Hartmann, Richard Paul 

Geburtsdatum/-ort: 08.06.1881;  Neunkirchen bei Bad Mergentheim
Sterbedatum/-ort: 05.02.1965; Berlin-Dahlem
Beruf/Funktion:
  • Orientalist
Kurzbiografie: 1889–1899 Lateinschule Bad Mergentheim bis 1895, dann ev.-theolog. Seminare in Maulbronn bis 1897 u. Blaubeuren
1899–1904 Studium d. ev. Theologie u. semitischen Philologie in Tübingen, 1904 I. theolog. Dienstprüfung
1904/5 im WS Studium d. Orientalistik an d. Univ. Berlin
1905–1910 wiss. Hilfsarbeiter an d. UB Tübingen
1906–1907 VI. Promotion bei C. F. Seybold, Tübingen: „Die geographischen Nachrichten über Palästina u. Syrien in Halīl az-Zāhirīs zubdat kašf al-mamālik“
1910 X.–1913 III. Mitredakteur an d. „Enzyklopädie des Islam“ in Leiden, NL
1914 V.–1917 Habilitation bei Georg Jacob an d. Univ. Kiel: „Das Sūfītum nach al-Kuschairī“, dann Privatdozent in Kiel
1915 XII.–1916 VI. Militärdienst beim Landsturm in Lübeck
1917 VII.–1930 ao. Professor an d. Univ. Kiel bis Juli 1918, dann in Leipzig bis Juni 1922; o. Professor in Königsberg bis Aug. 1926, dann in Heidelberg bis März 1930
1928 VII.–1935 V. Mithg. d. „Orientalistischen Literaturzeitung“, OLZ
1930 III.–1936 IV. o. Professor in Göttingen
1935 V.–1961 XII. Haupthg. d. OLZ, von Juli 1944 bis Dez. 1952 nicht erschienen
1936–1950/51 o. Professor für Arabistik u. Islamkunde an d. Univ. Berlin, 1951 emeritiert
1937 X.–1950 Hg. d. Sammeltitels „Porta linguarum orientalium“
1947 IV.–1955 XII. Direktor des Instituts für Orientforschung d. Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Mitgl. d. Dt. Morgenländ. Gesellschaft, DMG (1910), II.Vorsitzender (1940– 1948), Ehrenmitgl. (1950); o. Mitgl. d. Akad. d. Wiss. Göttingen (1931); o. Mitgl. d. Preuß. Akad. d. Wiss. (= Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin) (1939); Korresp. Mitgl. d. Kongelige Danske Videnskabernes Selskab (1951); D. theol. h.c. d. Martin-Luther-Univ. Halle (1954); Korresp. Mitgl. d. Académie Arabe, Damaskus; Mitgl. des Dt. Archäolog. Instituts u. d. Türk Tarih Kurumu.
Verheiratet: 1914 (Amsterdam?) Frederika Johanna, geb. Insinger (1885–1968)
Eltern: Vater: Georg August Moriz (1846–1930) Pfarrer
Mutter: Thekla, geb. Schleißing (1850–1926)
Geschwister: Elisabeth (geboren 1876)
Kinder: 3; Georg Albrecht (1915–1945?), Thekla Maria Mechthild (1918–1999) u. Jan Herman Maurits (1920–1943);
ein Enkel, Hermann (geboren 1943), Sohn des Georg Albrecht
GND-ID: GND/119489228

Biografie: John Miller (aus dem Englischen von Jörg Schadt) (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 139-144

Als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Württemberg, der Theologie studieren wollte, wurde Hartmanns Bildungsgang ganz traditionell durch die Seminare Maulbronn und Blaubeuren sowie das Stift Tübingen bestimmt. Im Wintersemester 1904/05 wandte er sich jedoch in Berlin der Arabistik und der türkischen Sprache zu. Reisen im Maghreb, Ägypten und Palästina 1905/06 machten vollends seine Abkehr vom Beruf eines Geistlichen deutlich. Sein wissenschaftliches Interesse entzündete sich zuerst an der Historischen Geographie des Mittleren Ostens, was seine Veröffentlichungen bis 1914 bestimmte. Spätere sporadische Beiträge auf diesem Gebiet zeigten ein hohes Maß an Gelehrsamkeit und gelegentlich glänzende Einblicke. Eine entscheidende Wende bot sich Hartmann 1910 durch das Angebot, dem Herausgeberstab der „Enzyklopädie des Islam“ in Leiden beizutreten; er betreute als Mitherausgeber den Band 1 der deutschen Ausgabe und war für den deutschen Text aller Beiträge verantwortlich, schrieb aber selbst auch welche. In Leiden sammelte er Erfahrung mit allen Aspekten des Islam und knüpfte wissenschaftliche Kontakte, die ein Leben lang hielten. Hier hatte er auch seine künftige Frau kennen gelernt, die aus einer Amsterdamer Bankiersfamilie kam. Zur Habilitation ging er dann nach Kiel, wo Georg Jacob ihn in die islamische Mystik einführte. Hartmanns Habilitationsschrift über den Sufismus brachte ihn wie von selbst zur Soziologie der Volksfrömmigkeit im Islam, dem Gegenstand späterer Arbeiten.
