Stahlecker, Walter Franz 

Geburtsdatum/-ort: 10.10.1900;  Sternenfels über Mühlacker/Enz
Sterbedatum/-ort: 23.03.1942; Riga
Beruf/Funktion:
  • der „Bruder“ Heydrichs, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei
Kurzbiografie: Gymnasium Tübingen
1920 Abitur
1920-1924 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, Referendariat in Reutlingen und Tübingen
1927 II. Höhere Justizdienstprüfung
1929 Regierungsrat
ab 1930 zunächst bei der Arbeitsverwaltung, dann
ab 1933 Mai beim Württembergischen Politischen Landespolizeiamt
1934 dessen Leiter als Oberregierungsrat
1937 Leiter der Staatspolizeileitstelle Breslau
1938 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Österreich
1939 Befehlshaber der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD im Protektorat Böhmen und Mähren
ab Mai 1940 in gleicher Funktion in Oslo
1940 14. Nov.-1941 18. Jun. abgeordnet zum Auswärtigen Amt im Range eines Ministerialrates
1941 Feb. SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei
ab 1941 Apr. Leiter der Einsatzgruppe A für die zu besetzenden Gebiete in der UdSSR
1921 Mitglied der Brigade Ehrhardt und des Wiking-Bundes; Mitglied der NSDAP bis zu deren Verbot 1925
April 1933 Wiedereintritt, rückdatiert auf 1. Mai 1932
1938 Mitglied der SS; SS-Standartenführer
1941 SS-Brigadeführer
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., Kirchenaustritt
Verheiratet: 1932 Luise-Gabriele, geb. Freiin von Gültlingen (geb. 1910)
Eltern: Vater: Eugen Stahlecker (geb. 1867), Oberstudiendirektor in Tübingen
Mutter: Anna, geb. Zaiser (1872-1932)
Geschwister: Rudolf (geb. 1898)
Gerhard (geb. 1906)
Kinder: Konrad
Boto
Anne-Kristine
Gisela
GND-ID: GND/120259796

Biografie: Heinz-Ludger Borgert (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 267-269

„Walter“, laut Standesamtseintrag ohne „th“ und ohne Zwischennamen „Franz“, Stahlecker wurde am 10. Oktober 1900 in Sternenfels, heute Kreis Vaihingen/Enz, geboren. Sein Vater Eugen, der evangelische Theologie studiert hatte, versah damals dort sowie in Korntal das Pfarramt, bevor er 1906 als Rektor die Mädchenrealschule in Tübingen übernahm. Insofern wuchs er in einer geordneten, bildungsbürgerlich orientierten Tübinger Familie auf. Noch vor dem Abitur am humanistischen Gymnasium wurde er im Herbst 1918 zum Militärdienst eingezogen, ohne allerdings zum Fronteinsatz zu kommen.
Die durch den Umsturz erfolgte „Politisierung“ erfasste auch die Familie Stahlecker. Der Vater kandidierte erfolgreich für die Württembergische Bürgerpartei und die DNVP. Walter Stahlecker schloss sich bewaffneten Freiwilligenverbänden an, so auch dem auf Initiative von Offizieren und des sozialdemokratischen württembergischen Kultusministers Heymann aufgestellten Tübinger Studentenbataillon, das eigentlich dem Schutz der Republik dienen sollte. Er bewährte sich bei verschiedenen Einsätzen. Hier könnte seine nationalistisch, gegen politisch links eingestellte Haltung gefördert worden sein, zumal er seinerzeit auch dem Alldeutschen Verband und dem von diesem mitinitiierten, stark antibolschewistisch und antisemitisch ausgerichteten Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bund angehörte. Die Demobilisierung des Bataillons infolge des Versailler Friedensvertrages und nachfolgend die Auflösung der württembergischen Polizeiwehr auf Druck der Interalliierten Militärkommission wirkte weiter politisch radikalisierend auf Teile dieser Studenten und drängte einige von ihnen zu illegalen völkisch-militaristischen Zusammenschlüssen wie zum Beispiel die „Organisation Consul“, darunter auch Walter Stahlecker. Dabei dürfte er u. a. auf Dietrich von Jagow getroffen sein, der damals von Tübingen aus auch die NSDAP und die SA-Organisation in Württemberg mit aufbauen sollte. Später kolportierte Stahlecker gerne mit der „Schlacht am Walfischkeller“, bei der es am 11. Dezember 1922 in Göppingen zwischen für eine NSDAP-Veranstaltung demonstrierenden SA-Leuten sowie Tübinger Studenten und Gegendemonstranten zu Gewalttätigkeiten gekommen war, und seinen dabei erlittenen Verletzungen, um als „alter Kämpfer“ gelten zu können. Belegt ist, dass er offenbar 1923 in Tübinger Polizeikreisen als Angehöriger der NSDAP galt.
