Kurz, Paul Konrad 

Geburtsdatum/-ort: 08.04.1927;  Schussenried
Sterbedatum/-ort: 10.11.2005; Buchendorf bei Gauting
Beruf/Funktion:
  • Literaturkritiker und Lyriker
Kurzbiografie: 1933-1939 Volksschule Schussenried
1939-1943 Oberschule/Internat Nürtingen
1945 schwere Verwundung
1946/47 Gymnasium Ravensburg
1947 Eintritt ins Noviziat der Jesuiten in Pullach bei München
1950-1953 Studium der Philosophie in Irland
1953-1957 Studium der Theologie in Innsbruck
1958-1964 Studium der Germanistik und Anglistik in München
1964 Promotion zum Dr. phil. bei W. Müller-Seidel: „Künstler, Tribun, Apostel. Heinrich Heines Auffassung vom Beruf des Dichters“
1970 Mitglied des P.E.N.
1973 Kritikerpreis der „Bücherkommentare“
1985 Günter-Klinge-Preis der Gemeinde Gauting
1992 Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Kunst
2001 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1972 (München) Rosemarie, geb. Plass
Eltern: Vater: Paul (1899-1982), Eisenbahner
Mutter: Paula, geb. Hingele (1900-1973)
Geschwister: 3:
2 Schwestern
1 Bruder
Kinder: 2: Raffael, Johannes
GND-ID: GND/120460882

Biografie: Lorenz Wachinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 200-203

Das oberschwäbische Schussenried, damals noch nicht „Bad“, wo der Bub die Kühe des Großvaters im nahen Dorf Kürnbach hütete, blieb der Heimatboden, von dem er 1939 weg musste; der Zeitpunkt steht für den gewaltigen Umbruch in Deutschland und Europa. Die Oberschule mit Internat in Nürtingen – später merkt er an: in der „Hölderlinstadt“ – war vormilitärisch straff, mit Uniform, auf die NS-Linie ausgerichtet, aber immerhin, er durfte lernen. Das einigermaßen geschützte Exil hielt bis 1943, als Kurz mit seiner Klasse zur Heimat-Flak eingezogen wird; Ende 1944 kam er in eine Grundausbildung für Offiziersanwärter, wurde im Frühjahr 1945 an „eine nicht mehr bestehende Front“ geworfen und sofort schwer verwundet; der Schock lähmte ihm für Monate die Sprache.
Mit dem Abitur in Ravensburg begann das Leben neu, Kurz trat bei den Jesuiten ein: in der Kriegsgefangenschaft war er auf die Geschichte des Ignatius von Loyola gestoßen und richtete sich danach.
Beim Studium in Irland lernte er englische Lyrik kennen, u. a. W. B. Yeats und G. M. Hopkins, was wichtig für die eigene Lyrik wurde. Die Theologie in Innsbruck mit Karl Rahner steuerte auf den Aufbruch in der katholischen Kirche zu. Priester geworden (1956), studierte Kurz Germanistik und Anglistik in München, promovierte 1964 bei W. Müller-Seidel mit einer Arbeit über den Dichterberuf bei Heinrich Heine und nahm 1964 bis 1972 einen Lehrauftrag für Neuere deutsche Literatur an der Universität München wahr. 1972 verließ er den Jesuitenorden und arbeitete zum Teil freiberuflich als Literaturkritiker, zum Teil als Deutschlehrer an einem Münchner Gymnasium.
Über Literatur schrieb er seit 1963: bis 1972 in der angesehenen Monatsschrift „Stimmen der Zeit“, dann wieder seit 1993; nach 1972 in der Zürcher „Orientierung“, auch in großen Zeitungen wie der „Süddeutschen Zeitung“ und war in Vorträgen im ganzen deutschen Sprachraum, auch im Funk, präsent.
Aus einzelnen Aufsätzen und Vorträgen gingen die im J. Knecht Verlag, Frankfurt/M., teils auch unter anderen Titeln erschienenen zehn Bände „Über moderne Literatur“ von 1967 bis 1993 hervor. Die aktuelle Diskussion lieferte die Themen, so im ersten Band (1967) „Standorte der Kafkadeutung“, Hermann Broch, Günter Grass, Nelly Sachs, aber auch schon „Literatur und Theologie“. Die weiteren Bände besprechen Prosa von Bert Brecht und Heinrich Böll über Peter Handke bis zu Martin Walser; in jedem Band findet sich viel über neue Lyrik und das Religiöse; aktuelle Themen sind beispielsweise Frauen in der Literatur, Schuld und das Böse. Im 10. Band (1993), „Komm, ins Offene“, fasste er das bisher Vorgestellte zusammen und reflektierte seine Arbeit als Einzelner, „zwischen allen Stühlen“. Er fand auch die Themen „Wozu Lyrik in hektischer Zeit?“ und „Was war, erinnern die Dichter: Literarische Befunde der DDR-Gesellschaft“.