Charakterlich war Hartmann still und bescheiden, in sich gekehrt, fast etwas ängstlich, in persönlichen Beziehungen aber fair und rücksichtsvoll, freundlich und geduldig als Lehrer sowie selbstbeherrscht. Hartmann war sich stets bewusst, was er der Gesellschaft und ihrer Kultur schuldete, von daher ein Teamplayer, kein Karrierist. „Die Sprache ist doch schließlich nicht zum Verstecken, sondern zur Mitteilung der Gedanken da!“ schrieb er in seinem Aufsatz „Zu Hortens Bemerkungen“, abhold jeder Mystifizierung durch Fachjargon. Hartmann förderte Sorgfalt in der Interpretation des Texts und Kontexts sowie Achtsamkeit vor den Quellen und scheute jede Spekulation darüber hinaus. Seine Ansichten vor und während des I. Weltkriegs waren liberal und antimilitaristisch geprägt. 1918 trat er der DDP bei, wobei seine Motive dafür unklar sind wie seine Reaktion auf den Versailler Vertrag. Sein Austritt aus der DDP 1920 mag damit zusammenhängen, dass der Liberalismus ihn wie viele andere enttäuscht hatte.
In den Jahren 1926 bis 1930 war Hartmann äußerst produktiv. Er gehörte zu den ersten Wissenschaftlern, die aus erster Hand über die Nachkriegstürkei schrieben. In seinem Werk „Im neuen Anatolien“ beschrieb er den Kampf der Türken gegen die griechischen Invasoren als den schmerzhaften Prozess, der die moderne türkische Nation hervorbrachte. In „Die Welt des Islam einst und heute“ und „Die Krisis des Islam“ wies er darauf hin, wie der Einfluss des Westens und besonders der Krieg viele Moslems dazu gebracht hatte, mit der ehrwürdigen, aber mittelalterlichen Zivilisation des Islam zu brechen und eine Suche nach einem reformierten Glauben in einer sich modernisierenden Gesellschaft und Kultur zu beginnen. In einem vierten Buch veröffentlichte Hartmann eine zeitnahe Quelle über den Sieg der Ottomanen über die Mameluken und die Einverleibung Syriens und Ägyptens in ihr Reich. 1928 trat Hartmann der Schriftleitung der „Orientalistischen Literaturzeitung“, OLZ, bei, dem renommierten Besprechungsorgan des J. C. Hinrichs Verlags in Leipzig.
