Wagner, Ernst August 

Geburtsdatum/-ort: 22.09.1874;  Eglosheim bei Ludwigsburg
Sterbedatum/-ort: 27.04.1938;  Heilanstalt Winnental
Beruf/Funktion:
  • Oberlehrer, Amokläufer und Schriftsteller
Kurzbiografie: 1884-1888 Volksschule Eglosheim
1889-1894 Besuch der Präparandenanstalt Nürtingen und des Lehrerseminars Esslingen; Erstes Staatsexamen mit der Note „gut“
1894-1895 Lehrergehilfe in Renningen
1895-1896 Lehrergehilfe in Böblingen
1896-1897 Lehrergehilfe in Röthenbach
1897-1898 Lehrergehilfe in Winzerhausen
1898-1899 Lehrergehilfe in Gerstetten und Oberreinbach
1899-1900 Lehrergehilfe an der Mittelschule I in Stuttgart
1900-1901 Amtsverweser in Heslach, Plieningen und Oppenweiler
1901-1902 Unterlehrer in Mühlhausen/Enz
1902-1911 Lehrer in Radelstetten
1911-1913 Oberlehrer in Degerloch
1913 4./5. Sep. Ermordung seiner fünfköpfigen Familie, Brandstiftung in Mühlhausen, Ermordung von neun Einwohnern und Verletzung von elf weiteren Personen
1913 Herbst Gerichtsprozess und intensive psychologische Untersuchung in Tübingen
1914 Einstellung des Prozesses wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit (Paranoia)
1914-1938 Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Heilanstalt Winnental
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1903 (Mühlhausen) Anna, geb. Schlecht
Eltern: Vater: Jakob Friedrich Wagner (1832-1876), Bauer
Mutter: Louise, geb. Roth (1838-1902)
Geschwister: 9
Kinder: 2 Söhne
2 Töchter
GND-ID: GND/119334380

Biografie: Martin C. Häußermann (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 291-293

Ernst Wagner stammt aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen. Der Vater wird als ein eingebildeter, unzufriedener und dem Alkohol verfallener Mann beschrieben, der nach seinem frühen Tod seiner Familie hohe Trinkschulden hinterlässt, was deren sozialen Abstieg beschleunigt. Die Mutter, eine düstere, pessimistisch eingestellte Frau mit ständigen Verfolgungsgefühlen, Migräne und Kopfzittern – mehrere Mitglieder ihrer Familie sind geisteskrank – heiratet nur wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes erneut, hat daneben jedoch verschiedene Liebhaber, weshalb schließlich die Ehe bald wieder geschieden wird. Der intelligente, atheistisch gesinnte Ernst August schlägt mit besten Noten die Ausbildung zum Lehrer ein und sympathisiert mit den radikalen Sozialisten um Clara Zetkin. Eine Station seines beruflichen Wirkens wird für seinen weiteren Lebensweg von schicksalhafter Bedeutung: Mühlhausen an der Enz. Während seines dortigen Wirkens als Unterlehrer fühlt er sich zu mehreren jungen Frauen hingezogen. Eine von ihnen, die Tochter des Adlerwirts Konrad Schlecht, wird von ihm geschwängert; er heiratet sie jedoch erst nach der Geburt des Kindes mehr aus Pflichtgefühl als aus Liebe. Jedoch nicht diese Heirat, sondern mehrere nicht genau rekonstruierbare sodomistische Vergehen im Sommer und Herbst 1901 in der Scheune seines späteren Schwiegervaters ändern seinen weiteren Lebensweg schlagartig. Immer in der Meinung, seine Umwelt wisse von diesem Fehltritt, lästere, höhne, beobachte, ja hetze ihn ohne Unterlass, entwickelt er ab diesem Zeitpunkt einen Verfolgungswahn („Paranoia“), der ihn letztendlich zum Massenmörder werden lässt. Dies erscheint umso tragischer, als sich später herausstellen sollte, dass sich niemand an irgendwelche sodomitischen Taten Wagners tatsächlich erinnern konnte. Auf jeden Fall steigert sich Wagner in den Folgejahren hinein in den Hass auf die Einwohner Mühlhausens, von denen er ja annahm, sie alle wüssten von seinem sexuellen Fehltritt und würden ihn überallhin verbreiten. Das Mordmotiv gegenüber seiner Familie war hingegen geprägt von einem tiefen Mitleid: er wollte sie nicht allein, hilflos und der Verachtung ausgesetzt in dieser Welt zurücklassen. Er schafft es, sein bereits seit langem geplantes Vorhaben vor seiner Umwelt verborgen zu halten, denn anders lässt es sich nicht erklären, dass er noch am Abend vor der Ermordung seiner Frau und seiner vier Kinder seelenruhig mit seiner Familie und seiner Vermieterin im Garten zusammengesessen haben kann, um dann kurz darauf zu Bett zu gehen, dabei das spätere Mordwerkzeug unter seinem Kopfkissen verbergend.