Mit dem Band „Gott in der modernen Literatur“(1996) betonte Kurz ein Hauptmotiv seiner Arbeit, wie immer aus der Perspektive aktueller Fragestellungen: „Der Auschwitz-Gott ein Hiob-Gott“, „Postmoderne Sprachspiele“, „Gott der Autoren – Gott der Laien“: die Erfahrungen der Schreibenden, anders als die der Kirchenamtlichen, zeige Gott als „Stimme, nie endendes Gespräch, vielleicht das Unausgesprochene in uns Sprechern“. Er sah das „Entschwinden der mächtigen Gottesgestalt“, suchte den transpersonalen, nicht-thematisch gegenwärtigen Gott und eine „zeugende“ Rede von ihm.
Kurz ist in diesen Bänden nicht Forscher oder Theoretiker, sondern Vermittler zwischen Literatur und Leser, bemüht „das Werk zum Publikum, das Publikum zum Werk“, ist immer auf die moderne, eben aktuelle Literatur konzentriert. Er spricht für Autoren, wie Hilde Domin, Rose Ausländer, Margarete Hannsmann und andere, ebenso für die „Endverbraucher“, verliert den zeitgenössischen Literaturbetrieb oder den Büchermarkt nicht aus dem Auge, schreibt mit dichterischem Elan.
Wichtig ist auch die Arbeit Kurz' als Herausgeber: 1978 „Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart“, mit einem großen Anhang zur literarischen Gattung „Psalm in der Moderne“ und zu den „Schwierigkeiten der modernen Psalmsänger“. Der Band ist einleuchtend gegliedert, macht auf halb Vergessenes aufmerksam, verrät großes Vertrautsein mit der modernen Lyrik, auch mit den biblischen Psalmen. – 1984 erschien die Anthologie „Wem gehört die Erde? Neue religiöse Gedichte“, die stark beachtet wurde und das Umfeld der eigenen Lyrik eröffnete, mit einer Beilage „Gedichte lesen – Gedichte verstehen“, mit vielen bekannten und unbekannten Namen. Das große Nachwort „Werkzeuge der Freiheit – Epiphanien des Glaubens“ sagt viel über das moderne religiöse Gedicht. Die Auswahl „Höre Gott! Psalmen des Jahrhunderts“ brachte 1997 Neues und einige Überschneidungen mit dem früheren Band, ist aber oft überraschend anders angeordnet und hat drei eindrucksvolle Psalmen von Kurz selber: „- - Ich hocke im Unbewohnbaren/Ich harre im Unbeantwortbaren/Ich bin in dein Schweigen gefallen/Ich schweige“.
Unter, ja vor der germanistischen und kritischen Mühe liegen von früh an eigene Gedichte. Kurz suchte seine Sprache, bewußter in den Studienjahren, gezähmt durch das Schweigen der geistlichen Formation, bis er in seinen ersten Gedichtbänden den Anschluß an die Moderne fand. Es geht um die reif gewordene Neu-Ordnung seines Lebens und Sprechens, nach den politischen Zerstörungen und den inneren Umbrüchen; später sagte er: „Ich bin nicht zu G. von Le Fort gegangen, sondern habe die Angel weit ausgeworfen, ging in die Wahrnehmung des Neuen und in die Auseinandersetzung mit der Zeit“. Bereits in den ersten Gedichtbänden – „nach Jahren der Austrocknung drängten die Wörter wieder ins Bild“ –, die zum Teil noch konventionell sind, meldete sich die Lust am experimentellen Umgehen mit der Sprache. Viele Verse stammen aus der Reibung modernen Schreibens, das sich karg, unfeierlich, verfremdet gibt, mit der gewohnten religiösen Sprache, die ihre vertrauten Bilder und den beruhigten Klang pflegt. Kurz suchte auch hier das Moderne, dem heutigen Empfinden Angemessene. Vor allem gab er der persönlichen Erfahrung vor der fest gewordenen Kirchenlehre den Vorzug. Die späteren Bücher sind mit Bildern seiner Maler-Freunde ausgestattet, so von HAP Grieshaber, Roland P. Litzenburger, Sieger Köder.
1987, zum 60. Geburtstag, erschien „Noch atmet die Erde“, in dem neu entstandene Gedichte mit solchen aus früheren Jahren gesammelt sind, jetzt datiert und damit besser einzuordnen. Der Ton der Texte ist noch sparsamer, fast ohne Satzzeichen, was zum Denken zwingt. Litaneiartige Reihungen sind nicht selten, konkretistische Poesie, wohl im Gefolge von Helmut Heissenbüttel: „Worte, die ich spreche“, schrieb Kurz 1964, „teilen meine Haut/streiten um meine Zunge/zählen meine Zeit“. Die schmale „Nachbemerkung“ ist wichtig: „Gedichte aus vier Jahrzehnten: Erfahrungen, Erkundungen, Suchbewegungen und Stellungnahmen in Versen; Einkreisungen auch des undeutlichen Ich und Weiterungen, Gespräche in mehreren Richtungen“. Oder: „Gedichte wollen erkennen“.
