Ewald, Peter Paul 

Andere Namensformen:
  • später: Ewald, Paul Peter
Geburtsdatum/-ort: 22.01.1888; Berlin
Sterbedatum/-ort: 23.08.1985; Ithaka, Tompkins, USA
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie: 1897–1905 bis 1900 Wilhelm-Gymnasium Berlin, dann Viktoriagymnasium Potsdam bis Abitur
1905 IX–1912 II Studium d. Naturwissenschaften u. d. Mathematik; im WS 1905/06 Chemie am Caius College d. Univ. Cambridge, SS 1906 bis SS 1907 Univ. Göttingen, WS 1907/08 bis WS 1911/12 an d. Univ. München Mathematik u. Physik, dort
1912 II 16 Promotion zum Dr. phil. bei Sommerfeld: „Dispersion u. Doppelbrechung von Elektronengittern (Kristallen)“
1912 VI–1913 V Assistent von D. Hilbert an d. Univ. Göttingen
1913 VI–1921 III Assistent von A. Sommerfeld an d. Univ. München, 1915 bis 1918 Militärdienst
1917 XII Habilitation während der Militärzeit: „Die Kristalloptik d. Röntgenstrahlen“; Probevortrag: „Die Bedeutung d. Vektoranalysis für die Mechanik u. mathemat. Physik, insbes. für die Physik des Relativitätsprincips“
1921 IV–1937 III Professor d. Theoret. Physik an d. TH Stuttgart, im ersten Jahr planm. Extraordinarius, dann persönl. Ordinarius; Antrittsvorlesung: „Die Bedeutung d. Röntgenstrahlen für die moderne Naturwissenschaft“
1924–1937 Mithg. d. „Zs. für Kristallographie“
1925 VIII I internat. Konferenz für Röntgenkristallographie in Holzhausen am Ammersee inoffiziell durch Ewald veranstaltet
1932 IV–1933 IV Rektor d. TH Stuttgart
1937 X–1939 III „Research fellow“ an d. Universität Cambridge, England
1939 IV–1949 Lecturer (Dozent), ab May 1945 Professor d. Mathematischen Physik an d. Queen’s University, Belfast, Nordirland
1949–1959 Professor u. bis 1957 Leiter d. Abteilung Physik am Brooklyn Polytechn. Institut, New York
1948–1959 Hg. d. internat. Zs. „Acta crystallographica“
1985 Ewald-Preis d. Int. Union of Crystallography
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Mitglied d. Akad. d. Wiss. in Göttingen (1936); Dr. h. c. TH Stuttgart (1954); Mitglied d. American Academy of Arts and Science, New York (1955); Ehrenmitglied d. Dt. Mineralogischen Gesellschaft, Fellow of the Royal Society of London u. Korr. Mitglied d. Bayer. Akad. d. Wiss.; Dr. h. c. d. Univ. Sorbonne, Paris (1958); Mitglied d. Dt. Akad. d. Naturforscher Leopoldina, Halle u. Dr. h. c. d. Adelphi Universität, New York (1966); Dr. h. c. d. Univ. München (1968); Max-Planck-Medaille d. Dt. Physikalischen Gesellschaft (1978); Gregori-Aminoff Medaille d. Schwed. Königl. Akad. d. Wiss. (1979).
Verheiratet: 1913 (Berlin ?) Elise (Ella) Bertha, geb. Phillippson (1891–1993)
Eltern: Vater: Paul (1851–1884), Historiker, Privatdozent an der Universität Berlin
Mutter: Clara, geb. Phillippson (1859–1948), Porträtmalerin
Geschwister: keine
Kinder: 4;
Lux Heinrich (1914–1996),
Rose Susan, verh. Bethe (geboren 1917),
Linda Ursula (geboren 1919),
Arnold (geboren 1921)
GND-ID: GND/11919354X

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 97-102

Ewalds Vater war drei Monate vor des Sohnes Geburt unerwartet an Appendizitis verstorben; der Junge wurde allein von seiner Mutter erzogen. Beide lebten in guten Verhältnissen; die vielseitig begabte Mutter konnte dem Sohn viel beibringen und reiste zunächst viel mit ihm. 1891 bis 1893 weilten sie in Paris, wo die Mutter ihre Ausbildung als Malerin fortsetzte, dann folgten Aufenthalte in Cambridge bei Freunden und in Montreux, wo Ewald eine Dorfschule besuchte. Er sprach darum schon vor dem Gymnasium fließend Französisch und Englisch. Nach Jahren des Umherziehens und fünf Jahren in Berlin ließ die kleine Familie sich 1900 in Potsdam nieder, wo Eltern und Verwandte der Mutter wohnten.
