Scholl, Robert 

Geburtsdatum/-ort: 13.04.1891;  Steinbrück, Gemeinde Geißelhardt
Sterbedatum/-ort: 25.10.1973; München
Beruf/Funktion:
  • Steuer- und Wirtschaftsberater; Oberbürgermeister, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1913 Staatsprüfung für den württ. Verwaltungsdienst
1914–1917 Kriegssanitätsdienst
1917–1919 Bürgermeister von Ingersheim-Altenmünster
1919–1930 Bürgermeister von Forchtenberg am Kocher
1930–1932 Wirtschaftsberater u. Steuerprüfer in Ludwigsburg
1932 Teilhaber eines Treuhandbüros in Ulm
1942 Erste Verhaftung u. Verurteilung zu vier Monaten Gefängnis aufgrund des „Heimtückegesetzes“ durch das Sondergericht Ulm wegen regimekritischer Äußerung
1943 Sippenhaft für die Familie nach d. Vollstreckung der Todesurteile gegen Hans u. Sophie Scholl; erneute Anklage wegen „Rundfunkverbrechen“
1943–1944 Haft im Konzentrationslager Kislau
1945–1948 Oberbürgermeister d. Stadt Ulm
1946 Mitglied d. Vorläufigen Volksvertretung des Landes Württemberg-Baden
1951 Umzug nach München
1952 Mitbegründer d. Gesamtdeutschen Volkspartei, Mitglied des Parteipräsidiums
1973 Albert Schweitzer-Friedensmedaille für Versöhnung u. Gewaltfreiheit des „Albert Schweitzer Friedenszentrums, Institut zur Förderung gewaltfreier Politik“
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1916 (Geißelhardt) Magdalene, geb. Müller (1881–1958);
II. 1959 (München) Elisabetha Hiemer, geb. Plank
Eltern: Vater: Wilhelm, (1856–1940), Landwirt
Mutter: Christiane, geb. Eurich (1860–1916)
Geschwister: 10; Michael Friedrich (1884–1963), Karl Wilhelm (1885–1979), Regine (1887–1956), Christian Wilhelm (1888–1917), Georg (1893–1977), Otto (1896–1985), Wilhelmine (1896–1996), Gottlob Wilhelm (1897–1917), Emilie (1902–1905) u. Marie (1903–1978)
Kinder: 5 aus I.;
Inge (1917–1998),
Hans (1918–1943),
Elisabeth (geboren 1920),
Sophie (1921–1943),
Werner (1922–1944)
GND-ID: GND/119526751

Biografie: Michael Kitzing (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 447-451

Scholl, dem Sohn eines Landwirtes, blieben wegen der finanziell begrenzten Möglichkeiten der kinderreichen Familie die höhere Schulbildung und damit auch ein Studium verwehrt. Er schaffte es nur bis zur Mittleren Reife am Eberhard-Ludwig-Gymnasium in Stuttgart. Dann absolvierte er eine Ausbildung für den württembergischen Verwaltungs- und Justizdienst. Er erwarb aber auch Kenntnisse als Gasthörer an der TH Stuttgart.
Zwischen Herbst 1914 und Mai 1917 hat der bekennende Pazifist Scholl in einer Sanitätseinheit Kriegsdienst geleistet. Danach wurde er erst vorläufiger und bald durch Wahl bestätigter Stadtschultheiß von Ingersheim-Altenmünster. 1919 wechselte Scholl als Bürgermeister nach Forchtenberg. Seine Tätigkeit in beiden Gemeinden war von Auseinandersetzungen geprägt. Gegner waren ihm immer die lokalen, überaus konservativen bäuerlichen Honoratioren. Diese Konflikte resultierten auch aus der Tatsache, dass zum ersten Male ein Verwaltungsfachmann an die Spitze kleiner Landgemeinden trat und ein Amt bekleidete, das zuvor Reservat der lokalen Oberschicht war. Scholls Abwahl 1930 in Forchtenberg ist darauf zurückzuführen.