Zu Hitlers „Machtergreifung“ sagte Hartmann später, er habe gehofft, die Nazis würden ihre unmöglichen Vorstellungen aufgeben, so dass letztendlich aus der allgemeinen „Gärung“ sich etwas Gesundes ergebe, eine naive Hoffnung, die aber von weiten bürgerlichen Kreisen geteilt wurde. Seine eigene Naivität zeigte sich, als er im April mit 41 anderen Göttinger Dozenten einen Protestbrief gegen den jüdischen Physiker James Franck unterschrieb, der sein Amt aus Solidarität mit den vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Betroffenen niedergelegt hatte. Jede weitere öffentliche Unterstützung der neuen Machthaber hat er, wie es scheint, unterlassen. 1935 wurde deutlich, dass Hartmann seine Lektion gelernt hatte: Seine Loyalität galt in erster Linie der Wissenschaft, die er durch das NS-System bedroht sah. Als seine Pflicht empfand er, Wissenschaft und Gelehrte seines Fachs so gut wie möglich abzuschirmen. Sofern ein Kompromiss mit dem Regime unvermeidlich war, versuchte er sicherzustellen, dass dieser seinem Gewissen entsprach und niemanden gefährdete, für den er verantwortlich war.
Nach dem plötzlichen Tod von Walter Wreszinski, dem Hauptherausgeber der OLZ, im April 1935 ließ ihn der Verlag wissen, dass er als sein und Wreszinskis Kandidat die Nachfolge antreten solle. Sicher würde ihn diese Aufgabe von eigener Forschung abhalten. Dennoch wünschte er den Posten. Ein Milieu sorgfältiger Besprechungstätigkeit schien ihm lebensnotwendig für die Ausbildung junger Wissenschaftler ebenso wie für die Feststellung offener Forschungsthemen. Vor der Vertragsunterzeichnung erörterte er mit dem Verlag die Schwierigkeiten, die der OLZ vom Regime her erwachsen könnten. Das erwies sich als klug. Horst Junginger weist nämlich nach, dass nach dem Tod Wreszinskis der Indologe J. W. Hauer bei Alfred Rosenberg dahin wirkte, bei der Besetzung der Herausgeberstelle seinen Einfluss geltend zu machen und einen NS-Protégé zu nominieren.
Anfang 1936 wurde der fällige Staatszuschuss, von dem die OLZ abhing, nicht überwiesen, und man ließ Hartmann wissen, dass eine Weiterzahlung nur erfolge, wenn die Schriftleitung ganz „arisch“ sei; das 6-köpfige Gremium umfasste zwei Juden, wovon einer bereits seine Auswanderung plante; Hartmann hatte seinen Rücktritt schon akzeptiert, den anderen – den er bereits auf diesen möglichen Fall hingewiesen hatte – musste er jetzt um seinen Rücktritt bitten. Hartmann erhielt ihn, aber die Begegnung hatte ihn tief aufgewühlt. Während dieses Frühlings bekam er eine Bronchitis, worunter er über sieben Monate litt. Sein Gesundheitszustand zeigte von da an ein Grundmuster: Im Spätwinter kamen Virusinfektionen, denen monatelang eine Bronchitis und schließlich Sanatoriumsaufenthalte im Juli oder August folgten. Die heutige Medizin vermutet, dass nichtphysiologische Ursachen wohl Widerstandskräfte mindern. Auch wenn die genauen Ursachen unbekannt sind, steht zu vermuten, dass Hartmann unter Stress stand, ein Stress aber ganz anderer Art als in den 1920er-Jahren und in der zweiten Hälfte des Jahres 1945.
1936 änderte sich Hartmanns wissenschaftliches Blickfeld in höchst interessanter und für einen Philologen ungewöhnlicher Weise. Von da an bis 1944 beschäftigten sich zwei Drittel seiner Forschungspublikationen mit den gegenwärtigen Zuständen islamischer Länder. Wenn man sich schon mit fremden Gesellschaften befasste, so meinte Hartmann, habe der Forscher die Pflicht, die Öffentlichkeit über diese Gesellschaften zu informieren. Er wusste, dass er sehr viel nützlichere Analysen bieten könne als das Material, das das Regime herausbrachte. Einige seiner Analysen haben sich auf die Dauer zwar nicht halten lassen, sind aber noch immer lesenswert, besonders die Geschichte des französischen Mandats in Syrien, die 1940 unter dem Pseudonym Paul Richard erschien. Hartmann wusste, dass in dieser Veröffentlichungstätigkeit Gefahren lauerten. In einem Briefwechsel mit Leopold Klotz, dem neuen Inhaber des J. C. Hinrichs Verlags, diskutierte Hartmann die Probleme, erstklassige Werke unter einer Diktatur zu schreiben. Besonders beunruhigte ihn die Möglichkeit, dass das Regime vom Entstehen eines hochwertigen Werks Wind bekommen könnte, und dann irgendeinen Schreiberling zu diesem Thema gewinnen und so Druck auf den Verleger ausüben würde. Vielleicht ergriff er 1941 deshalb eine neue Gelegenheit.
