Gothein, Marie Luise 

Geburtsdatum/-ort: 12.09.1863; Passenheim/Ostpreußen
Sterbedatum/-ort: 24.12.1931;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Schriftstellerin, Kulturhistorikerin
Kurzbiografie: Kindheit in Passenheim, Schulbesuch in Breslau
1885 Karlsruhe
1890 Bonn
1904/31 Heidelberg
1892-1914 wiederholt mehrwöchige Studienaufenthalte in England
1925-1926 Fernostreise: Indien, Indonesien, Japan, China
1931 Dr. phil. h. c. der Universität Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1885 (Breslau) Eberhard Gothein (1853-1923) Nationalökonom, Kulturhistoriker
Eltern: Vater: Constantin Schroeter, Amts-, später Landgerichtsrat
Mutter: Hermine Auguste, geb. Leonhardy
Geschwister: 7: 2 Brüder, eine Schwester, 4 weitere Geschwister früh verstorben
Kinder: 4:
Wolfgang (1886-1958)
Wilhelm (1888-1914)
Werner
Percy
GND-ID: GND/119368048

Biografie: Clemens Siebler (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 99-102

Gothein gehörte zu jener Reihe bedeutender Frauen, die am Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbaren Anteil an der geistigen Beweglichkeit der Universitätsstadt Heidelberg hatten. Zu ihnen zählten besonders Elisabeth Jaffe, Gertrud Jaspers (1879-1974) und Marianne Weber (1870-1954). An der Seite ihres Mannes war sie in vielseitige gesellschaftliche Kontakte getreten, und ob ihrer intellektuellen Fähigkeiten hatte sie in den Gelehrtenkreisen viel Anerkennung und Bewunderung gefunden. Mit nie erlahmender Energie und außergewöhnlichen Gaben des Geistes ausgestattet erwies sie sich auf wissenschaftlichem Gebiet ungemein produktiv; sie war erfüllt von allseitigem Erkenntnis- und Erlebnisdurst und „leidenschaftlichem Bildungswillen“ (E. Salin). Dabei hat sie nie ihre Aufgaben als kundige Hausfrau und umsorgende Mutter ihrer vier Söhne vernachlässigt. Obwohl sie nie das Gymnasium oder eine Hochschule besuchen konnte, wurde ihr, nur wenige Monate vor ihrem Tod, die seltene Auszeichnung einer Ehrendoktorwürde zuteil. Ihre Kindheit und Jugend hatte Gothein im ostpreußischen Passenheim und in Breslau verbracht, wo ihr Vater Richter war. Sie selbst wollte Lehrerin werden. Mit dem zehn Jahre älteren Privatdozenten Eberhard Gothein, der sie 1878 an einer privaten Mädchenschule vertretungsweise unterrichtet hatte, verheiratete sie sich 1885. Noch im selben Jahr übernahm ihr Mann eine Professur für Nationalökonomie in Karlsruhe. Mit ihm kam Gothein über Bonn nach Heidelberg (1904), wo er als Nachfolger von Max Weber bis zu seinem Tode blieb.
Besonderer Wertschätzung erfreute sich Gothein in den Kreisen der Kollegen und Freunde ihres Mannes. Vorbild und zugleich heimliche Rivalin war Marianne Weber. Wo immer die Professoren den Gedankenaustausch und die Geselligkeit pflegten, brach sie aus der damals gebotenen weiblichen Zurückhaltung aus, denn ihrem Wesen nach war sie weit stärker produktiv als rezeptiv veranlagt. Als der geistige Mittelpunkt ihrer Familie war sie vor allem als Gastgeberin wortführend, und ihre bevorzugten Gesprächspartner waren, ohne Rücksicht auf das Alter, gescheite Leute, vornehmlich der Männerwelt. Frauen fand sie meist langweilig und begegnete ihnen eher kühl und reserviert. Daher hatte sie, ganz anders als Marianne Weber oder Elisabeth Jaffe, für die Frauenbewegung kaum Verständnis. Unschwer erkennt man hier den Einfluss der emanzipationsfeindlichen Haltung von Stefan George (1868-1933), mit dem sie seit 1910 über ihren jüngsten Sohn Percy in näheren Kontakt getreten war. Eine solche Denkart entsprach ganz dem Wesen der ausgeprägten Individualistin und Aristokratin des Geistes. Mit einem unstillbaren Erkenntnisdrang ging sie immer neue Lebens- und Wissensgebiete an. So sehr war sie „Wissensmensch, dass in ihrem etwas spröden Naturell das eigentlich Weibliche ganz von einem forschenden Intellekt zum Schweigen gebracht schien“ (L. Curtius).
