Reichs“ änderte sich Kuhns Arbeit zunächst kaum, war er doch national, nicht aber nationalsozialistisch gesinnt. Er empfand eine große Liebe zu Deutschland und begrüßte den Anschluss Österreichs, wurde aber nie Mitglied der NSDAP. Es gelang ihm anfangs, den Schein zu wahren, die Politik holte ihn aber ein, als er seinen Briefwechsel mit Willstätter nach dessen Flucht in die Schweiz beenden und den Nobelpreis ablehnen mußte. Es war typisch, dass er sich keine Enttäuschung anmerken ließ; nach Kriegsende teilte er dem Nobelkomitee den wahren Sachverhalt mit, so dass ihm die Medaille und das Diplom – aber keine Geldprämie – 1949 überreicht wurden. Als Entschädigung gleichsam war K mit hohen Inlandspreisen ausgezeichnet worden, z.B. dem Copernicus-Preis der Universität Königsberg 1940 und dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 1942. Kuhn bekleidete auch einige herausragende Stellungen, war ab 1937, nach dem Tode des ersten Direktors L. von Krehl, Leiter des Instituts für medizinische Forschung, ab 1938 Präsident der Deutschen Chemischen Gesellschaft und Leiter des Bereichs Organische Chemie im 1939 begründeten Reichsforschungsrat. Kuhn benutzte seine einflußreichen Positionen, um möglichst viele seiner Mitarbeiter vom Militärdienst zu befreien. An guten Begründungen fehlte es ihm nie, weil sein Institut ständig „kriegswichtige Forschungen“ ausführte, teilweise im Kontakt mit IG Farben, Ludwigshafen. Kuhn beschäftigte sich u.a. mit Nervenkampfstoffen und konnte sogenanntes „Soman“ synthetisieren. Gleichzeitig trat er entschieden gegen die Verwendung chemischer Kampfstoffe im Krieg ein, worin er einen „Selbstmord für die Nation“ sah. Es sei dahingestellt, welche Kraft ihn solche Loyalitätsdemonstrationen dem Regime gegenüber kosteten; er schien damals jedenfalls schneller zu altern; „Die Wissenschaft kennt keine politischen Grenzen; sie rekrutiert ihre führenden Kräfte aus allen Ländern und Rassen“, in diese Worte kleidete er 1949 seine Überzeugung im Epigraph zu seinem glänzenden Essay über Willstätter.
Unter diesem Motto bemühte sich Kuhn auch, die internationalen Beziehungen der Wissenschaft zu Deutschland nach dem Zusammenbruch wieder aufzubauen. 1949 erhielt er einen verlockenden Ruf der Universität Philadelphia, wo ihn viel bessere Arbeitsbedingungen erwarteten. Seine ältere Tochter Daisy, selbst Wissenschaftlerin, übersiedelte dorthin, und 1951 unterschrieb auch Kuhn den Vertrag mit dieser Universität. Letztendlich blieb er dann doch in Heidelberg und ging nur für ein Jahr als Gastprofessor nach Philadelphia. Zahlreiche Reisen zu Gastvorträgen führten ihn in fast alle Teile der Welt, in die USA, nach Brasilien, Japan, Indien und in die Sowjetunion. Das verdeutlicht seine internationale Anerkennung. Neue Erkenntnisse aus diesen Reisen brachte Kuhn dann in die deutsche Fachliteratur ein, so die Herausgabe einer Übersetzung der fundamentalen „Organischen Chemie“ von L. F. und M. Fieser.
Die 1950er Jahre, die zweite Periode größter schöpferischer Aktivität in Kuhns Leben, waren durch die Untersuchungen über Resistenzfaktoren und die damit zusammenhängenden Forschungen über Oligosaccharide der Milch und Gangliosiden des Gehirns gekennzeichnet. Leider war es ihm aber nicht vergönnt, diese drei Richtungen zu vereinigen, wie er gehofft hatte. Im Herbst 1965 erfuhr Kuhn, dass er unheilbar an Speiseröhrenkrebs erkrankt sei. Mit seltener Gefasstheit und Disziplin ertrug er die Konsequenzen; im Frühjahr 1967 stellte er bei der Max-Planck-Gesellschaft den Antrag auf Berufung eines Co-Direktors für sein Institut. Er selbst arbeitete fast bis zu seinem letzten Tag weiter.
