Wendt, Gustav 

Geburtsdatum/-ort: 24.01.1827; Berlin
Sterbedatum/-ort: 06.03.1912;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Pädagoge
Kurzbiografie: 1844 Abitur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Posen, anschließend zwei Semester Rechtswissenschaft und Altphilologie in Berlin
1845/46 Studium der Altphilologie in Bonn, 1846-48 Fortsetzung in Halle
1848 Dr. phil., Staatsexamen für das Lehramt in Berlin
1848 Hilfslehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Posen, 1851 ordentlicher Gymnasiallehrer, Collaborator am Marien-Gymnasium in Stettin
1854 Prorektor am Königlichen Gymnasium in Greiffenberg (Pommern)
1857 Direktor des Königlichen Gymnasiums in Hamm (Westfalen)
1867 Direktor des Großherzoglichen Gymnasiums in Karlsruhe
1868 Außerordentliches Mitglied des Oberschulrats, 1875 ordentliches Mitglied
1886 Geheimer Hofrat, 1894 Geheimrat III. Klasse
1907 Ruhestand, Geheimrat II. Klasse
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1854 Anna, geb. Dohrn (1831-92)
Eltern: Vater: Heinrich Wendt, Oberschulrat
Mutter: Mathilde, geb. Köhler
Geschwister: keine
Kinder: 7
GND-ID: GND/119501384

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 285-287

Wendt entfaltete als Leiter eines der traditionsreichsten badischen Gymnasien und Autor vieler Lehrbücher einen weit über seinen engeren Wirkungskreis hinausreichenden Einfluß auf die zeitgenössische Pädagogik. Im Ethos seiner Pflichterfüllung und seinem selbstverständlichen Patriotismus liberaler Prägung verkörperte er beste Traditionen seiner preußischen Heimat.
Daß sich das wichtigste Kapitel seines langen Lebens innerhalb der „rotgelben Pfähle des Greifenlandes“ (H. Burte) abspielen sollte, war dem Urpreußen aus Berlin, der in Posen aufwuchs (wo übrigens die Erlernung der polnischen Sprache für deutsche Gymnasiasten, so auch für Wendt, obligatorisch war), nicht an der Wiege gesungen worden. Mit neun Jahren verlor er seine Mutter, und deren ältester Schwester, seiner späteren Stiefmutter, dankt er die Anfänge musikpraktischer Fähigkeiten, die später das Dilettantenmaß erheblich überstiegen (und die in seinem weltberühmten Enkel Wilhelm Furtwängler eine unerhörte Steigerung finden sollten).
Nach kurzem Umweg über die Jurisprudenz fand Wendt schnell zu seiner eigentlichen Berufung, der klassischen Philologie. 1845 sang der Bonner Studiosus in dem von Liszt geleiteten Chor bei der Einweihung des Beethovendenkmals mit, und mitten in den stürmischen Revolutionstagen des Jahres 1848 absolvierte er das Staatsexamen und wurde Augenzeuge der Friedrich Wilhelm IV. demütigenden Szene: „Ich habe ziemlich nahe gestanden, als er die Leichen der auf den Barrikaden Erschossenen ansehen mußte. Das Volk brüllte ,Hut ab' und er gehorchte.“
In Posen, wo Wendt seine erste Stelle antrat, exponierte er sich als aktives Mitglied einer Bürgerwehr, die während des heftigen Volkstumskampfs jener Jahre polnische Übergriffe verhindern sollte. Aber als eines Abends spät Schüsse in ein Fenster seiner Wohnung peitschten, „wurde der Wunsch einer Versetzung auf ganz deutschen Boden immer lebhafter“.
In den folgenden Stettiner Jahren heiratete er die Tochter Anna des wohlhabenden Zuckersiederei-Inhabers – und leidenschaftlichen Zoologen – August Dohrn: „Der Ehebund, den wir geschlossen, ruhte fest auf dem Grunde herzlichster Liebe und Treue.“ Nach einem kurzen Zwischenspiel in Greiffenberg – dort kam eine von Wendt am Klavier geleitete Aufführung des „Messias“ zustande – wurde der erst Dreißigjährige Direktor des Gymnasiums in Hamm, nachdem der Oberpräsident die Ernennung trotz der „allzu freien Anschauungen Wendts in religiösen Dingen“ bestätigt hatte.