Diese militante Zeit Stahleckers fiel zusammen mit seinem 1920 in Tübingen aufgenommenen Jurastudium. Gleichzeitig trat er der dortigen Studentenverbindung „Lichtenstein“ bei, der neben seinem Vater auch schon sein älterer Bruder angehörte. 1924 schloss er sein Studium mit der I. juristischen Staatsprüfung ab. Nach dem Referendariat und dem Bestehen der II. Staatsprüfung 1927 trat er in den württembergischen Landesdienst und wurde 1929 zum Regierungsrat ernannt. Nach einer Tätigkeit in den Oberämtern Ehingen und Saulgau wechselte er Anfang Februar 1930 zum Arbeitsamt Nagold über, dessen Leiter er bald darauf wurde. Am 14. Oktober 1932 heiratete er mit der zehn Jahre jüngeren Luise-Gabriele in ein schwäbisches Reichsadelgeschlecht ein. Damit waren eigentlich die Grundlagen für eine bürgerliche Existenz mit einer normalen Karriereerwartung gelegt.
Über eine politische Betätigung Stahleckers während dieser Zeit ist wenig bekannt. 1934 brachten innerparteiliche Gegner dann gegen ihn vor, er habe sich noch im November 1932 abfällig über die NSDAP geäußert und auch eine Hakenkreuzfahne im Arbeitsamt Nagold entfernen lassen. Umgekehrt gab er an, bereits im Mai 1932 im Einvernehmen mit den Parteidienststellen sich um eine Wiedermitgliedschaft in der NSDAP und der SS beworben zu haben. Dafür konnte er mit so prominenten Zeugen wie dem Gauleiter Murr und dem seinerzeitigen Leiter des SS-Abschnitts Südwest Prützmann aufwarten.
Parallel dazu wurde ihm eine Parteizugehörigkeit ab Mai 1932 an- und statt der hohen NSDAP-Mitgliedsnummer 3.219.015 die niedrigere Nummer 1.069.130 zuerkannt. Die damit in Verbindung stehenden, um seine Person geführten parteipolitischen Querelen dauerten gleichwohl noch an und endeten offenbar erst 1935/36 vor dem Parteigericht, aus dem er ohne Belastungen hervorging.
Stahlecker war offenbar Teil und Ausdruck des erbitterten Machtkampfes innerhalb der württembergischen NSDAP und zwischen SA und SS geworden mit den um bestimmenden Einfluss ringenden Hauptakteuren, dem nunmehrigen Leiter der Politischen Polizei Hermann Mattheiß, dem Ministerpräsidenten Christian Mergenthaler und dem zum „Staatspräsidenten“ gewählten Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr, zugleich vorerst noch Innen- und Wirtschaftsminister, sowie Heinrich Himmler als künftigem Kommandeur der Politischen Polizei im Hintergrund. Wie er darin hineingeraten war, ist unbekannt. Jedenfalls lösten diese Auseinandersetzungen für ihn den fast verpassten Karriereschub aus.