Als Gymnasiast hatte Ewald eine ausgeprägte Neigung zu Naturwissenschaften, zur Chemie besonders, seit seiner Zeit in Cambridge. Dort begann er nach dem Abitur sein Chemiestudium und wohnte bei Freunden seiner Mutter. Wie Chemie damals in Cambridge unterrichtet wurde, enttäuschte Ewald jedoch; denn es ging nur um Tatsachenanhäufung. Nach einem Semester kehrte Ewald nach Deutschland zurück und studierte in Göttingen weiter. Hier wandte er sich zunächst der Chemie und der Physik zu, ab Herbst der Mathematik, für die Göttingen damals, so Ewald, dank David Hilbert (1862–1943) und Felix Klein (1849–1925) als „Eldorado“ (1974, S. 44) galt.
Zum Wintersemester 1907/08 wechselte Ewald nach München, um eine andere, auf der Algebra basierte Version der Mathematik bei Alfred Pringsheim (1850–1941) zu lernen. Bei der reinen Mathematik blieb er aber nur ein Semester: Es war Anfang des Sommersemesters 1908, als ein Freund, den Ewald schon von Potsdam kannte, ihn, „fast mit Brachialgewalt“ in eine zweistündige Vorlesung Sommerfelds über Hydrodynamik schleppte. Ewald war aber „von der ersten Vorlesung an so gefesselt […], dass ich von da ab wusste, dass meine Liebe […] dieser wunderbaren Harmonie von anschaulichem mathematischen Denken und physikalischem Geschehen, der theoretischen Physik“ galt (1968, S. 539). Die weltberühmte Schule von Arnold Sommerfeld (1868–1951) stand damals in ihren Anfängen, Ewald wurde einer der ersten Schüler.
Als seine Doktorarbeit anstand, interessierte sich Ewald für die theoretische Erklärung der Verbreitung des Lichtes in anisotropem Milieu, insbesondere der Lichtdoppelbrechung an orthorhombischen Kristallen, obwohl Sommerfeld zugab, dass er selbst keinen Ansatz dazu habe. Nach zweijähriger Arbeit war Ewald fertig. Um Einzelheiten zu besprechen, kam er zu Max von Laue (1879–1960), damals Privatdozent bei Sommerfeld, der sich mit der Verbreitung des Lichtes beschäftigte. Dieses Treffen – Laue selbst berichtete darüber in seinem Nobelvortrag – ist in die Geschichte der Naturwissenschaft eingegangen, weil es Laue den entscheidenden Anstoß gegeben hat, Kristalle als dreidimensionale Beugungsgitter für Röntgenstrahlen zu benutzen. Der Begriff „Kristallgitter“ war Laue zuvor fremd.
Ewalds Dissertation wurde erfolgreich, obgleich Laue ihm keinen Rat hatte geben können. Sie enthielt bereits im Keime das Opus magnum Ewalds, die Theorie der Kristalloptik, die einzige, die bis heute Bestand hat und die Ewald fast bis zum Lebensende weiterentwickelte. Ewalds Promotion fand im Februar 1912 statt. Kurz darauf ging er nach Göttingen als Assistent zu D. Hilbert. Sommerfeld empfahl Ewald seinem Freund Hilbert, fügte aber hinzu, dass er Ewald „hier später zur Habilitation“ zurückhaben wollte. (Eckert, 2011, S. 266). In Göttingen hörte Ewald über die sensationelle Entdeckung der Röntgen-Diffraktion bei Versuchen von Laue, Friedrich und Knipping. Dank seiner Dissertation vermochte er ihre Bedeutung zu verstehen. Auch die Kristalloptik der Röntgenstrahlen beschäftigte ihn dann lebenslang. Während der zwei Semester in Göttingen lernte Ewald seine zukünftige Frau kennen. Ab Sommer 1913 bekam er eine Assistentenstelle bei Sommerfeld.
