Kiehn, Fritz 

Geburtsdatum/-ort: 15.10.1885; Burgsteinfurt/Westfalen
Sterbedatum/-ort: 01.09.1980;  Trossingen
Beruf/Funktion:
  • Unternehmer, Mitglied des Reichstags – NSDAP
Kurzbiografie: 1892-1901 Volksschule in Burgsteinfurt bis 1895, dann Realschule in Lemgo
1901-1903 Kaufmännische Lehre in Hannover, danach diverse Stellen als Reisender für papierverarbeitende Unternehmen
1908 Umzug nach Trossingen und Reisender für den Kartonagenhersteller Birk-Koch
1912 Übernahme eines Papierwarenladens in Trossingen
1915-1918 Kriegsfreiwilliger im I. Weltkrieg
1920 Aufnahme der Produktion von Efka-Zigarettenpapier und Etablierung des mittelständischen Efka-Werks
1930-1945 Eintritt in die NSDAP und Gründung zahlreicher Ortsgruppen, führender Aktivist und Finanzier der württembergischen NSDAP, ab 1931 NSDAP-Gemeinderat, zeitweilig 1. Beigeordneter, ab 1932 Mitglied des Reichstags – NSDAP; 1938 Aufnahme in den persönlichen Stab Heinrich Himmlers und Berufung in den „Freundeskreis Reichsführer SS“ und Parteigerichtsverfahren vor dem Obersten Parteigericht: 1939 Amnestie; bis 1943 persönliche Bereicherung bei der „Arisierung“ jüdischen Eigentums
1933/34 Ernennung zum Präsidenten der Handelskammern Rottweil und Stuttgart sowie des Württembergischen Industrie- und Handelstages
1945 Flucht und Inhaftierung durch US-Soldaten in Innsbruck, anschließend Haft in 14 verschiedenen Internierungslagern und Gefängnissen der Alliierten
1948-1949 Verfahren der Landgerichte Ellwangen und Sigmaringen wegen Mordverdachts („Röhmputsch“) und Erpressung jüdischer NS-Verfolgter: mangels Beweisen eingestellt; Haftentlassung und Entnazifizierung als „Minderbelasteter“
1949-1972 Mittelständischer Unternehmer als Eigentümer mehrerer, meist in Württemberg gelegener Unternehmen; Aufbau eines betrieblichen Versorgungsnetzes für ehemalige Nationalsozialisten
1950-1954 Empfänger eines Großkredits des Landes Württemberg-Hohenzollern; Mitglied des Bundestags Fritz Erler erwirkt die Einsetzung eines Landtagsuntersuchungsausschusses zur Klärung der Subventionsvergabe an Kiehn; ohne greifbare Resultate aufgelöst, vom Landgericht Tübingen wegen Meineids vor dem Ausschuss angeklagt, 1954 gemäß 2. Straffreiheitsgesetz für NS-Straftaten eingestellt
1953 Wiederwahl in den Trossinger Gemeinderat erneut mit höchster Zahl der abgegebenen Stimmen
1972 Nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten erzwungenes Ausscheiden aus der Leitung des Efka-Werks
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., 1937-1945 gottgläubig
Auszeichnungen: Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Trossingen (1935), 1945 aberkannt, 1955 stillschweigend wieder zuerkannt; Benennung eines zentralen Trossinger Platzes nach dem Ehrenbürger Kiehn (1960); Ehrensenator der Universität Innsbruck (1966)
Verheiratet: 1911 (Trossingen) Berta, geb. Neipp aus Trossingen (1892-1979)
Eltern: Vater: Karl, Polizist (1842-1896)
Mutter: Auguste, geb. Grull (1847-1927)
Geschwister: 11
Kinder: 2:
Herbert (1913-1936)
Margarete (geb. 1918)
GND-ID: GND/121925579

Biografie: Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh-Kühne (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 180-182

Kiehn, eines von zwölf Kindern eines westfälischen Polizisten und der Tochter eines Hutmachers, absolvierte nach dem Besuch der Realschule eine kaufmännische Lehre in einer Hannoveraner Kartonagenfabrik. Nach verschiedenen Arbeitsstellen verschlug es ihn 1908 nach Trossingen, das damals noch ganz von der dortigen Harmonikaindustrie der Hohner AG beherrscht war.