Zunächst stellte Murr Ende Mai 1933 Mattheiß, dem Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiamtes, wie die umstrukturierte Dienststelle jetzt hieß, den „zuverlässigeren“ Spitzenbeamten Stahlecker als Stellvertreter zur Seite. Ende November des Jahres versetzte er diesen gegen den Widerstand Mergenthalers als Oberregierungsrat zur Vertretung Württembergs beim Reich nach Berlin, um ihn sechs Monate später, Mitte Mai 1934 nach der Absetzung Mattheiß und erneut gegen den Einspruch des Ministerpräsidenten, nunmehr mit der Leitung des Politischen Landespolizeiamtes zu beauftragen. Die Ermordung Mattheiß' am 1. Juli im Umfeld des „Röhm“-Putsches bot Murr dann die Gelegenheit, Stahlecker zur Besetzung für die dadurch freigewordene Ministerialratsstelle vorzuschlagen, die aber, vielleicht als Teil der geschilderten Machtkämpfe, dennoch anderweitig vergeben wurde.
Nunmehr als Leiter der politischen Staatspolizei blieb Stahleckers anfänglich harte Gangart im württembergischen Kirchenstreit nicht unumstritten. Er schwenkte dann auf die Linie Murrs und Mergenthalers ein, keine Märtyrer schaffen zu wollen, weil mit Gummiknüppeln kein kultureller Kampf zu gewinnen sei.
Erfolgreicher für ihn dürfte die Aufdeckung eines kommunistischen Widerstandskreises um Stefan Lovasz und Lilo Herrmann im Dezember 1935 gewesen sein, der Informationen über die deutsche Aufrüstung an das Ausland weitergegeben hatte. Im Sommer 1937 wegen Landesverrats zum Tode verurteilt, wurde das Urteil trotz weltweiter Proteste in Berlin-Plötzensee 1938 vollstreckt.
Im Zuge der organisatorischen Umgliederungen der deutschen Polizeien und Unterstellung unter Himmler sowie der Zusammenfassung von Politischer Polizei und Kriminalpolizei als Sicherheitspolizei (Sipo) unter Reinhard Heydrich wurde zum 1. Oktober 1936 das Württembergische Politische Landespolizeiamt zur Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Stuttgart, umgewandelt. Walter Stahlecker blieb deren Leiter bis zu seiner Umsetzung in gleicher Funktion 1937. Nach dem deutschen Einmarsch im März 1938 stieg er zum Inspekteur der Sipo und des SD in Österreich auf. Als formeller Leiter der dort gegründeten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ arbeitete er eng mit Adolf Eichmann zusammen, der ihn später als „außerordentlich lebendig und aktiv“, „vielleicht auch etwas ehrgeizig, aber immer auf der Suche nach schöpferischen Ideen“ beschrieb. Beide forcierten den Druck auf die dort lebenden Juden erheblich und trieben Zehntausende zur Auswanderung, denen zugleich ihr Vermögen abgenommen wurde. Als Befehlshaber der Sipo und des SD setzte Stahlecker dann 1939 zusammen mit Eichmann diese Politik im „Protektorat Böhmen und Mähren“ fort. Nach der Niederwerfung Polens ventilierten beide im Herbst 1939 sogar erste Möglichkeiten zur Errichtung eines „Judenreservats“ bei Nisko, südlich von Lublin.
Die Analogie des Vorgehens, das sein früherer Stuttgarter Vertreter Dr. Wilhelm Harster ab 1940 in vergleichbarer Funktion in den Niederlanden anwandte, erscheint nachdenkenswert.