Die Idylle währte aber nur bis Kriegsausbruch. Ewald rückte freiwillig Anfang 1915 ein, als „Feld-Röntgen- Mechaniker“ zunächst in einem Feldlazarett in Litauen, dann bei Dvinsk (Dünaburg). Er fand genügend Muße, die in seiner Dissertation aufgestellte Theorie der Kristalloptik auf Röntgenstrahlen, d.h. kurzwellige Strahlen zu erweitern. Später gab er zu, dass er ohne die ungestörte Einsamkeit kaum eine solch komplizierte Theorie hätte ausarbeiten können (1961, S. 49). Er stellte sie in drei fundamentalen Artikeln dar: „Zur Begründung der Kristalloptik“, die 1916 und 1917 in den „Annalen der Physik“ erschienen. Seinen dritten Artikel schickte Ewald im Juli 1917 als Habilitationsschrift an Sommerfeld, zusammen mit einem Gesuch um Aufnahme als Privatdozent für Theoretische Physik. Sommerfeld gelang es, Ewald in Abwesenheit zu habilitieren: „Da er bei Dünaburg als Feldröntgen-Mechaniker steht und keinen selbstverfassten Antrag und Lebenslauf eingeschickt hat, bitte ich die Fakultät, in beiden Schriftstücken ihn vertreten zu dürfen, damit die Arbeit noch in diesem Semester umlaufen kann“. Die Probevorlesung sollte während eines Fronturlaubs stattfinden, damit Ewald gleich nach seiner Rückkehr beim Unterricht mithelfen könne. (Eckert, 2011, S. 268). Noch Soldat wurde Ewald Privatdozent. Ende 1918 begann seine Lehrtätigkeit in München. Erste Aufgabe war es, alternierend mit Sommerfeld Mechanik besonders für Kriegsteilnehmer zu unterrichten. Außerdem las Ewald über „Vektorrechnung als Grundlage für theoretische Physik“ und „Dynamik der Kristallgitter (Atomistik der festen Körper)“.
Drei Jahre später wurde Ewald als Professor für Theoretische Physik an die TH Stuttgart berufen. Die Stuttgarter Periode der Berufslaufbahn Ewalds ist durch sehr vielseitige und fruchtbare Aktivitäten gekennzeichnet. Ewald baute einen viersemestrigen Kursus der Theoretischen Physik für Studenten nach dem Vordiplom auf. Seine Vorlesungen erstreckten sich auf „Mechanik“, „Thermodynamik“, „Elektrodynamik“ und „Optik“, jeweils 6 Stunden wöchentlich einschließlich Übungen; ab 1927 wurde noch „Atomlehre“ hinzugefügt. Außerdem hielt Ewald wöchentlich einstündige Vorlesungen über spezielle Gebiete wie „Röntgenoptik für Physiker“, „Probleme der Kristallphysik und -chemie“, „Strukturbestimmung mit Röntgenstrahlen“. Daneben leitete er ein Kolloquium zur Besprechung neuer Arbeiten in der Theoretischen Physik.
Ein bedeutendes Ereignis der Stuttgarter Zeit war im Sommer 1925 Ewalds berühmt gewordene I. internationale Konferenz über Kristallstrukturanalyse mit Röntgenstrahlen. Da Ressentiments nach dem I. Weltkrieg noch stark waren, handelte er ganz informell: Die Teilnehmer, etwa ein Dutzend Experten aus mehreren Ländern Europas und den USA, trafen sich im Haus seiner Mutter am Ammersee. Die Woche intensiver Diskussionen experimenteller und theoretischer Aspekte der röntgenographischen Forschungen an Festkörpern wurde sehr fruchtbar und war Anfang der internationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, wie Lawrence Bragg bezeugt (Bragg, 1968, S. 4).