Der 1994 in der Reihe „Religion&Ästhetik“ des Grünewald Verlags erschienene Band „Der Fernnahe“ deutet im Untertitel ein Programm an: „Theopoetische Texte“. Kurt Marti hatte bereits eine „Gottesdichtung, die nicht ins Übersinnliche abhebt, sondern voll praller Diesseitigkeit ist“, gefordert, und zwar angesichts der Psalmen. Die Aufgabe, Gott zur Sprache zu bringen, versuchte Kurz mit älteren und neuen Gedichten, spielerisch und ironisch, ausgespannt zwischen den Evangelien und heutigem Sprechen. Ähnlich verfährt der Band „Jeschua Jeschua. Gespräche Psalmen“ (1999, Benziger Verlag) sowie der weitere „Maria Maria. Gespräche Gesänge“ (2002, Butzon&Bercker): es ist überall die Berührung des Geheimnisses gesucht, aber nicht versunken-mystisch, vielmehr schrill, der Schnittfläche von Religion und Moderne entlang. Ein entkirchlichter Jesus – er heißt aramäisch „Jeschua“ – enthüllt sich als die archetypische Gestalt des Bruders, redend, leidend, zerbrochen, nicht „fromm“, sondern menschlich empfunden, locker im Parlando-Ton (von Kurz Krolow her).
Auf die Frage „Wer ist ein literarischer Mensch?“ antwortete Kurz: „Wer Wirklichkeit mit Hilfe der Literatur erkundet und sich – schreibend oder lesend – verändert“. Er versuchte die Erkundung als Dichter wie als Kritiker: im beständigen Aufmerken auf die Lyrik und immer in dem Spannungsfeld von Literatur und Religion.
Werke: Künstler, Tribun, Apostel. Heinrich Heines Auffassung vom Beruf des Dichters, Diss. phil. München, 1967; Über moderne Literatur. Standorte u. Deutungen, Bde. 1-4, (auch ins Amerikan. übersetzt), 1967-1973, Bde. 6 u. 7, 1979 u. 1980; Die Neuentdeckung des Poetischen. Zwischen Entfremdung u. Utopie, 1975; Die Liebe ist ein Hemd aus Feuer. Gedichtzyklus (Pyrmonter Gesang), 1981; Der Fernnahe. Theopoetische Texte, mit Nachwort von F. J. Steinmetz u. P. K. Kurz, 1984; Zwischen Widerstand u. Wohlstand. Zur Literatur d. frühen [19]80er Jahre, 1986; Apokalyptische Zeit. Zur Literatur d. mittleren [19]80er Jahre, 1987; Noch atmet die Erde. Gedichte, 1987; Ein großes Flügeldach. Verse mit Engeln. Mit Graphiken von HAP Grieshaber, 1991; Komm ins Offene. Essays zur zeitgenöss. Literatur, 1993; Osterpassion. Szenische Gedichte zu Kreuzweg u. Auferstehung. Mit Bildern von Georg Meistermann u. Nachwort von E. Jooß, 1995; Das Bündel Gottes. Gedichte zu Advent u. Weihnacht, mit Bildern von Andreas Felger, 1994; Gott in d. modernen Literatur, 1996; Unsere Rede von Gott. Sprache u. Religion, 2004; Sie laufen u. springen u. fliegen herbei. Ein Weihnachtsbuch mit Zeichnungen von Sieger Köder, 2005; Gotteserfahrungen. Biblische Gestalten sprechen, 2006.
Nachweis: Bildnachweise: im Familienbesitz.

Literatur: F. J. Steinmetz, Osterpassion. Zu einem Text von P. K. Kurz, in: P. K. Kurz, Der Fernnahe, 1994; E. Jooß, Das bedürftige Wort, in: P. Kurz, Osterpassion, 1995; L. Wachinger, Schreiben im Unbewohnbaren. Zum Tod des Schriftstellers P. K. Kurz, in: Christ in d. Gegenwart vom 4.12.2005. – Rezensionen u. a. von K. Korn, Wort für Wort, in: FAZ vom 14.3.1970; P. Hübner, Über moderne Literatur 1, Rheinische Post vom 20.6.1973; Hj. Bleyl, Literaturkritik als christliche Lebenshilfe, FAZ vom 24.5.1980; A. von Schirnding, Unter erschwerten Bedingungen (über „Wem gehört die Erde?“), Südd. Ztg. vom 15./16.12.1984; M. Gregor-Dellin, Gesänge d. Fürsorge (über „Noch atmet die Erde“), Der Tagesspiegel vom 20.3.1988; Kh. Schauder, Religiöser Standpunkt, Neue Zürcher Ztg. vom 21.7.1988; W. Koch, Mit Engeln, Süddeutsche Ztg. vom 24./25./26.12.1991.
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