Zermelo, Ernst Friedrich Ferdinand 

Geburtsdatum/-ort: 27.07.1871; Berlin
Sterbedatum/-ort: 21.05.1953;  Freiburg im Br.
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker
Kurzbiografie: 1889-1898 Studium der Mathematik und Physik in Berlin, Halle, Freiburg und, ab 1897, in Göttingen
1894 Promotion in Mathematik an der Universität Berlin bei Hermann Amandus Schwarz
1895-1897 Assistent bei Max Planck an der Universität Berlin
1899 Habilitation in Mathematik an der Universität Göttingen
1899-1910 Privatdozent und Titularprofessor an der Universität Göttingen
1904 Formulierung des Auswahlaxioms und Beweis des sogenannten Wohlordnungssatzes
1908 Verteidigung des Auswahlaxioms, Aufstellung des ersten Axiomensystems der Mengenlehre
1910-1916 ordentlicher Professor für Mathematik an der Universität Zürich
1916 Versetzung in den Ruhestand aus Krankheitsgründen; Alfred-Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis der Universität Leipzig zur Förderung der mathematischen Wissenschaft
1921 Übersiedlung nach Freiburg im Br.
1926-1935 ordentlicher Honorarprofessor am Mathematischen Institut der Universität Freiburg
1930 Aufstellung des heute maßgeblichen Axiomensystems der Mengenlehre
1931 Korrespondierendes Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen
1933 außerordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1935 Verzicht auf die Honorarprofessur nach Anzeige wegen Verleumdung des Führers und Nichterbieten des Hitlergrußes
1946 Rehabilitierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1944 (Freiburg) Gertrud, geb. Döring (1902-2003)
Eltern: Vater: Theodor (1834-1889), Gymnasialprofessor
Mutter: Maria Auguste, geb. Zieger (1847-1878)
Geschwister: 5:
Anna (1870-1917)
Elisabeth (1875-1952)
Margarete (1876-1959)
Lena (1877-1906)
Marie (1878-1908)
Kinder: keine
GND-ID: GND/119514966

Biografie: Heinz-Dieter Ebbinghaus (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 417-419

Zermelo gehört zu den bedeutendsten Vertretern der mathematischen Grundlagenforschung des 20. Jahrhunderts. In drei epochalen Arbeiten (1904, 1908) stellte er die Cantorsche Mengenlehre auf eine axiomatische Basis. Das in seinen Axiomen angelegte iterative Mengenkonzept prägt die moderne Mengenlehre. Das Auswahlaxiom, das er 1904 formulierte, wurde zunächst von vielen in Frage gestellt, aber scharfsinnig und zukunftsweisend, zuweilen auch polemisch, von ihm verteidigt. Es setzte sich in den folgenden drei Jahrzehnten durch und hat zahlreiche Disziplinen der Mathematik wie die Algebra, die Topologie und die Funktionalanalysis methodisch bereichert. Mit Hilfe des Auswahlaxioms bewies Zermelo den sogenannten „Wohlordnungssatz“, demzufolge sich alle unendlichen Mengen der Mächtigkeit nach mit einem Cantorschen Aleph messen lassen. Er löste damit einen Teil des ersten der 23 Probleme, mit denen David Hilbert 1900 der mathematischen Forschung den Weg in das 20. Jahrhundert gewiesen hatte.
In seiner Freiburger Zeit erweiterte Zermelo 1930 sein Axiomensystem um zwei auf Abraham Fraenkel, Thoralf Skolem und Johann von Neumann zurückgehende Axiome. Mit einer von Skolem vorgenommenen Präzisierung bildet dieses „Zermelo-Fraenkelsche Axiomensystem“ heute die Grundlage der Mengenlehre und damit der gesamten Mathematik. In Fortführung von Neumannscher Überlegungen begleitete Zermelo die Vorstellung seines Axiomensystems mit einer Analyse des mengentheoretischen Universums, die zum Motor wichtiger neuer Richtungen in der Mengenlehre – mengentheoretische Modelle und große Kardinalzahlen – wurde. Die Natürlichkeit dieser sogenannten kumulativ-hierarchischen Gestalt des Universums gilt als ein überzeugendes intuitives Argument für die grundsätzlich nicht beweisbare Widerspruchsfreiheit der Mengenlehre. Zermelo hat so dazu beigetragen, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus damals aufgetretenen Widersprüchen entstandene Grundlagenkrise der Mathematik als überwunden angesehen wird.