1928 erhielt Ewald einen Ruf an die TH Hannover. Er lehnte ab und bekam den Neubau für sein Stuttgarter Institut und einen zweiten Assistenten, für Experimentalarbeiten. Ewald pflegte immer enge persönliche Beziehungen zu seinen Assistenten, einer von ihnen, Hans Bethe (1906–2005), zukünftiger Nobelpreisträger, wurde später sein Schwiegersohn. Besonders wichtig war ihm die Zusammenarbeit, ab 1925 mit Carl Hermann (1898–1961), der sich 1931 bei ihm habilitierte und mit dem er den fundamentalen „Strukturbericht“, ein wichtiges Nachschlagewerk, vorbereitete.
Von 1924 bis zum Ende seiner Stuttgarter Zeit wirkte Ewald als Mitherausgeber der „Zeitschrift für Kristallographie“, damals „das Organ“ (Renninger, 1985, S. 164) für die sich stürmisch entwickelnde röntgenographische Kristallographie. Durch Ewalds Hände ging etwa eine Hälfte der dort veröffentlichten Arbeiten. „He was a wonderfully considerate as well as careful and critical Editor“ (Cruickshank u.a., 1992, S. 37), erinnerte sich die Nobelpreisträgerin Dorothy Hodgkin (1910–1994). Die Zeitschrift gewann internationale Bedeutung; der erwähnte „Strukturbericht“ erschien als Ergänzungsband zur Zeitschrift.
So entwickelte sich die TH Stuttgart zu einem florierenden und national wie international anerkannten Forschungszentrum der Kristallstrukturanalyse mit Röntgenstrahlen. Anfang 1932 wurde Ewald ihr Rektor. Seine Rede bei der Übernahme des Amtes, „Der Weg der Forschung“, bleibt lesenswert: „Denn bei unserer täglichen Arbeit sind wir Naturforscher wie Wanderer auf dem vielverschlungenen Wege durch das dornige Dickicht der unverstandenen Tatsachen“ (1932, S. 3). Er bewies auch politischen Mut, sprach gegen die sog. „deutsche Physik“ als er schloss: „Wünschen wir, dass in den jetzigen Zeiten staatlicher und wirtschaftlicher Ohnmacht Deutschland seine Verbundenheit mit geistigen Problemen wiederfinde. Hoffen wir, dass Sachlichkeit der Tatsachen und Ehrfurcht den Gesetzen gegenüber neu gelernt werde […]“
Mit der NS-„Machtübernahme“ musste Ewald die Forderung einer NS-Studentendemonstration genehmigen und eine Hakenkreuz-Fahne auf der Hochschule aufziehen. Er verstand bald, dass kleine Zugeständnisse nicht reichten. Auf der Rektorenkonferenz am 12. April in Wiesbaden wurde das berüchtigte, damals noch nicht veröffentlichte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ besprochen. Nach Stuttgart zurückgekehrt schrieb er an das Ministerium und bat um Entlassung aus dem Rektorenamt, da er mit den Bestimmungen des Gesetzes „nicht übereinstimmte“ (UA Stuttgart, SN 1/35, Bl. 17). Tatsächlich war er nicht ganz „arisch“ und wurde nach den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 als „Mischling II. Grades“ eingestuft. Seine Frau war Jüdin. Das Entlassungsgesuch wurde binnen Wochenfrist genehmigt.
Zwar durfte der Kriegsteilnehmer seine Professorenstelle behalten, es war ihm aber sehr früh klar, dass er und seine Kinder keine Zukunft im „Dritten Reich“ hatten. Noch hoffte er, dass das Regime sich nicht lange halten werde, und blieb in Stuttgart bis die Nürnberger Gesetze inkraft traten. Als im Dezember 1936 der NS-Dozentenführer bei einer Veranstaltung erklärte, dass Objektivität nicht mehr für deutsche Wissenschaft gültig und akzeptabel sei, verließ Ewald aus Protest die Sitzung. Er wurde zum Rektor zitiert, seine frühzeitige Pensionierung folgte. Jetzt war Emigration unumgänglich. Ewalds Freund Sir Lawrence Bragg besorgte ihm einen zweijährigen Forschungs- Grant an der Universität Cambridge. Als „research fellow“ der Universität organisierte Ewald bald Seminare und diskutierte aktuelle Probleme der Physik des Festkörpers mit jüngeren Wissenschaftlern.