In Hamm begann Wendts fruchtbare Tätigkeit als Lehrbuchverfasser und Übersetzer, aber auch hier gab es einen Ratschlag, „in kirchlichen Angelegenheiten recht vorsichtig zu sein“. Zeit seines Lebens setzte sich Wendt zur Wehr, wenn die Kirche in Schulfragen mitsprechen wollte. Wendt wandte sich auch entschieden gegen einen damals nicht nur unterschwelligen Antisemitismus: „Ein solcher Haß gegen unsere jüdischen Mitbrüder verträgt sich schlechthin nicht mit dem Geist christlicher Liebe, die doch den Mittelpunkt unserer Sittenlehre bilden muß.“ Aber in Berlin galt Wendt als „Feind der Kirche“, und so kam ihm der Ruf des badischen Staatsministers Jolly nach Karlsruhe nicht ungelegen – „ich habe meinen Entschluß auch nie bereut“.
In der badischen Residenz eröffnete sich nun für den auf der Höhe seiner Lebenskraft stehenden Wendt ein weitgespanntes Tätigkeitsfeld, besonders auch in dem ihm übertragenen Amt des Oberschulrats, dem die Beaufsichtigung und Leitung des gesamten Schulwesens im Großherzogtum oblag. In der Beschaulichkeit von „Fürstenschlafe“ (H. Burte) wehte plötzlich ein scharfer Wind aus Norden. Daß Wendt den „preußischen Militärgeist nach Baden verpflanzt hat“, ist wohl eine mit persönlichen Ressentiments befrachtete Feststellung Vierordts; aber Wendt war nicht der Mann, den der sich formierende Widerstand schreckte. Schon nach kurzer Zeit gab es einen Sinneswandel, der auch dadurch gefördert wurde, daß Wendt stets beste Beziehungen zum großherzoglichen Hause und seinen Vorgesetzten im Ministerium unterhielt. Seine Schüler W. Hausenstein und W. Andreas haben das Bild des im Laufe der Jahrzehnte in olympische Höhen entrückenden „Basileus“ liebevoll gezeichnet (siehe unten), aber auch des seinen Schülern die Schönheiten der Natur auf vielen Wanderungen erschließenden Erziehers, in dessen vierzig Jahre währende Ära der Umzug in das neue Schulgebäude in der Bismarckstraße (1874) und das Jubiläum des dreihundertjährigen Bestehens der Anstalt fielen. Wenn er seine Autorität angetastet glaubte, gab es allerdings auch oberlehrerhafte Reaktionen, die zur Weite seines Geistes nicht recht passen: als sechs erst nach einer erfolgreichen Beschwerde zum Abitur zugelassene Oberprimaner (1888) auf einem außerhalb des normalen Turnus liegenden Prüfungstermin bestanden, erschwerte er die Prüfungsbedingungen beträchtlich, und drei der sechs fielen durch. – Ehrenvolle Rufe nach auswärts, so nach Hamburg, lehnte er in Hamm und Karlsruhe ab, und das Staatsministerium bemerkte in einer Vorlage an den Großherzog, „die erforderlichen pekuniären Opfer (um Wendt zu halten) dürften in keinem Verhältnis zu dem Vorteil stehen, den die Erhaltung desselben (Wendts) für das Inland bedeutet“.
Den Inhalt seines Reformprogramms hat Wendt selbst einprägsam formuliert: „Die Hauptsache war, daß der Schulunterricht mehr als bisher die geistigen Kräfte der jungen Leute ausbilden, ihnen Lust und Liebe für Wissenschaft und Kunst einflößen und dadurch den Antrieb und das Vermögen wecken sollte, aus eigener Neigung immer weiter und höher zu streben.“ An die Stelle eines mehr auf das Schulmeisterlich-Formelhafte ausgerichteten Unterrichtsbetriebs rückte das eingehende und den Prinzipien sorgfältiger Auswahl folgende Studium der antiken und klassischen deutschen Autoren. In den griechischen Klassikern „erkennen wir unvergängliche Muster“, die lateinischen erziehen zu „logischer Schärfe und zur Würde des Gedankenausdrucks“, und die deutschen Autoren schließlich vermitteln „die Herrlichkeit unserer Sprache, den Reichtum unseres geistigen Lebens“.
In trefflichen Lehrbüchern schuf sich Wendt die Basis für die Verwirklichung seiner Reformbestrebungen: in einer griechischen Schulgrammatik, einer deutschen Satzlehre, in Prosalesebüchern und vor allem seiner populären „Gedichtsammlung für Schule und Haus“. Er schrieb Einleitungen zu Klassikerausgaben sowie die das Gymnasium berührenden Artikel in pädagogischen Handbüchern. Besonderen Rang kann aber, auch heute noch, die sich durch „ihren schlichten Adel und die männliche Verhaltenheit des Ausdrucks“ (Andreas) auszeichnende Übersetzung der Sophokleischen Tragödien beanspruchen; sie ist dem Freund Brahms gewidmet.