Umfang und Vielseitigkeit von Kuhns wissenschaftlichem Werk sind erstaunlich; es schließt mehr als 700 Publikationen ein, was nicht zuletzt daher rührt, dass Kuhn begeisterte Mitarbeiter zu gewinnen wusste: insgesamt mehr als 150! Kuhns Genialität ergab sich aus der Vereinigung unterschiedlicher Fähigkeiten: Ein phänomenales Gedächtnis, eine ungeheuer rasche Auffassungsgabe, starkes Konzentrationsvermögen, außerordentliche räumliche Vorstellungskraft, was für Forschungen in der Welt der komplexen Moleküle wichtig war, kombinatorische Phantasie, mit der er weit auseinander liegende Gedankengänge zu verbinden vermochte und eine unverwüstliche Arbeitskraft. Das alles ging einher mit enormer Präzision und Disziplin und großer Zähigkeit in der Verfolgung angestrebter Ziele. Eine bedeutende Seite von Kuhns Erbe stellen auch seine zahlreichen Vorträge und Artikel allgemeineren Inhalts dar, über die Geschichte der Naturwissenschaft, Besonderheiten ihrer Entwicklung, Probleme der Organisation der Forschung und über die Hochschulbildung der jungen Generation, suchte er doch immer nach Gegengewichten zur „zunehmenden Verästelung des Wissens“. Obwohl „ein großer Schweiger“ und immer äußerst zurückhaltend, war Kuhn auch in späteren Jahren eine ungewöhnlich fröhliche Natur und konnte als unvergleichlicher Erzähler brillieren. Angesichts der „elektronisch gesteuerten Zukunft, die in manchen Ecken und Enden schon begonnen hat“ war er überzeugt: „Gedanken versiegen, Gesetze erstarren und Ideale verblassen; schöpferisch – auch im Zeitalter der Computers – bleibt nur der Mensch“.
Quellen: UA Heidelberg Personalakte 1040 u. 4717; Rep. 14, Nr. 20, 51, 569, 591, 734, 736; A d. Akad. d. Wiss. Heidelberg 115-K; UnternehmensA BASF W1, R. Kuhn; Stadt A Heidelberg Auskünfte.
Werke: Auswahl: Wirkungsmechanismus d. Amylasen. Beitrag zu Konfigarutionsproblem d. Stärke (Habilitationsschrift), 1925; Physikalische Chemie u. Kinetik [d. Enzyme], in: Karl Oppenheimer, Die Fermente u. ihre Wirkungen I, 1925, 92-384; (mit E. Lederer), Zerlegung des Carotins in seine Komponenten (Über das Vitamin des Wachstums, I. Mitteilung), in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 64B, 1931, 1349-1357; Kuhn Freudenberg (Hg.), Molekulare Asymmetrie, in: Stereochemie, 1933, 803-824; Lactoflavin (Vitamin B2), in: Zs. für Angew. Chemie 49, 1936, 6-10; Über die Synthese höherer Polyene, ebd. 50, 1937, 703-708; Vitamine u. Arzneimittel, ebd. 55, 1942, 1-6; Richard Willstätter (1872-1942), in: Naturwissenschaften 36, 1949, 1-5; Vom Lehren u. Lernen an unseren Hochschulen, in: Chemiker-Ztg. 80, 1956, 807-812; Biochemie d. Rezeptoren u. Resistenzfaktoren: Von d. Widerstandsfähigkeit d. Lebewesen gegen Einwirkungen d. Umwelt, in: Naturwissenschaften 46, 1959, 43-50; Von chemischer Forschung an Instituten d. Kaiser-Wilhelm-Ges./Max-Planck-Ges., ebd. 49, 1962, 1-6; Fragen d. Normung im Bereich d. Wissenschaft, Verband d. Chem. Industrie, Sonderbeilage zu den Verbands-Mitteilungen vom Nov. 1962, 1-5; Der Arzneischatz d. Gegenwart u. die pharmazeut. Chemie d. Zukunft, in: Mitt. aus d. Max-Planck-Ges. H. 6, 1965, 366-387.
Nachweis: Bildnachweise: Chemie in unserer Zeit, 2, 1968, 26, 30, 31 (vgl. Lit.).

Literatur: Poggendorfs Biogr.-literar. Handwörterb. VI, 1428-1429; Bd. VIIa, T. 2, 958-962 (mit Bibliographie); NDB 13, 1982, 266-268; O. Westphal, R. Kuhn zum Gedächtnis, Angewandte Chemie 80, 1968, 501-519 (mit Bild); W. Grassmann, R. Kuhn †, in: Jahrb. d. Bayer. Akad. d. Wiss., 1969, 231-253 (mit Bild); G. Quadbeck, R. Kuhn, in: Semper Apertus III, 1985, 55-72 (mit Bild); David M. State, R. Kuhn and the Chemical Department, ders., Kuhn Guides the Chemistry Department through Troubled Waters during World War II u. ders., R. Kuhn's Final Years [alle: Juni 2001] unter: http://sun0.mpimf-heidelberg.mpg.de/History/Kuhn.
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