Ihre erste Veröffentlichung (1893) war eine Studie über William Wordsworth (1770-1850); ein ähnlich konzipiertes Werk über John Keats (1795-1821) folgte 1897. Wichtige Vorarbeiten zu diesen beiden Publikationen hatte sie während eines London-Aufenthaltes am Britischen Museum gemacht. Ihre leidenschaftliche Reisefreude war zeitlebens unmittelbarer Ausfluss ihres Wissensdrangs. Unter Gotheins Nachdichtungen englischer Autoren finden sich auch Gedichte von Elizabeth Barrett-Browning (1806-1861), mit der sie sich in besonderer Weise wesensverwandt fühlte. In das Jahr 1914 fiel eine Nachdichtung von „Gitanjali“ (,Sangesopfer‘) des indischen Philosophen und Dichters Rabindranath Tagore (1861-1941). Noch bevor ihm 1913 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden war, war Gotheins Manuskript beim Verlag K. Wolff in Leipzig eingegangen. Mit ihrer Übertragung aus dem Englischen hat sie nicht nur ihren eigenen Namen in breiten Kreisen bekannt gemacht, sondern auch dem Preisträger zu einer größeren Popularität im deutschen Sprachraum verholfen.
Neben ihrer kontinuierlichen Übersetzertätigkeit betrieb Gothein auch archäologische, literarische und religionsgeschichtliche Studien. Große Beachtung fanden ihre beiden gleichfalls 1914 erschienenen Bände „Geschichte der Gartenkunst“. Mit einer Untersuchung über die Entstehung des englischen Landschaftsgartens hatte sie 1903 in London dieses Standardwerk begonnen und hierfür ausgedehnte Reisen vornehmlich in die Mittelmeerländer unternommen.
Wie bei vielen Deutschen weckte auch bei Gothein der Ausbruch des I. Weltkrieges patriotische Hochstimmung; aber auch sie musste in der Folge viel Leid erfahren. Bereits am 22. August 1914 fiel ihr Sohn Willi in der Schlacht bei Neufchâteau (Belgien); schwer verwundet wurde ein Jahr später der jüngste Sohn Percy. Nicht minder litt sie unter dem Zusammenbruch des Jahres 1918 und den Gebietsverlusten im deutschen Osten im Zuge des Versailler Vertrages. Sie selbst fuhr im Sommer 1920 nach Allenstein, um von dort aus in ihrem masurischen Geburtsstädtchen Passenheim für den Verbleib ihrer Heimat beim Deutschen Reich zu votieren (11. 7. 1920).
Seit 1923 verwitwet wandte sich Gothein – wiederum unter dem Einfluss des George-Kreises – der Mystik und der asiatischen Kultur zu. Mit dem Besuch ihres ältesten Sohnes auf Celebes verband sie eine Weltreise, die sie über Indien nach Indonesien (Java, Bali), China und Japan führte (1925/26). Frucht der dort gewonnenen Eindrücke war ihr Buch „Indische Gärten“ (1926); es stellt eine wertvolle Ergänzung zur „Geschichte der Gartenkunst“ dar, die im selben Jahr ihre 2. Auflage erfuhr. Noch im vorgeschrittenen Alter hatte sie sich fundierte Kenntnisse des Sanskrit erworben. Für ihre Studien von großem Gewinn war dabei der geistige Austausch, den sie mit dem Heidelberger Indologen Heinrich Zimmer (1890-1943) pflegte.
Durch ihre Mitarbeit an der Shakespeare-Ausgabe, die der Insel-Verlag zwischen 1922 und 1927 besorgte, erwies sich Gothein abermals als Mittlerin englischer Dichtung in Deutschland. Ihrem verstorbenen Mann widmete sie 1931 „Ein Lebensbild“, und sie konnte auch die von ihm fast lebenslang vorbereitete Übersetzung der „Consolatio Philosophiae“ des Boethius in Druck geben, angereichert mit einem umfangreichen Nachwort aus ihrer Feder.
In Gotheins letztes Lebensjahr fiel die Verleihung der philosophischen Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg. Geehrt wurde die „in seltener Weise vielseitige und fruchtbare Schriftstellerin, die die verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete befruchtet, in ihren Übersetzungen künstlerische Interpretationen großer Dichter geboten und in der Lebensbeschreibung ihres Mannes ein Stück Kultur- und Geistesgeschichte lebendig gemacht hat“. Für Gothein war es eine große Freude, dass Friedrich Gundolf die Laudatio hielt. Mit dem Hause Gothein über viele Jahre freundschaftlich verbunden, war er wie kein anderer legitimiert, ihre menschlichen und intellektuellen Vorzüge herauszustellen: stetiges Bemühen „um die Erforschung des Erforschlichen aus einer weiblichen Lust – ja Neugier – am ‚schönen Überfluss der Welt‘ und mit mannhafter Helle, Tatkraft und Werkfreude“. Gothein, die nicht nur durch ihren Mann, sondern auch durch ihren Freundeskreis dauerhaft mit der Ruperto-Carola verbunden war, starb zu einem Zeitpunkt, als der alte Bekanntenkreis teils durch Weggang (z. B. L. Curtius, 1928), teils durch Tod (u. a. Friedrich Gundolf, gest. 1931) sichtbar in Auflösung begriffen war. Wie bei diesem geschätzten Freund ihrer Familie kann auch ihr Tod rückblickend als eine gnädige Bewahrung vor der wenig später einsetzenden Unterdrückung des freien Geistes gedeutet werden, die allein in Heidelberg zur Verdrängung von mehr als 40 Professoren führte, unter ihnen auch Heinrich Zimmer. Ihre noch im Mai 1931 begonnene Autobiographie „Erinnerungen meiner Kinderzeit“ blieb Fragment. Als Erinnerung an das Ehepaar Gothein wurde 1955 eine Straße in Heidelberg-Neuenheim nach ihnen benannt, 1995 in der Weberstraße 11 eine Gedenktafel angebracht.