Durch die Einheirat in eine wohlhabende Wirtsfamilie gelang es Kiehn, sich 1912 mit einem Schreibwarenladen selbständig zu machen, aus dem nach dem I. Weltkrieg eine Papierwarenfabrik hervorging. Seit 1920 gehört das nach den Initialen Kiehns benannte Efka-Zigarettenpapier zu den führenden Marken im Segment Zigarettenpapiere zum Selberdrehen. Geschäftstüchtigkeit und die Chancen der Inflation ermöglichten seinen raschen sozialen Aufstieg, der ihn zum Widersacher der alteingesessenen Fabrikanten machte. Die brüske Zurückweisung durch die lokale Elite erklärt, warum der mittelständische Fabrikant trotz eines bereits großbürgerlichen Lebensstils den Prototyp des in der Weimarer Republik politisch radikalisierten Kleinbürgers verkörperte. Dies und sein unbändiger Aufstiegswille veranlassten ihn bereits 1930 samt Frau und Kindern zum Beitritt in die NSDAP, als die meisten anderen Unternehmer der radikalen Partei noch ablehnend bis reserviert gegenüberstanden. Binnen kurzem wurde Kiehn zum rührigen Aktivisten und wichtigen Geldgeber der in Württemberg 1930 noch wenig konsolidierten NSDAP. Er avancierte sofort zum Trossinger Ortsgruppen- und bald darauf zum Tuttlinger Kreisleiter und gelangte im Juli 1932 für die NSDAP-Fraktion in den Reichstag. Fortan zählte er prominente NS-Führer wie Gauleiter Wilhelm Murr, den Reichsorganisationsleiter Gregor Straßer oder den späteren Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu seinem Bekanntenkreis.
Die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten ermöglichte es dem Aufsteiger, rasch in zahlreiche wichtige Positionen, vor allem auf wirtschaftspolitischem Gebiet, vorzudringen: 1934 trat er in Personalunion das Amt des Präsidenten der Internationalen Handelskammer Stuttgart und des Württembergischen Industrie- und Handelstags an. Kiehn, der seit 1933 auch der Rottweiler Kammer vorstand, hatte diese Ämterkumulation seinen guten Kontakten zur Gauleitung zu verdanken. 1936 schließlich avancierte er zum Leiter der „Wirtschaftskammer für Württemberg-Hohenzollern“, obwohl er jetzt in der NSDAP nicht mehr unumstritten war.
Der mit zahlreichen Ämtern Ausstaffierte wurde bald schon zur Skandalfigur. Anderen Unternehmern gegenüber ließ er Willkür walten und verschaffte sich selbst sowie der NSDAP und besonders der SS ungeniert Vorteile. Auch zögerte Kiehn nicht, sich über politische Kanäle in diverse Aufsichtsräte einzuschleusen. Das Zerwürfnis mit der Gauleitung trug Kiehn ein Parteigerichtsverfahren ein, das aber aufgrund von Interventionen des Reichsführers SS niedergeschlagen wurde, zu dessen „Freundeskreis“ und persönlichem Stab Kiehn mittlerweile gehörte. Mit Hilfe dieser Protektion gelang es ihm, sich bei der „Arisierung“ jüdischer Firmen persönlich zu bereichern und sein Unternehmen erheblich zu erweitern. Als 1942 die Industrie- und Handelskammern in Gauwirtschaftskammern zentralisiert wurden, nutzte die Gauleitung allerdings die Gelegenheit, den umstrittenen Präsidenten kaltzustellen. An die Spitze der Gauwirtschaftskammer trat mit dem Gauamtsleiter für Technik, Rudolf Rohrbach, einer seiner persönlichen Widersacher.