Zermelos grundlagentheoretische Arbeiten wurden durch die Zusammenarbeit mit David Hilbert in Göttingen (ab etwa 1898) angeregt. Bis dahin – und auch später immer wieder – galt sein Interesse der angewandten Mathematik und der mathematischen Physik. Auch hier hat er neue Perspektiven eröffnet. Seine Dissertation trug wesentlich zur Verbreitung Weierstraßscher Ansätze in der Variationsrechnung bei. Während seiner Assistentenzeit bei Max Plank initiierte er mit dem sogenannten Zermeloschen Wiederkehreinwand 1896 ein Überdenken der Grundlagen der von Ludwig Boltzmann entwickelten kinetischen Gastheorie und eine verfeinerte Sicht vom Wärmetod des Universums. Seine Habilitationsschrift, teilweise gedruckt 1902, gehört zu den Pionierarbeiten über Strömungsmechanik auf der Kugel. Ihr Ziel war es, das Verhalten von Tiefdruckgebieten auf der Erdoberfläche mathematisch zu beschreiben. Die Theorie wurde erst 1970 wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. 1912 schrieb Zermelo eine Arbeit über Gewinnstrategien im Schachspiel, die als Ausgangspunkt der mathematisch-ökonomischen Spieltheorie gilt. Albert Einstein traf sich in Zürich oft mit ihm, weil er seine fachlichen Ratschläge schätzte. Sein Vorschlag zur Auswertung von Turnierergebnissen (1928) gestattet – anders als die Rangfolge nach erzielten Punkten – auch bei abgebrochenen Turnieren das Aufstellen einer Rangliste. Vier Jahrzehnte später wurde sein Ansatz ohne Rückgriff auf ihn zur Grundlage der Ranglistentheorie („Bradley-Terry-Modell“ 1952). Seine Arbeiten über die Navigation in der Luftfahrt (1930-1931), angeregt durch die Weltumrundung des Luftschiffs „Graf Zeppelin“, stellen und lösen das Problem, wie ein Flugzeug in bewegter Luft zu steuern ist, um auf kürzestem Weg ein gegebenes Ziel zu erreichen („Zermelosches Navigationsproblem“). Seine Methode wird noch heute in der Schiffahrt eingesetzt.
Zermelo beschäftigte sich auch mit rein technischen Problemen. 1928 konzipierte er ein elektrodynamisches automatisches Getriebe, allerdings zu einem Zeitpunkt, als die Firma Daimler die Entwicklung eines hydrodynamischen Systems gerade abgeschlossen hatte.
Zermelo wuchs in einer für Literatur, klassische Bildung und politische Mündigkeit offenen Familie auf. Sein Vorbild war August Ludwig von Schlözer, der einflussreiche Sachwalter bürgerlicher Rechte der frühen Aufklärung. Zermelo wurde nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch wegen seiner anregenden Art geschätzt. Mitte der 1920er Jahre übersetzte er Teile der Homerschen Epen mit dem Ziel „möglichst unmittelbarer Lebendigkeit“. Von Beginn seines Studiums an zeigte er großes Interesse für Philosophie. In Freiburg knüpfte er enge Kontakte zum Kreis um Edmund Husserl, zog sich aber mit wachsendem Einfluss der Heideggerschen Philosophie zurück. Sein Eintreten für das als richtig Erkannte war kompromisslos und verlieh den Auseinandersetzungen, die einige seiner Arbeiten hervorriefen, polemische Schärfe. Seine Haltung führte ihn auch in die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Im Januar 1935 wurde er von Kollegen aus dem Mathematischen Institut denunziert, weil er den Hitlergruß nicht ordnungsgemäß erwidere und mit beleidigenden Äußerungen gegen den Führer und das „Dritte Reich“ hervorgetreten sei. Der Aufhebung der venia legendi kam er durch Verzicht auf die Honorarprofessur zuvor.