Mit dem Afrikafeldzug stellte sich heraus, dass nur wenig verlässliches und zugängliches Material über den Islam für den Gebrauch der Wehrmacht vorhanden war. Eine Gruppe von Fachleuten und Repräsentanten der NSDAP und der Wehrmacht kam zu dem Schluss, dass ein Handbuch der Religion des Islam notwendig und dass Hartmann „der bestgeeignete Fachmann hierfür“ sei. Im Spätsommer 1941 wurde er von der Universität zum Reichsforschungsrat abgeordnet und teilte dies Klotz in einem aufgeregten, aber vorsichtigen Brief mit. Er würde gezögert haben, wegen der Gefahr eines äußeren Eingriffs einem privaten Verleger das Buch anzuvertrauen, aber im RFR glaube er sicher zu sein. Damit begann eine 20-monatige Phase geistiger Produktivität. Hartmann schrieb nun „Die Religion des Islam“, „Islam und Politik“ und den größten Teil von „Islam und Nationalismus“. 1942 verzichtete er auf die übliche Sommerkur.
Die „Religion des Islam“ ging im März 1943 an den Verleger, und Hartmann kehrte zur Universität zurück. Aber nun kam ein Schlag nach dem andern. Beide Söhne waren bei der Wehrmacht. Georg Albrechts Eheschließung während eines Lazarettaufenthalts führte zu einem tiefgehenden Zerwürfnis mit den Eltern. Im Oktober erreichte sie die Nachricht, dass Jan Herman bei Kiew als vermisst galt. Nach dem verheerenden Luftangriff vom 3./4. Dezember 1943 teilte ihm Leopold Klotz mit, dass die Verlagsdruckerei zusammen mit den Manuskripten für vier Hefte der OLZ vernichtet worden sei.
Im November 1943 forderte Ernst Kaltenbrunner in einem heimtückischen Ansinnen die Deutsche Morgenländische Gesellschaft, DMG, auf, eine „Arbeitsgemeinschaft Turkestan“, AGT, zu gründen. Diese solle Informationen über die islamischen Republiken der Sowjetunion von Kriegsgefangenen und Überläufern sammeln. Die DMG solle nach außen als Trägergesellschaft der AGT auftreten, tatsächlich aber würde sie insgeheim von der SS finanziert und geführt werden, der DMG-Vorstand, dem Hartmann als 2.Vorsitzender angehörte, solle dies aber gegenüber den Mitgliedern verbergen. Es wäre selbstmörderisch gewesen, hier nicht klein beizugeben. Da die SS im Frühjahr 1945 ihre Dokumente vernichtete, bleibt unser Bild von der AGT bruchstückhaft. Es ist lediglich bekannt, dass diese von Reiner Olzscha, einem SS-Offizier, geleitet wurde und dass Hartmann als Chef der „Abteilung Islam“ geführt wurde. Ein komplexeres Bild ergibt sich aus einem Bericht eines SS-Offiziers (Olzscha?), den Pieter van Koningsveld ediert hat. Der Bericht beschäftigt sich mit der Organisation der Ausbildung von islamischen Feldgeistlichen. Ein derartiger Kurs fand in Dresden im Spätjahr 1944 statt. Olzscha holte sich bei Hartmann bezüglich des Unterrichts und des Lehrplans Rat und folgte ihm darin, als Dozenten nur Moslems, keine Christen auszuwählen. Er betont, dass Hartmann nur als Ratgeber fungierte und am Unterricht nicht teilnahm. Mehrmals erwähnt er die schlechte Gesundheit Hartmanns. Hartmann ging es in der Tat außerordentlich schlecht. Sein Zustand verschlimmerte sich zusehends seit er eine Grippe und im März 1944 wieder Bronchitis bekam, sodass er im April krankgeschrieben wurde. Das wiederholte sich bis zum Kriegsende mehrmals. Für sein Befinden sind die Diagnosen aufschlussreich: am Anfang Bronchitis und Erschöpfung, Anfang August „nervöse Erschöpfung“, später attestierte ihm ein Berliner Psychiater gar eine „schwere Zwangsneurose“.