Im April 1939 konnte Ewald an der Universität Belfast als „lecturer“ (Dozent) beginnen. Er sollte alsbald zum Professor befördert werden, was sich dann aber bis zum Kriegsende hinzog. Ewald unterrichtete damals zukünftige Ingenieure in den Grundlagen der Physik. Das bedeutendste Ergebnis seiner Tätigkeit während der Jahre in Großbritannien ist wohl die Gründung der Internationalen Union der Kristallographie mit ihrer Zeitschrift „Acta Crystallographica“, woran er 12 Jahre lang als Herausgeber wirkte. Im März 1944 hielt Ewald einen Vortrag am Physikalischen Institut der Universität Oxford über den „Status der Kristallographie in der Naturwissenschaft gestern, heute und morgen“ und erklärte, die Kristallographie, bisher zwischen Physik, Chemie und Mineralogie eingeordnet, sei für die Institutionalisierung als selbstständige Wissenschaft reif. Der in „Nature“ veröffentlichte Vortrag gab Kristallographen in Großbritannien und in den USA einen entscheidenden Impuls, insbesondere William Lawrence Bragg. Nach mehreren Jahren Vorbereitung tagte der I. Kongress der Union im Mai 1948 an der Harvard University. Bragg wurde zum Präsidenten, Ewald zum Vizepräsidenten und Herausgeber der Zeitschrift der Union gewählt.
1949 nahm Ewald einen Ruf an das Polytechnische Institut Brooklyn, heute Polytechnical University of New York, an. Als Professor und Leiter der Physikalischen Abteilung stellte er die Forderung, ein neues Lehrprogramm für Studierende zu erarbeiten; eine gute Mannschaft von Forschern bildete sich um ihn. Aus dieser Zeit stammen wichtige Arbeiten mit jüngeren Kollegen über die Physik von Festkörpern. 1959 emeritierte Ewald und siedelte zunächst nach Milford, 1971 nach Ithaca, wo die ältere Tochter Rose mit Familie wohnte.
Mehrmals besuchte er Deutschland: 1959 war er in Berlin zum 80. Geburtstag von Max von Laue und 1962 in München beim Festkolloquium zum 50. Jubiläum der Röntgen-Diffraktion. Dann kam er 1978 zur feierlichen Annahme der Max-Planck-Medaille und ging trotz seiner 90 Jahre nach Südtirol zum Bergsteigen. Zuletzt, 1979, kam Ewald zum Fest nach Berlin, das den 100. Geburtstagen von Albert Einstein, Otto Hahn, Luise Meitner und Max von Laue gewidmet war. Anschließend fuhr er nach Stuttgart zum 150. Jubiläum der Stuttgarter Universität.