Scholl war danach zwei Jahre lang in einer Wirtschafts- und Steuerberatungspraxis in Ludwigsburg tätig, bis er 1932 nach Ulm umzog. Wieder arbeitete er als Wirtschafts- und Steuerberater, zunächst als Teilhaber, dann in seiner eigenen Kanzlei. Aus geistigen, humanen und politischen Gründen verstand Scholl sich seit 1933 als Gegner des NS-Regimes, auch wenn sein Steuerbüro florierte. Dies brachte er im Herbst 1941 in einem privaten Gespräch deutlich zum Ausdruck, nannte Hitler die „größte Gottesgeißel“ und prophezeite, dass dessen Politik im Chaos für Deutschland ende und die Herrschaft der Bolschewisten nach Berlin brächte. Scholl wurde denunziert und vom Sondergericht Ulm zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das gleichzeitig erlassene Berufsverbot traf seine wirtschaftliche Existenz schwer. Den noch schlimmeren Tiefpunkt brachte der Februar 1943. Er wollte seine Kinder Hans und Sophie persönlich vor dem Volksgerichtshof verteidigen, konnte jedoch nur noch deren Verurteilung und Hinrichtung miterleben. Danach wurde die ganze Familie Scholl verhaftet. Die Ulmer NS-Zeitung Sturm fragte am 8. Oktober 1943 provozierend „Wie lange noch Robert Scholl?“ und warf ihm vor, seine Kinder durch schlechtes Beispiel zur Kritik am Regime verführt zu haben, schob ihm also die Schuld an deren Hinrichtung zu. Wegen „Rundfunkvergehen“ wurde Scholl bald wieder verurteilt und danach im KZ Kislau inhaftiert. Seine Familie musste 1944 Ulm verlassen und lebte dann zurückgezogen auf einem Einödhof im Schwarzwald.
Nach Kriegsende kehrte Scholl nach Ulm zurück und löste bald den ersten Nachkriegsoberbürgermeister Karl Eychmüller (1892–1982) ab, der als ehemaliger NS-Wirtschaftsführer von den Amerikanern abgesetzt wurde. Wie fast überall herrschte auch in Ulm große Not. Der deutsche Südwesten war entlang der Autobahn Karlsruhe-Pforzheim-Ulm unter Amerikaner und Franzosen aufgeteilt, die Stadt in den neuen Grenzen isoliert; denn zur alten Grenze zum bayrischen Neu-Ulm kam für das amerikanisch besetzte Ulm nun der Verlust des oberschwäbischen Hinterlands, das als französische Zone vorläufig gänzlich abgeriegelt war. Dazu kamen die Folgen der Luftangriffe vom Dezember 1944 und Februar 1945, die große Zerstörung angerichtet hatten. 9000 Wohnungen waren zerbombt, das löste das größte Ulmer Problem der frühen Nachkriegszeit aus: Wohnungsmangel, der durch rasch wieder ansteigende Bevölkerungszahl noch verschärft wurde. Vor dem II. Weltkrieg hatte die Stadt noch 75000 Einwohner gezählt. Durch Einberufungen, Evakuierungen und Todesfälle war deren Zahl 1945 auf 38 000 gesunken, stieg nun aber bis 1948 wieder auf 64 000 an. Der Ulmer Bahnhof war damals Sammelstelle für „Displaced Persons“, Vertriebene und Flüchtlinge, Heimkehrer, Rückwanderer aus Oberschwaben.
Einen bemerkenswerten, sehr frühen Akzent und Beitrag zur Schaffung demokratischen Bewusstseins stellte nur ein Jahr nach dem Ende des II. Weltkrieges die Eröffnung der Ulmer Volkshochschule dar, zu deren Gründung Scholls Tochter Inge viel beigetragen hatte. Vor allem wirkte bald aber die innovative Art, in der Scholl den Wiederaufbau anging. So führte er in seiner Stadt die Fünftagewoche ein und schuf so Möglichkeiten, die gesamte erwachsene männliche Bevölkerung jeden Samstag für Aufräumarbeiten heranzuziehen, solange viele Lastwagen zur Verfügung standen. Die „Entschuttung“ machte schnelle Fortschritte. Scholl bedachte sogar das „Recycling“, gründete eine Trümmerverwertungsanstalt, um aus Schutt dringend benötigte Baustoffe zu gewinnen. So gelang es 1947/48 nicht nur, 107 000 Kubikmeter Schutt zu räumen, sondern 20 Prozent davon wieder zu verwerten. Ende 1947 waren bereits 220 000 Kubikmeter Schutt geräumt. Ulm nahm damit den Spitzenplatz ein unter vergleichbar zerstörten Städten wie Freiburg, Heilbronn und Pforzheim.