Im August 1944 erschien „Die Religion des Islam“, denkbar ungünstig in Ort und Zeit fand das Buch in und außerhalb Deutschlands kaum Notiz. Die erste Besprechung legte Bertold Spuler in „Der Islam“ 1948 vor. Er empfahl es Laien und Studierenden gleichermaßen in warmen Worten. Spezialisten würden seine Klarheit und die souveräne Objektivität im Urteil schätzen. Von da an wuchs der gute Ruf des Werks; es wurde 1987 und 1992 neu aufgelegt. Gelehrte wie Albert Dietrich, H. R. Römer und Annemarie Schimmel hielten es für die beste Einführung in den Islam im deutschsprachigen Raum. Noch heute wird es Studenten empfohlen.
Hartmann überlebte den Fall von Berlin trotz schlechter Gesundheit. Er war seit 1939 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Von Mitte März 1944 bis Kriegsende besuchte er nur vier von insgesamt 26 Sitzungen. Dann geschah jedoch etwas Außerordentliches: Hartmann gehörte zum Rest eines Dutzend von ehedem 60 Mitgliedern, die sich am 6. Juni 1945 trafen, um die Akademie wieder in Gang zu setzen. Von da an bis ins Spätjahr 1946 ließ Hartmann nur zwei von 50 Sitzungen aus. Seine Briefe, die über ein Jahr von Not und Qual geprägt waren, zeigten ihn nun voll Kraft und Hoffnung. Auch wenn er Kummer genug hatte, zumal der zweite Sohn seit März als vermisst gemeldet war: für Hartmann kam der Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ als eine Art Befreiung.
Ekkehard Ellinger hebt hervor, dass Hartmann als einziger der „Berliner orientalistischen Elite“ dort blieb. Für Hartmann war dies eine Sache der Treue gegenüber seinen Studenten und jüngeren Kollegen, Loyalität gegenüber seiner Wissenschaft, ihrer Institutionen und Publikationen. Unter Verzicht auf eigene Forschung widmete er die nächsten acht Jahre hartnäckiger Wiederaufbauarbeit. Sein größter Erfolg war das Institut für Orientforschung der Akademie, das er von seiner Gründung im April 1947 an bis Dezember 1955 leitete. Die Arbeit dort war damals ein aufregendes und schöpferisches Erlebnis, das bestätigen seine Kollegen. Aber Hartmann musste bis Anfang 1953 warten, bis die OLZ wieder erscheinen konnte, zu einem Zeitpunkt, als er fast jede Geduld verloren hatte, und Werner Caskel lobte, dass Hartmann diese Arbeit erledige, „ohne dass auch nur ein Schatten der dort herrschenden Ideologie auf die Zeitschrift gefallen wäre.“ Es misslang Hartmann, eine Vereinbarung mit den Verantwortlichen zu treffen, die es der DMG ermöglichte, innerhalb der DDR tätig zu werden.
1954 begann seine Gesundheit wieder schwächer zu werden. Die Begeisterung der Nachkriegsjahre war erloschen, und die Absicht des SED-Regimes, die Akademie auf Parteilinie zu bringen, war kaum zu ignorieren. Aber er fuhr weiter von Dahlem in Westberlin zum Büro der OLZ Unter den Linden in den Osten der Stadt. Der Bau der Mauer bereitete dem ein abruptes Ende, und am 24. September 1961 schrieb Hartmann zornig an die Akademie, dass die jüngsten Ereignisse ihm die weitere Herausgabe der OLZ unmöglich machten.