Ewald arbeitete fast bis zum Lebensende mit jüngeren Kollegen, besaß bewundernswerte schöpferische Langlebigkeit. Seinen ersten Artikel hatte er als Gymnasiast publiziert, sein letzter erschien postum. Die vollständige Liste seiner Publikationen enthält 269 Titel. Kern seiner Arbeiten ist die Theorie der Röntgenkristallographie. „Ewalds dynamische Theorie der Röntgenstrahleninterferenzen gehört nach unserer Ansicht auf alle Zeiten zu den Meisterwerken der mathematischen Physik“, meinte von Laue (1931, S. 133). Während die „kinematische Theorie“ von William Lawrence Bragg u. Max von Laue vereinfacht als „Spiegelung“ der Röntgenstrahlen von den interkristallinischen Flächen und Interferenz der abgespiegelten Strahlung betrachtet wird, arbeitet die Theorie Ewalds mit dem realen Zusammenwirken der Röntgenstrahlen und der Atome des Kristallgitters. Um große mathematische Probleme zu lösen, entwickelte Ewald eine neue, auf der Vektorrechnung basierende Methode und führte mehrere bis heute gebräuchliche Fachbegriffe ein, darunter „reziproke Gitter“. Bereits Anfang der 1920er-Jahre erschienen Beobachtungen bezüglich der Intensität von Röntgen-Reflexen, die nur durch Ewalds dynamische Theorie erklärt werden konnten. Diese wurde 1928 bestätigt durch Präzisions-Messungen mit W. Ehrenberg und H. Mark. Allgemeine Anerkennung und Anwendung fand sie jedoch erst nach dem II. Weltkrieg, als man über bessere Apparaturen und Methoden verfügte, große perfekte Kristalle zu züchten und zu erforschen, wozu die dynamische Theorie eine Voraussetzung bildete. Die praktische Bedeutung von Ewalds Theorie wurde zur Grundlage für Kontroll-Methoden, um Kristalldefekte bei der Herstellung von Halbleiterkristallen nachzuweisen. Außerdem bildete Ewalds Theorie die Basis zum Aufbau der theoretischen Analyse von Elektronen-, Neutronen- und Protonen-Diffraktion.
Das wissenschaftliche Erbe Ewalds hat noch eine andere Seite. Ewald war Teilnehmer und Zeuge der historischen Umwandlung der „klassischen“ in die moderne Physik und eröffnete tiefe Zeitzeugen- Einblicke in Veränderungen von Weltanschauungen der Naturwissenschaftler bei jener Umwandlung. Bei der Geburt der modernen Kristallographie war er eine Schlüsselfigur. Seine Zusammenfassungen tragen immer analytischen Charakter. Zusammen mit zahlreichen Jubiläums-Artikeln, Nachrufen, einigen Buchbesprechungen, sowie seinen lebhaften Erinnerungen, auch Interviews 1962 und 1968 mit jeweils zwei Sitzungen, bieten sie einen wertvollen Schatz für Historiker der Naturwissenschaft, ja für die gesamte Zeitgeschichte.
Quellen: UA Göttingen Kur 7555, Assistenten des Mathemat. Instituts; BA Berlin, Bestand R4901, Nr. 840, Akte Ewald, Kopie im UA Stuttgart; UA Stuttgart 54/48, Personalakte Ewald (1949–1987), 127/7 Ehrenpromotion Ewald, SN 1/35, Erinnerungen Peter Paul Ewald zum 150jährigen Jubiläum d. Univ. Stuttgart, 1979; Auskünfte des UA München vom 8.9. u. 8.10.2014, des StadtA Göttingen vom 7.10.2014 u. des UA Göttingen vom 9.10. 2014.