Auch der Wohnungsbau machte Fortschritte. Bis Ende 1947 waren mit 734 Gebäuden schon 18 Prozent der ganz oder schwer beschädigten Bauten wieder hergestellt. Ulm passierten damals viele Flüchtlinge, die in den süddeutschen Raum wollten. Das nutzte Scholl, indem er dafür warb, Bauhandwerker in der Stadt zu halten. Bald konnten 3000 Fachkräfte eingesetzt werden. Im sechsmal größeren Stuttgart standen gerade einmal 7000 Bauarbeiter zur Verfügung, in Freiburg lediglich 240. Scholl förderte auch Übergangsmaßnahmen. In zahlreichen ungenutzten Kasernen beispielsweise siedelte er Schulen und Krankenhäuser an. Die Donaubrücke nach Wiblingen wurde wiederaufgebaut und eine Straßenbahn dorthin eingerichtet, im Wiblinger Schloss bzw. Kloster ein Altersheim untergebracht.
Beachtliche Fortschritte machte der Wiederaufbau in der Innenstadt, wo bald alle bewohnten Gebäude wieder Wasseranschluss hatten und fast alle auch Anschluss ans Gasnetz. Ab 1948 ging Scholl dann die hygienischen Verhältnisse an, so dass bereits die Verhältnisse der Vorkriegszeit verbessert wurden. Wo immer möglich wurden Straßen verbreitert, so dass zwei Straßenbahngleise verlegt werden konnten. Scholls Konzept ließ aber auch schon Ideen zur Verkehrsberuhigung erkennen: der Münsterplatz sollte zur verkehrsberuhigten Zone werden, sogar eine Art Fußgängerzone war bereits angedacht. Schließlich sollte eine große Ost-West-Achse die Stadt durchqueren. Damit hatte Scholl aber die Grenze des Möglichen längst überschritten. Solche Themen sollten Streitpunkte der Ulmer Kommunalpolitik in den kommenden Jahrzehnten bildeten.
Es fällt auf, dass die nur dreijährige Amtszeit Scholls zusehends von Konflikten überschattet wurde. Schon zu Beginn hatte er erklärt, als Bürgermeister über den Parteien stehen zu wollen, und Kritik geübt am wachsenden Einfluss der Parteien. Hass- und Rachegefühle müssten zurückstehen; nicht Strafen und Verfolgungen, sondern ein neuer Geist müsse als besseres Beispiel wirken, Relikte des Nationalsozialismus überwinden und ehemalige NS-Gefolgsleute wieder in die Gesellschaft eingliedern. Diese Haltung aber stieß bei vielen im ersten, von den Amerikanern ernannten Beirat auf Widerstand. Johann Weißer, der wichtigste Ulmer Sozialdemokrat und Chefredakteur der „Schwäbischen Donauzeitung“, forderte den Rücktritt Scholls. Er sei zu nachgiebig in Entnazifizierungsfragen. Stadträte verlangten beim amerikanischen Geheimdienst CIC und der Militärregierung die Absetzung von Scholl. Die Besatzungsmacht aber kam zum Ergebnis, dass Scholl zwar keine eigenen Entnazifizierungs- Initiativen entwickelt habe, all ihren Weisungen aber korrekt nachgekommen sei. Bereits 1946, nach der ersten Kommunalwahl der Nachkriegszeit, musste sich Scholl einer Kampfabstimmung stellen, die im Patt zwischen ihm und seinem Herausforderer endete. Nur der Losentscheid erhielt ihm das Amt.
„Drei Affären“ prägten die letzten Amtsjahre: Bei der Neuwahl 1946 kam es zur sogenannten „Flugblattaffäre“: Persönlichkeiten aus dem Freundeskreis der Weißen Rose, auch ehemalige Widerstandskämpfer wie Heinz Brenner (geboren 1924), hatten ein Flugblatt unter der Überschrift: „Wie lange noch Scholl? – Eine berechtigte Frage“ verfasst. Bewusst den Titel des NS-Hetzartikels im Ulmer Sturm von 1943 aufgreifend verbreiteten sie ein Plädoyer für Scholls Politik, wollten wie Scholl „dem Hass ein Ende machen“ (zit. nach Neue Ulmer Zeitung vom 23.10.1993) und warben für die Wiederwahl des Oberbürgermeisters. Umso schärfer geriet die Reaktion der „Schwäbischen Donauzeitung“ Weißers. Das bildete den Auftakt anhaltenden Streits. Als Nächstes kam es zur „Kongressaffäre“. Scholl wurde politische Naivität vorgeworfen, weil er ein Mitglied der Ulmer Stadtverwaltung zu dem von der SED veranstalteten „Volkskongress für deutsche Einheit und Freiheit“ entsandt hatte. Den dritten großen Konflikt zwischen Scholl und seinem Stadtrat schließlich provozierte ein Artikel von Hildegard Hamm-Brücher in der Münchener „Neuen Zeitung“, der ein überaus positives Bild des Wiederaufbaus in Ulm zeichnete. Ein Gespräch von Hamm-Brücher mit Scholl war vorausgegangen. Daraus folgerte die „Schwäbische Donauzeitung“, das Ganze diene nur der Selbstverherrlichung von Scholl und der Schönfärberei der Ulmer Verhältnisse. Scholls Reaktion war bereits im Vorfeld der Oberbürgermeisterwahl 1948 ein sehr detaillierter Tätigkeitsbericht für sein gesamtes Wirken, allein dieser Leistungsnachweis vermochte seine Abwahl nicht zu verhindern.