In den frühen Morgenstunden des 4. September 1913 steht Wagner auf, schlägt seine neben ihm schlafende Ehefrau zunächst mit einem Totschläger bewusstlos, um sie dann mit einem Dolch zu erstechen. Nur mit einem Nachthemd bekleidet geht er hernach ins Schlafzimmer seiner beiden Söhne, erdolcht dieselben ebenso wie anschließend seine beiden Töchter. Er bedeckt die Leichen mit ihren Bettdecken, zieht sich an und verlässt alsbald ohne jegliches Anzeichen von Erregung oder Panik das Haus. Mit drei Schusswaffen und über 500 Patronen Munition macht er sich mit seinem Fahrrad per Zug auf den Weg nach Mühlhausen, das er nach Pausen in Ludwigsburg und Bietigheim am Abend desselben Tages gegen 23 Uhr auch erreicht.
Sein Plan ist, Rache zu nehmen an allen, die ihn – vermeintlich – gedemütigt und verspottet haben. Alle erwachsenen Männer in Mühlhausen will er töten, dazu die Familie seines Bruders in Eglosheim, um am Ende im von ihm in Brand gesteckten Ludwigsburger Schloss im Bett an der Seite der Herzogin Selbstmord zu begehen.
Er beginnt sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, indem er zunächst in Mühlhausen eine Scheune in Brand steckt. Als der Nachtwächter den Brand entdeckt und Alarm schlägt, fallen Schüsse. Nahezu gleichzeitig bricht an mehreren Stellen im Ort Feuer aus, darunter auch in der Scheune des Gasthofs „Adler“ – dem Elternhaus seiner Ehefrau. Ein schwarz vermummter Mann wird gesehen, wie er durchs Dorf eilt und wahllos auf jeden schießt, der ihm entgegentritt oder sich auch nur am Fenster zeigt. Erst als Wagner seine beiden Pistolen leergeschossen hat, gelingt es einigen Männern, ihn zu überwältigen. Die Bilanz seiner Tat ist grauenvoll: neun Tote und elf zum Teil Schwerverletzte in Mühlhausen, seine Frau und seine vier Kinder in Degerloch, dazu fielen fünf Hauptgebäude und etliche Nebengebäude dem von ihm gelegten Brand zum Opfer.
Wagner wird in Heilbronn vor Gericht gestellt. Allerdings erkennen die zuständigen Untersuchungsrichter ziemlich rasch, dass es sich beim Angeklagten wohl um einen Geisteskranken handeln muss und überstellen ihn Ende des Jahres 1913 zur näheren Untersuchung in die Tübinger Nervenklinik. Befragt nach dem Grund seiner Wahnsinnstat erwähnt er gegenüber seinem Gutachter Prof. Robert Gaupp immer wieder die Hetzjagd auf ihn nach seiner sodomitischen Verfehlung vor über zehn Jahren. Aufgrund seines, auch durch ein Zweitgutachten des Straßburger Psychiaters Prof. Robert Wollenberg diagnostizierten Verfolgungswahns, wird Wagner vom Landgericht Heilbronn für nicht schuldfähig erklärt und am 4. Februar 1914 vom dortigen Untersuchungsgefängnis in die „feste Abteilung“ der Nervenheilanstalt Winnental überführt.