Hartmann war in erster Linie ein Kulturhistoriker. Seine über 500 Arbeiten, davon zwei Drittel Besprechungen, lassen sich in fünf, miteinander verbundenen Feldern zusammenfassen: Historische Geographie, Islam als Religion, spätmittelalterliche Geschichte des Islam mit dem Brennpunkt Mamelukenstaat, ottomanische und moderne türkische Geschichte und Literatur, arabischer Modernismus und Nationalismus. Sie lassen also eine große Reichweite erkennen. Hartmanns Schwerpunkt auf Besprechungen verdeutlicht, dass er bestrebt war, mehr Generalist als radikaler Neuerer zu sein. Er konnte aber grundsätzlich neue Forschungsvorstöße kenntlich machen und sie großzügig würdigen. Sein Bestes leistete er bei Übersichten für interessierte Laien, weit mehr als in Spezialuntersuchungen für andere Wissenschaftler. Im ersten Fall ist seine Gelehrsamkeit tiefgehend und gewissenhaft, frei von jeder eitlen Zurschaustellung, in immer verständlicher Sprache. Von 1910 bis 1961 widmete Hartmann mehr Zeit der Verwaltungstätigkeit als man vom Durchschnittsakademiker erwarten würde. Roemer sieht in ihm eine feste Überzeugung von der Notwendigkeit „entsagungsvolle(r) Fürsorge für die Leistungen anderer, der Vorsorge für die Zukunft der Wissenschaft“. Hartmann war ein Mann von Gewissenhaftigkeit und Anstand, der sich unter zwei Diktaturen aufopferte. Sein Schicksal und seine Bewährung stehen auch für andere, von denen nichts bekannt ist.
Quellen: A. d. Berlin-Brandenburg. Akad. d. Wiss., Personalakten Hartmann; A. d. Humboldt Univ., Berlin, Personalakten Hartmann; BA Berlin-Lichterfelde, Bestand R/26/III Nr. 766 (Reichsforschungsrat –Kolonialwissenschaftliche Abteilung, Bl. 43-44, Günter Wolff an Ministerialdirektor Mentzel, 20.06.1941); Sächs. StA. – StA. Leipzig, Bestand 22208 (J.C. Hinrichs Verlag); Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Hartmann, NL 347; Briefe an Prof. Albert Dietrich 1966 von Werner Caskel, Otto Eißfeldt, H. H. Giesecke, Johannes Pedersen u.a. ehem. Kollegen Hartmanns, freundlicherweise von Prof. Dietrich zur Verfügung gestellt; Kopien aus der Korrespondenz Johannes Pedersens mit Hartmann u.a. dt. Orientalisten, Nachlass Pedersen, Acc. 1974/97, Königl. Bibliothek, Kopenhagen; Interviews mit Hermann Hartmann am 4.11.2008 u. am 15.6.2011; Interview mit Dr. Paul Wendiggensen am 19.7.2012; Orientalistische Literaturztg., versch. Ausgaben, Periodicals Archive Online, ProQuest LLC; Zs. d. Dt. Morgenländischen Gesellschaft, versch. Ausgaben, http://menadoc.bibliothek.unihalle.de/dmg/periodical/structure/2327.