Zu diesem Zeitpunkt war auch Zermelos Versuch gescheitert, dem durch Kurt Gödel und Skolem initiierten Siegeszug finitärer Logiksysteme entgegenzuwirken. Gödel und Skolem hatten dargelegt, daß solche Systeme präzise gefaßt werden können und für die Mathematik ausreichen. Sie zeigten aber zugleich, daß eine in diesen Rahmen gefaßte Mathematik notwendigerweise unvollkommen ist. Der Gegenentwurf, mit dem Zermelo diese Unvollkommenheiten überwinden wollte, gründet auf infinitären Sprachen. Er blieb ohne Wirkung, weil er nicht den von Gödel und Skolem gesetzten Maßstäben von Präzision genügte. Das Jahr 1935 markiert also nicht nur das Ende der professoralen Laufbahn Zermelos unter entwürdigenden Umständen, sondern auch das Scheitern seiner letzten wissenschaftlichen Bemühungen. Es setzte damit die Reihe von Enttäuschungen fort, die bereits seine Göttinger und seine Züricher Zeit überschattet hatten: Eine nervöse Konstitution und insbesondere eine 1906 ausgebrochene Tuberkulose, die ihn zu jahrelangen Aufenthalten im Mittelmeergebiet und in den Schweizer Alpen zwang, verzögerten sein akademisches Fortkommen und ließen mehrere Berufungen, z. B. an die Universität Würzburg 1909 und an die Technische Hochschule Breslau 1913, scheitern. Die Tuberkulose war auch der Grund für seine vorzeitige Pensionierung 1916.
Nach 1935 führte Zermelo ein zurückgezogenes Leben in Freiburg-Günterstal. 1946 wurde er rehabilitiert und wieder in die ordentliche Honorarprofessur eingesetzt. Wegen seines hohen Alters und infolge einer fortschreitenden Erblindung war er jedoch nicht mehr in der Lage, Vorlesungen zu halten.
Quellen: A des Deutschen Museums NL 056-0585; Niedersächsische Staats- u. UB Göttingen Abt. Handschriften u. alte Drucke Cod. Ms. D. Hilbert 447, 492 u. 494; StA des Kantons Zürich Einzelne Professoren, U 110b.2, No. 45; UA Freiburg B24/4259 u. C129; UA Göttingen 4/Vb 267a, 4/Vc 229, u. Phil. Fak. 184a; UA Wroclaw TH 156.
Werke: Bibliographie in: Heinz-Dieter Ebbinghaus, E. Zermelo, 2007, 334-337 (vgl. Lit.); Untersuchungen zur Variations-Rechnung, Diss. phil. Berlin, 1894; Ueber einen Satz d. Dynamik u. die mechanische Wärmetheorie, in: Annalen d. Physik u. Chemie, NF 57, 1896, 208-217; Ueber mechanische Erklärungen irreversibler Vorgänge. Eine Antwort auf Hrn. Boltzmann's „Entgegnung“, in: Annalen d. Physik u. Chemie, NF 59, 1896, 793-801; Hydrodynamische Untersuchungen über die Wirbelbewegungen in einer Kugelfläche, in: Zs. für Mathem. u. Physik 47, 1902, 201-237; Beweis, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann, in: Mathem. Annalen 59, 1904, 514-516; Neuer Beweis für die Möglichkeit einer Wohlordnung, in: Mathem. Annalen 65, 1908, 107-128; Untersuchungen über die Grundlagen d. Mengenlehre, I, in: Mathem. Annalen 65, 1908, 261-281; Über eine Anwendung d. Mengenlehre auf die Theorie des Schachspiels, in: Proc. 5th Intern. Congr. of Mathematicians, Cambridge 1912, Vol. 2, 501-504; Die Berechnung d. Turnier-Ergebnisse als ein Maximumproblem d. Wahrscheinlichkeitsrechnung, in: Mathem. Zs. 29, 1928, 436-460; Über Grenzzahlen u. Mengenbereiche, in: Fundamenta Mathematicae 16, 1930, 29-47; Über das Navigationsproblem bei ruhender oder veränderlicher Windverteilung, in: Zs. für angewandte Mathem. u. Mech. 11, 1931, 114-124.
Nachweis: Bildnachweise: Heinz-Dieter Ebbinghaus, 2007 (vgl. Lit.).

Literatur: Bob van Rootselaar, Zermelo, E. F. F., in: Dictionary of Scientific Biographies Vol. 14, 1976, 613-616; Biographie von E. Zermelo, in: Oliver Deiser, Einführung in die Mengenlehre, 2002, 310-312; Heinz-Dieter Ebbinghaus, E. Zermelo, An Approach to His Life and Work, 2007.
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