Werke: Rundschau [Über N-Strahlen], in: Prometheus 16, 1904–1905, 174f.; Über die Messung d. Vertikalkomponente des Windes mittels des Vertikalanemometers, in: Physikalische Zs. 11, 1910, 1214-1216; Dispersion u. Doppelbrechung von Elektronengittern (Kristallen). Diss. phil. München, 1912; Die Berechnung d. Kristallstruktur aus Interferenzaufnahmen mit X-Strahlen, in: Physikalische Zs. 15, 1914, 399-401; Über die Vorzüge d. Vektorrechnung, in: Die Naturwissenschaften 2, 1914, 217-222; Die Intensität d. Interferenzflecke bei Zinkblende u. das Gitter d. Zinkblende, in: Annalen d. Physik 4. Folge, 44, 1914, 257-282; Zur Begründung d. Kristalloptik. Einleitung, Teil I: Theorie d. Dispersion, ebd. 49, 1916, 1-38; Teil II: Theorie d. Reflexion u. Brechung, ebd., 117-143; Teil III: Die Kristalloptik d. Röntgenstrahlen, ebd. 54, 1917, 519-597; Zum Reflexionsgesetz d. Röntgenstrahlen, in: Zs. für Physik 2, 1920, 332-342; Das „reziproke Gitter“ in d. Strukturtheorie, in: Zs. für Kristallographie 56, 1921, 129-156; Die Bedeutung d. Röntgenstrahlen für die moderne Naturwissenschaft, in: Klinische Wochenschr. 1, 1922, 2147-2150; Kristalle u. Röntgenstrahlen, 1923; Die Röntgenstrahlen u. d. Kristallbau, in: Strahlentherapie 28, 1924, 1-16; Allgem. Ergebnisse über den Aufbau d. festen Körper, in: Zs für Kristallographie 61, 1925, 1-17; (mit W. Ehrenberg u. H. Mark) Untersuchungen zur Kristalloptik d. Röntgenstrahlen, in: Zs. für Kristallographie 66, 1928, 547-564; Some modern developments of wave mechanics and their bearing on the understanding of crystal structure, in: Proceedings of the Faraday Society 25, 1929, 402-409; (mit C. Hermann) Strukturbericht 1913–1928, 1931; Buchbesprechung: H. Dingler, „Das Experiment. Sein Wesen u. seine Geschichte“, in: Dt. Literaturztg., 3. Folge, 2, 1931, 2006-2012; Zur Entdeckung d. Röntgeninterferenzen vor zwanzig Jahren u. zu Sir William Braggs 70. Geburtstag, in: Die Naturwissenschaften 20, 1932, 527-530; Der Weg d. Forschung (insbes. d. Physik). Rede bei d. Übernahme des Rektorats, 1932; Die Erforschung des Aufbaues d. Materie mit Röntgenstrahlen, in: H. Geiger, K. Scheel (Hgg.), Handb. d. Physik, Bd. XXIII, 2. Teil, 1933, 207-476; Historisches u. Systematisches zum Gebrauch des „Reziproken Gitters“ in d. Kristallstrukturlehre, in: Zs. für Kristallographie, 93, 1936, 396-398; Zur Begründung d. Kristalloptik. IV: Aufstellung einer allgem. Dispersionsbedingung, insbes. für Röntgenfelder, ebd. 97, 1937, 1-27; Elektrostatische u. optische Potentiale im Kristallraum u. im Fourierraum, in: Nachrichten von d. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen, N.F., Fachgruppe II, Bd. 3, 1937-1940, 55-64; International status of crystallography, past and future, in: Nature 154, 1944, 628-631; Editorial Preface, in: Acta Crystallographica 1, 1948, 1-2; Some personal experiences in the international coordination of crystal diffraktometry, in: Physics today 6, 1953, Nr. 12, 12-17; Vor fünfzig Jahren, in: O. R. Frisch u.a. (Hgg.), Beiträge zur Physik u. Chemie des 20. Jh.s, 1959, 145f.; The origin of the dynamical theory of X-Ray diffraction, in: Journal of the Physical Society of Japan 17, 1961, Supplement B-II, 48–52; Interview mit Thomas S. Kuhn vom 29.3. u. 8.5.1962: http://www.aip.org/history/ohilist/4523.html; (Hg. u. Mitverf.) Fifty Years of X-ray Diffraction, 1962; Personal reminiscences, in: Acta Crystallographica A24, 1968, 1-3; Erinnerungen an die Anfänge des Münchener Physikalischen Kolloquiums, in Physikalische Bll. 24, 1968, 538-542; Interview mit Charles Welner vom 17. u. 24.5.1968: http://www.aip.org/history/ohilist/4596.html; Arnold Sommerfeld als Mensch, Lehrer u. Freund, in: F. Bopp, H. Kleinpoppen, (Eds.), Physics of the One- and Two-Electron Atoms, 1969, 8-16; The myth of myths; Comments on P. Forman’s paper on „The discovery