Werke: (Auswahl): Al-uschairîs Darstellung des Sûfîtums, 1914, Faksimiledruck BiblioLife LLC, c. 2009; Zu Hortens Bemerkungen, in: Der Islam 8, 1918, 340-345; Die Wahhabiten, in: ZDMG 78, 1924, 176-213; Das Tübinger Fragment d. Chronik des Ibn ūlūn, 1926; Die Welt des Islam einst u. heute, 1927; Eine Karte aus d. ältesten osmanischen Zeit? Konrad Miller, Mappae Arabicae, in: Der Islam, 16, 1927, 298-303; Im neuen Anatolien: Reiseeindrücke, 1928; Die Krisis des Islam, 1928; Die Himmelsreise Muhammeds u. ihre Bedeutung in d. Religion des Islam, in: Vorträge d. Bibliothek Warburg VIII, 1930, 42-65; Nachruf auf Walter Wreszinski, OLZ 38, 1935, Sp. 273-276; G. Bergsträsser, Grundzüge des islamischen Rechts, bearb. u. hgg. von Joseph Schacht, in: DLZ 57, 1936, Sp. 1180-1182; Paul Richard, Frankreich in Syrien, 1940; Islam u. Politik, in: Jb. d. Göttinger Akad. d. Wiss. 1942/43, 68-93; Die Religion des Islam. Eine Einführung, 1944, 1987 u. 1992; Islam u. Nationalismus, 1948; Al-ada al-amrā’, in: Istanbuler Forschungen 17, 1950, 40-50; Arab. Denken im Zeitalter des Liberalismus, in: WdI (NF) 8, 1963, 235-242; Nachruf auf Paul Ernst Kahle, in: Jb. d. Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1964, 254-257.
Nachweis: Bildnachweise: ZDMG 117, 1967, gegenüber 1, Foto, 1934; auch in: Göttinger Gelehrte II, gegenüber 432; Berlin-Brandenburg. Akad. d. Wiss., Foto unbek. Datums, in: „Mitglieder d. Vorgängerakademien“, http://www.bbaw.de/die-akademie/akademiegeschichte/mitglieder-historisch/alphabetische-sortierung?altmitglied_id=1032&letter=Hartmann; Foto 1964, Leihgabe von Professor Albert Dietrich an die Autoren, wohl ungedr.

Literatur: H. H. Giesecke (Hg.), Richard Hartmann Bibliographie: Festg. zum 70. Geburtstag, 1951; ders., Nachträge zur Richard Hartmann Bibliographie anlässl. seines 80. Geburtstages am 8. Juni 1961, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung IX, 1963 H. 1, 139-143; Bertold Spuler, Richard Hartmann: Die Religion des Islam, in: Der Islam 28, 1948, 133; Johannes Pedersen, Richard Hartmann zum 80. Geburtstag am 8. Juni 1961, in: Forschungen u. Fortschritte 35, 1961, 185-186; Werner Caskel, Der Felsendom u. die Wallfahrt nach Jerusalem, 1963, 9; Albert Dietrich, Richard Hartmann 8. Juni 1881–5. Febr. 1965, in: Jb. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, 1965, 74-82; Hans Robert Roemer, Richard Hartmann in memoriam (1881-1965), in: ZDMG 117, 1967, 1-10; Burchard Brentjes, Die Arbeitsgemeinschaft Turkestan im Rahmen d. DMG, in: ders. (Hg.), 60 Jahre Nationale Sowjetrepubliken in Mittelasien im Spiegel d. Wissenschaft, 1985, 151-172; Hans Müller, Richard Hartmann, Die Religion des Islam, 1987, in: WdI 29, 1989, 235-236; Annemarie Schimmel, Nachwort zur Neuausgabe, in: Hartmann, Die Religion des Islam, 1992, 199-200; Cornelia Wegeler, „… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“: Altertumswissenschaft u. Nationalsozialismus; Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, 1996, 129-133, 294-295; Horst Junginger, Von d. philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, 1999, 183-188; Albert Dietrich, Richard Hartmann, 1881–1965. Islamwissenschaft. Ordentliches Mitglied seit 1931, in: K. Arndt, G. Gottschalk u. R. Smend (Hgg.), Göttinger Gelehrte. Die Akad. d. Wiss. zu Göttingen in Bildnissen u. Würdigungen 1751–2001, II, 2001, 432; Ekkehard Ellinger, Dt. Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, 2006, 436, 487f. et passim; Pieter Sj. van Koningsveld, The Training of Imams by the Third Reich, in: ders. u. Willem B. Drees (Hgg.), The Study of Religion and the Training of Muslim Clergy in Europe, 2008, 333-368.
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