Werke: Bibliographie (lückenhaft), in: Dt. Lit. Lexikon, begr. v. W. Kosch, Bd. 6, Sp. 618 f., 1978 3. Aufl.; ferner, in: B. Hahn, Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt, 1994, 299 f. – Einzeltitel (Auswahl): William Wordsworth. Sein Leben, seine Werke, seine Zeitgenossen, 2 Bde., 1893; John Keats. Leben u. Werke, 2 Bde., 1897; E. Barrett-Browning: Sonette nach dem Portugiesischen. Aus dem Englischen übers. von M. Gothein, 1903; Die Frau im engl. Drama vor Shakespeare, in: Jb. d. dt. Shakespeare-Gesellschaft, 40. Jg., 1904, 1-50; Der Gottheit lebendiges Kleid, in: Archiv für Religionswissenschaft, 9. Bd., 1906, 337-364; Die Todsünden, ebd., 10. Bd., 1907, 416-484; Rabindranath Tagore, Gitanjali (Sangesopfer). Nach der von R. T. selbst veranstalteten engl. Ausg. ins Deutsche übers. v. M. L. Gothein, 1914; Geschichte d. Gartenkunst, 2 Bde., 1914, 1926 2. Aufl., Nachdr. d. 2. Aufl. 1977 u. 1988; A history of garden art, ed. by W. P. Wright, translated from the German by Mrs. Archer-Hind M. A., with over six hundred illustrations, 1928, Nachdr. 1966 u. 1979; Indische Gärten (mit 71 Abb.), 1926; William Shakespeare, Cymbelin. Nach der Übertr. Dorothea Tiecks bearb. v. M. L. Gothein, (Werke in Einzelausgaben) 1922; ders., Romeo u. Julia. Nach d. Übertr. A. W. Schlegels bearb. v. M. L. Gothein, ebd., 1923; ders., Viel Lärm um nichts. Aufgrund d. Baudissin-Tieckschen Übertragung bearb. v. M. L. Gothein, 1925; ferner: Romeo u. Julia (s. o.), in: W. Shakespeare, Meisterdramen, Bd. 2, 1927; Viel Lärm um nichts (s. o.), ebd., Bd. 5, 1927; Die Stadtanlage von Peking. Ihre hist.-philosoph. Entwicklung, in: Wiener Jb. f. Kunstgesch. Bd. 7, 1930, 7-33; Eberhard Gothein Ein Lebensbild, seinen Briefen nacherzählt, 1931; Boethius, Consolationis Philosophiae libri quinque (Trost der Philosophie) lat. u. dt. Übertr. v. Eberhard Gothein, mit einem Nachwort von M. L. Gothein, 1932; dass., hg. v. Wolfgang Gothein, 1949.
Nachweis: Bildnachweise: Heidelberger Tageblatt Nr. 301 vom 28.12.1931, 5; Ruperto-Carola 1963, 82 u. 84; Frauen in den Kulturwissenschaften, 1994, 45 (vgl. Lit.).

Literatur: Gothein R., Frau M. L. Gothein †, in: Heidelbg. Tageblatt Nr. 301 vom 28.12.1931, 5; M. Weber, Lebenserinnerungen, 1948, 209 f.; E. Salin, Um Stefan George. Erinnerungen u. Zeugnis, 1954 2. Aufl., passim; L. Curtius, Deutsche u. antike Welt. Lebenserinnerungen, 1958, 242; E. Salin, M. L. Gothein, in: Ruperto-Carola. Mitt. d. Vereinigung d. Freunde d. Studentenschaft d. Univ. Heidelberg. e.V., 15. Jg. Bd. 34, 1963, 81-85; Chr. Göttler, M. L. Gothein (1863-1931). „Weibliche Provinzen” d. Kultur, in: Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt, hg. v. B. Hahn, 1994, 44-62 u. 294-300; BK, Ihre Namen stehen für liberale Geisteskultur. Gedenktafel für das bedeutende Gelehrtenehepaar M. L. u. E. Gothein in der Weberstraße eingeweiht, in: RNZ vom 30. 11. 1995.
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