of the diffraction of X-rays in crystals“, in: Archive for history of exact sciences 6, 1969/ 1970, 72-81; Physicists I have known, in: Physics today 27, 1974, Nr. 9, 42-47; The early history of the International Union of Crystallography, in: Acta Crystallographica A 33, 1977, 1-3; Max von Laue – Mensch u. Werk, in: Physikalische Bll. 35, 1979, 337-349; A review of my papers on crystal optics 1912 to 1968, in: Acta Crystallographica A 35, 1979, 1-9; Max von Laue 1879-1960, in: Acta Historica Leopoldina Nr. 14, 1980, 23-29; Hermann, Carl, in: Dictionary of Scientific Biography 6, 1981, 303f.; Remembering Peter Debye in Munich, in: Physics today 38, 1985, Nr. 1, p. 9 u. 122; The so-called correction of Bragg’s law, in: Acta Crystallographica A 42, 1986, 411-413.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1929), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 99, UA Stuttgart, Fotosammlung, mit Genehmigung des UA Stuttgart – Physics today 6, 1953, Nr. 12, 12 (Foto von 1953); ebd. 27, 1974, Nr. 9, 42 (Foto von 1915), 47 (Foto von 1973); Stuttg. Ztg. vom 17.10.1979 (Foto von 1979, Ausschnitt im UA Stuttgart, SA2/2977) (vgl. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterb. V, 1925, 350, VI, Teil 1, 1936, 632f., VIIa, Teil 1, 1956, 544, VIII, Teil 2, 2002, 1071f.; W. Kaiser, Ewald, Peter Paul, in: Dictionary of Scientific Biography 17, 1990, 272-275; DBE 2. Aufl. 3, 2006, 187; M. von Laue, Die dynamische Theorie d. Röntgenstrahlinterferenzen in neuer Form, in: Ergebnisse d. exakten Naturwissenschaften 10, 1931, 133-158; L. Bragg, Professor Peter Paul Ewald, in: Acta Crystallographica B 24, 1968, 4 (mit Bildnachweis von 1925, Gruppe); R. Hosemann, Max-Planck-Medaille 1978 für Paul Ewald in: Physikalische Bll. 34, 1978, 715-718 (mit Bildnachweis); G. Hildebrandt, 62 Jahre Kristalloptik d. Röntgenstrahlen, ebd. 35, 1979, 55-64, 103-118; M. Renninger, Peter Paul Ewald †, in: Zs. für Kristallographie 173, 1985, 159-167 (mit Bildnachweis); G. Hildebrandt, Zum Tode von Peter Paul Ewald, in: Physikalische Bll. 41, 1985, 412f. (mit Bildnachweis); J. J. Dropkin, B. Post, Peter Paul Ewald †, in: Acta Crystallographica A 42, 1986, 1-5 (mit Bildnachweis); Editorial, Peter Paul Ewald. Memorial Issue, ebd. 409f.; H. J. Juretschke, A. F. Moodie, H. K. Wagenfeld, H. A. Bethe, Peter Paul Ewald †, in: Physics today 39, 1986, Nr. 5, 101-104 (mit Bildnachweis); H. Jagodzinski, Peter Paul Ewald †., in: Jahrb. d. Bayer. Akad. d. Wissenschaften 1986, 255-258 (mit Bildnachweis); H. Jagodzinski, Peter Paul Ewald †, in: Fortschritte d. Mineralogie 65, 1987, 1-3; H. A. Bethe, G. Hildebrandt, Peter Paul Ewald 1888–1985, in: Biographical memoirs of fellows of the Royal Society 34, 1988, 133-176 (mit Bildnachweis); Lillian Hoddeson et al. (Eds.), Out of the Crystal Maze: Chapters from the History of Solid-State Physics, 1992, p. 36, 46-53, 627-631 (mit Bildnachweis); D. W. J. Cruickshank, H. J. Juretschke, N. Kato (Eds.) Peter Paul Ewald and his Dynamical Theory of X-ray Diffraction. A Memorial Volume for Peter Paul Ewald, 1992 (mit Bildnachweis u. Werken); M. Eckert, Peter Paul Ewald (1888–1985) im nationalsozialistischen Deutschland: eine Studie über die Hintergründe einer Wissenschaftleremigration, in: D. Hoffmann, M. Walker (Hgg.) „Fremde“ Wissenschaftler im Dritten Reich, 2011, 265-289 (mit Bildnachweis).
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