Nach weiteren Verwendungen in Norwegen und im Auswärtigen Amt, im Februar 1941 zum SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei befördert, wurde Walter Stahlecker im Zuge der Angriffsvorbereitungen auf die Sowjetunion zum Chef der Einsatzgruppe A ernannt, die mit ihren drei Einsatzkommandos mit Beginn der Kampfhandlungen am 22. Juni im Gefolge der Heeresgruppe Nord ins Baltikum vordrang und später auch Teile Weißrusslands mit übernahm. Über deren Einsätze gab Stahlecker in zwei berüchtigten Berichten selber Auskunft. In ihnen rühmte er sich zusammenfassend bis etwa Februar 1942 der Ermordung von nicht weniger als 218 050 Juden, denen er etwa 128 000 noch lebende gegenüberstellte. Die geringe Zahl der gemeldeten getöteten Partisanen lässt an dem wahren Ziel der mit diesen Ausrottungsmaßnahmen verfolgten Politik keinen Zweifel aufkommen.
Selbstverständlich dürfen und müssen auch einzelne Angaben in diesen Berichten wie auch die der Ereignismeldungen jeweils kritisch überprüft werden, da in ihnen eine Tendenz, sich mit ihrer Hilfe bei den Vorgesetzten in ein vermeintlich „positives“ Licht zu setzen, unverkennbar ist. Bezeichnend ist dafür beispielsweise ein Vergleich zwischen der Meldung, dass für die Aufnahme der aus dem Reich kommenden Judentransporte nach Riga alles vorbereitet sei, und der tatsächlichen Situation dort vor Ort für Ende November/Anfang Dezember 1941.
Die Berichte geben jedoch insgesamt schon ein zutreffendes und erschütterndes Bild vom deutschen Vorgehen in diesen besetzten Gebieten. Entsprechend dieser, menschlichem Empfinden kaum mehr zugänglichen Logik mag es durchaus konsequent erscheinen, dass Stahlecker ursprünglich auch zum Kreis der eingeladenen Teilnehmer für die nicht minder berüchtigte „Wannsee-Konferenz“ zur Endlösung der Judenfrage in Europa gehörte.
Stahlecker führte seine Einsatzgruppe nach seinem Verständnis vorn, zuletzt von Krasnowardeisk aus, westlich von Leningrad. Dabei interpretierte er seine sicherheitsdienstlichen Aufgaben durchaus offensiv im Sinne einer aktiven Feindaufklärung, gegebenenfalls sogar im Gegensatz zu den entsprechenden Ic-Heeresdienststellen. Beim Einsatz gegen die mit dem Vordringen der Roten Armee im Raum südlich des Ilmensees verbundene, verstärkt auflebende Partisanentätigkeit wurde er tödlich verwundet und starb am 23. März 1942. In Prag, wo seine Familie wohnte, erhielt er ein feierliches Begräbnis.
Himmler forderte bei einer Besprechung im September 1942 die SS-Führer auf, sich nicht hinter Zuständigkeitsregelungen oder mangelnden Kompetenzen zu verstecken. Im Osten müsse der Satz gelten: „Hauptsache ist, dass etwas geschieht, von wem ist gleichgültig!“ Hier seien vielmehr ständiger aktiver Einsatz und Improvisationskunst gefragt, allein der Erfolg entscheide. Der ehrgeizige Walter Stahlecker dürfte diesem Führer-Typus nahegekommen sein. Adolf Eichmann hat ihn mit Reinhard Heydrich verglichen, die „Brüder hätten sein können“. Jürgen Schuhladen-Krämer hat deshalb auch ihn „als Synonym für das entfesselte deutsche Terrorsystem nationalsozialistischer Herkunft“ gewürdigt.
Quellen: BA, Abt. Reich, Berlin, und HStAS; Splitter: Auswärtiges Amt, Berlin, PA Bd. 14717.
Nachweis: Bildnachweise: StAL, EL 48/2 I, Bü 023.

Literatur: Jürgen Schuhladen-Kämer, Die Exekutoren des Terrors: Hermann Mattheiß, W. Stahlecker, Friedrich Mußgay, in: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, hg. von Michael Kißener/Joachim Scholtyseck, 1997, 405/406 und 416-432.
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