Wagners Verfolgungswahn geht einher mit einer maßlosen Selbstüberschätzung. Schon vor seiner Tat beginnt er, Dramen zu schreiben und sieht sich alsbald als den größten deutschen Dichter, neben dem Schiller oder Goethe verblassen. In krassem Gegensatz vergleicht er sich einmal mit Cäsar, meint, er könne selbst ein großes Reich regieren, dann wieder schwelgt er geradezu in Selbstverachtung und Selbstmitleid. Bereits im Herbst 1909 fängt er an, eine heute verschollene Autobiographie zu verfassen, in der er ausdrücklich darauf verweist, seine Frau und seine Kinder töten und gegen Eglosheim, Ludwigsburg und Mühlhausen einen privaten Rachefeldzug führen zu wollen. Für den Tatzeitpunkt legt er zunächst das Frühjahr 1913 fest, verschiebt dann jedoch diesen Termin auf die letzten Tage der Sommerferien desselben Jahres.
In Winnental nun führt er diese schriftstellerische Tätigkeit bei zunehmendem Größenwahn fort. Mit der Neubearbeitung seines bereits vor seiner Tat verfassten Dramas „Absalom“ bewirbt er sich im März 1918 nicht nur um den deutschen Schillerpreis, er bietet es auch dem Staatstheater in Stuttgart, der Universität Tübingen und dem Stuttgarter „Neuen Tagblatt“ an, geizt dabei nicht mit Vergleichen mit Schiller oder Goethe und verweist stets auf die besondere Ehre, die die Aufführung eines seiner Stücke für das jeweilige Theater bedeuten würde.
Auch auf politischer Ebene bietet Wagner ein unbeständiges Bild. Zunächst streng sozialistisch denkend wendet er sich 1918 an die Reichsregierung und bittet um eine Ausbildung zum Maschinengewehrschützen und um einen Einsatz an der Front. In einem Brief an seine Schwester 1919 verweist er in der ihm eigenen Überheblichkeit darauf, dass unter seiner Ägide Deutschland den Krieg gewonnen hätte. 1938 erklärt er den Mord an seinen eigenen Kindern damit, dass er doch nur praktische Rassenhygiene, ganz im nationalsozialistischen Sinne, betrieben hätte, sieht er sich doch als minderwertig wegen seiner einstigen sexuellen Verfehlung – ein Punkt, den er auf seine Kinder vererbt zu haben glaubt. Doch wenig später, noch kurz vor seinem Tode im selben Jahr wendet er sich gegen Hitler und stellt sich auf die Seite Frankreichs, meint, die Franzosen hätten bereits 1933 in Deutschland einmarschieren und Hitler sowie das Deutsche Reich vernichten müssen.
In welcher Hinsicht auch immer: Wagner vermittelt stets ein paranoides Bild von sich selbst. Auf der einen Seite gefühls- und regungslos, als er seine eigene Familie, danach fremde Personen erschießt, auf der anderen Seite durch und durch von Selbstzweifeln aber auch von Selbstüberschätzung und Größenwahn besessen. Mit dieser Zwiespältigkeit seines Wesens stirbt er am 27. 4. 1938 in der Heilanstalt Winnental im Alter von 64 Jahren.
Quellen: StAL F 235 II Zugang 2001/39 Bü 4691; F 209 I Bü 138 und 727; F 209 II Bü 421; UA Tübingen 669/39399 (Krankenakte Nervenklinik); 309/7782 (Gutachten Prof. Gaupp).
Werke: 1. unter dem Pseudonym Walther Ernst: Bilder aus dem alten Rom. Schauspiel, 1906; Nero. Historisches Schauspiel in 3 Akten, 1907; David und Saul. Drama in 5 Akten, 1909; 2. unter dem Namen E. Wagner: Absalom. Drama, 1919; Saul. Drama in fünf Aufzügen, 1920; Wahn – König Ludwig II. von Bayern. Drama in drei Akten, 1921; Die Landhofmeisterin. Schauspiel, 1922.
Nachweis: Bildnachweise: UA Tübingen 669/39399 Dezember 1913.

Literatur: (Auswahl) Hermann Hesse, Klein und Wagner; Robert Gaupp, Hauptlehrer Wagner. Zur Psychologie des Massenmords, hg. von Bernd Neuzner, 1996, ND der Ausg. von 1914); Bernd Neuzner/Horst Brandstätter, Wagner – Lehrer, Dichter, Massenmörder, 1996 (299-305 weitere Literatur); Klaus Foerster, (Hg.), Wahn und Massenmord. Perspektiven zum Fall Wagner, 1999.
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