1951 zog Scholl nach München. Neben der Pflege des Andenkens seiner Kinder engagierte er sich politisch in der Gesamtdeutschen Volkspartei, GVP, die Konrad Adenauers (1876–1967) Westintegration und einen deutschen Wehrbeitrag ablehnte, weil sie die Wiedervereinigung gefährde. Scholl sprach 1954 sogar beim Parteitag der Ost-CDU. Er warb für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland und stellte in mehreren Referaten das GVP-Programm vor. Wahlerfolg für seine Partei blieb jedoch aus; Scholls politische Karriere war zu Ende.
Als er im 83. Lebensjahr verstarb nannte ihn die Südwestpresse am 13. April 1971 einen „von Toleranz geprägten Charakter“, der als Bürgermeister „die Grundlagen für den Wiederaufbau“ gelegt habe. Andere Zeitgenossen sahen in ihm nur den politischen Idealisten, dessen Ziele nicht immer mit den menschlichen und sachlichen Realitäten übereingestimmt hätten. Das geschah wohl vor allem mit Blick auf Scholls letzte Aktivitäten, mag aber kaum als Urteil für Scholls Lebensleistung bestehen bleiben.
Quellen: StadtA Ulm B 060/10 Nr. 8.6.; Schwäb. Donauztg. 1945 bis 1948; Auskunft von Manuel Aicher vom 7.3.2013.
Werke: Grundriss für einen Neubau Deutschlands, o. J. [1945?]; Zusammenbruch u. Wiedergeburt einer Stadt. Bericht über den Wiederaufbau in Ulm, 1948; Abkehr vom Kalten Krieg, in: Blätter für dt. u. internationale Politik, Monatsschr. 4, 1959, 1011-1015; Gedanken zum 20. Juli, ebd., Monatsschr. 6, 1961, 730-732.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 450. StadtA Ulm. – Raberg, 2008, 407 (vgl. Literatur).

Literatur: Wie lange noch Scholl? Eine berechtigte Frage, in: Ulmer Sturm vom 8.10.1943; Neubeginn zwischen Trümmern. Oberbürgermeister i. R. Robert Scholl zum 75. Geburtstag, in: Schwäb. Donauztg. vom 13.4.1966; Robert Scholl 80 Jahre alt, in: Schwäb. Ztg. vom 10.4.1971; Neubeginn in Trümmern. OB i. R. Robert Scholl zum 80. Geburtstag, in: Südwestpresse vom 13.4.1971; Hans Eugen Specker (Hg.), Tradition u. Wagnis, Ulm 1945–1972, 1972; Ulmer Altbürgermeister Robert Scholl gestorben, in: Südwestpresse vom 26.10.1973; Josef Müller, Die Gesamtdeutsche Volkspartei, 1990; Weichen bis in die heutige Zeit gestellt. Vor zwanzig Jahren starb OB Robert Scholl – kein leichtes Amt, u.: Weinbauer stoppten den Schultheiß, beide in: Neue Ulmer Ztg. vom 23.10.93; Bettina Gerlach, Demokratischer Neubeginn nach 1945, in: Hans Eugen Specker (Hg.), Die Ulmer Bürgerschaft auf dem Weg zur Demokratie, 1997, 424-480; Frank Raberg, Neubeginn u. Wirtschaftswunder (1945-Ende d. 1960er-Jahre), in: StadtA Ulm (Hg.), StadtMenschen. 1150 Jahre Ulm, 2004, 157-168; Hannes Hartleitner/Giselher Technau, Robert Scholl, Schultheiß in Ingersheim-Altenmünster, in: Michael Kißener (Hg.), Crailsheim u. die Weiße Rose, 2005, 26-32; Frank Raberg, Ulm – Untergang u. Neuanfang in doppelter Randlage, in: Karl Moersch/Reinhold Weber (Hgg.), Die Zeit nach dem Krieg: Städte im Wiederaufbau, 2008, 399-415; ders., Biografisches Lexikon für Ulm u. Neu-Ulm, 2010.
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