„Ich lasse Ihnen den Vortritt, Herr Geheimrat“, antwortete ein siebzigjähriger Kollege, als ihn der wesentlich ältere Wendt zum Rücktritt zu ermuntern suchte. Aber er selbst gab achtzigjährig erst das liebgewordene Amt ab, als die Führung der Zügel merklich schlaff geworden war – manche meinen, er habe diesen Schritt zu spät getan. Das Gesamtbild des Erneuerers des badischen Schulwesens in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wird jedoch dadurch nur wenig beeinträchtigt, und über Schüler und Enkelschüler reicht der Einfluß des großen Pädagogen bis in unsere Tage. Die am Schluß seines langen Lebens gezogene Summe seiner Erfahrung ist heute, im Zeitalter der flächendeckenden Förderstufe, so aktuell wie eh und je: „Aber an den Grundlagen unserer geistigen Bildung muß festgehalten werden. Ganz unvermeidlich ist eine Unterscheidung der verschiedenen Arten der höheren Lehranstalten. Das Bestreben, sie einander möglichst ähnlich zu machen, um Übergänge aus einer in eine andere zu erleichtern, hat bereits zu fehlgeschlagenen Versuchen geführt ...“.
Werke: (soweit nicht im Text) Einleitung zu Johann Peter Hebel, Werke (Berlin 1873, 1905); Eduard Devrient, Theaterleiter, in: BB 1 (1875) 175-182; Otto Deimling, Oberschulrat, in: BB 2 (1875) 555-558 (D. war Emissär Jollys bei der Berufung Wendts); Eine Mannheimer Theaterhandschrift des Götz von Berlichingen, in: Alemannia 7 (1879), 182-184; Überblick über die Geschichte des Gymnasiums, in: FS zur 300jährigen Jubelfeier des Großherzoglichen Gymnasiums in Karlsruhe (Karlsruhe 1886), 1-38; Beitrag zur Geschichte der bad. Gymnasien seit vierzig Jahren (Karlsruhe 1892); Rede zur Vorfeier des 70. Geburtsfestes des Großherzogs Friedrich von Baden (Karlsruhe 1896); Die Organisation des höheren Unterrichts im Großherzogtum Baden (München 1897); Reden aus der Schule und für die Schule (Karlsruhe 1899); Beitrag zur Geschichte unseres Gymnasiums, in: FS des Gymnasiums zu Karlsruhe zum 25. April 1902 (Karlsruhe 1902), 5-12; Lebenserinnerungen eines Schulmanns (Berlin 1909).
Nachweis: Bildnachweise: (Foto) in: Wendt Andreas, Der alte Wendt 137.

Literatur: Nach vierzig Jahren, Lebensläufe der Karlsruher Gymnasial-Abiturienten Jahrgang 1888 (Karlsruhe 1928) (ohne Verfasser- oder Herausgeberangabe); W. Hausenstein, Zum Bilde Wendts, in: Bismarck-Gymnasium Karlsruhe/ Vereinigung ehemaliger Schüler des Gymnasiums Karlsruhe e. V., Jahresbericht 1953/54 (Karlsruhe 1954), 9-13; H. Zeise, 375 Jahre Gymnasium Karlsruhe, in: a. a. O., Jahresbericht 1961/62 (Karlsruhe 1962) 5-11; B. Stahl, Wendt einmal anders, in: a. a. O., Jahresbericht 1973/74 (Karlsruhe (1974)) 22-23; B. Stahl, Zur Geschichte des Humanistischen Gymnasiums in Karlsruhe, in: a. a. O., Jahresbericht 1960/61 (Karlsruhe 1961) FS, 27-62; Wendt Andreas, Der alte Wendt, in BH 1965 Heft 1/2, 135-140; M. Neumann, Die Freundschaft zwischen G. Wendt und Johannes Brahms, in: 400 Jahre Gymnasium illustre 1586-1986, FS des Bismarck-Gymnasiums Karlsruhe (Karlsruhe 1986), 332-343; G. und U. Staffhorst, Das Gymnasium illustre in Karlsruhe, in: BH 1986 Heft 4, 497-508, Pers.-Akten G. Wendt im GLA Karlsruhe.
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