1948/49 durfte sich der seit 1945 inhaftierte Kiehn glücklich schätzen, dass der Entnazifizierungselan der frühen Nachkriegszeit einem prinzipienlosen Pragmatismus gewichen war und ihn die Spruchkammer als „Minderbelasteten“ einstufte. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung für die Region sah die Kammer von einem Berufsverbot ab. Noch bevor sein Entnazifizierungsurteil Rechtskraft erlangte, beschloss die Regierung Südwürttemberg-Hohenzollerns, Kiehn zur Rettung der Tuttlinger Chiron-Werke einen Kredit über 3 Millionen DM zu gewähren. Kiehn wurde auf diese Weise der Wiederaufbau seines durch Restitutionsforderungen der Arisierungsopfer zerschlagenen Konzerns ermöglicht. Auf persönliche Initiative des ehemaligen NS-Verfolgten und Tuttlinger Landrats der Nachkriegszeit, Mitglied des Bundestags Fritz Erler, kam es 1950 zur Einsetzung eines Landtagsuntersuchungsausschusses zur Klärung der Kreditvergabe an Kiehn.
Weder seine braune Vergangenheit noch der aktuelle Skandal stand Kiehns Rehabilitierung im Wege. Vielmehr verteidigte er seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Position über den Systemwechsel von 1945 hinweg und verwandelte sich dabei vom „alten Kämpfer“ und NS-Funktionär zu einem bundesdeutschen Wohlstands- und Ehrenbürger, der das Grundgesetz respektierte und Adenauers Partei und Koalition unterstützte. Seine Kontakte reichten bis in die Führungskreise von CDU und FDP. In Baden-Württemberg gehörten etwa so exponierte Christdemokraten wie der Mitbegründer der Landes-CDU, Karl Gengler und Bruno Heck zu seinem Verkehrskreis.
An seinem Wohnort fand Kiehn in den 1950er Jahren als mittelständischer, sozial engagierter Arbeitgeber und bedeutender Steuerzahler rasch in die Honoratiorenschaft zurück. 1953 wurde er mit der größten Stimmenzahl aller Kandidaten in den Trossinger Gemeinderat gewählt. Zwei Jahre später, zu seinem 70. Geburtstag, reaktivierte die Stadtgemeinde stillschweigend in einem bundesweit wohl einmaligen, verwaltungsjuristisch dubiosen Akt die Kiehn 1945 aberkannte Ehrenbürgerschaft. Anlass bot eine von Kiehn in Aussicht gestellte Spende über 100000 DM für den Bau einer heute nach ihm benannten Sporthalle. Fünf Jahre später wurde ein öffentlicher Platz nach dem Fabrikanten benannt. Die Stadt händigte ihm eine Urkunde aus, worin es hieß: „Der Gemeinderat der Stadt hat am 11. Oktober 1960 einstimmig beschlossen, in Würdigung der großen Verdienste unseres verehrten Ehrenbürgers, Herrn Fabrikant Fritz Kiehn anlässlich der Vollendung seines 75. Lebensjahres dem bisherigen „Schultheiss-Koch-Platz“ den Namen „Fritz-Kiehn-Platz“ zu geben.“ Bis 1945 hatte dieser Platz „Horst-Wessel-Platz“ geheißen.
Man sah es dem spendablen Geschäftsmann nach, dass er in seinem Betrieb und selbst in seiner Privatsphäre etliche „alte Kameraden“ aus der NSDAP um sich scharte. Die Toleranz fiel umso leichter, als Kiehns Kameradenhilfe gänzlich unpolitisch wirkte und er in der Nachkriegszeit niemals wieder mit rechtsradikalen Ideen oder Organisationen liebäugelte. 1966 nahm Kiehn den eben aus Spandauer Haft entlassenen ehemaligen Reichsjugendführer Baldur von Schirach in seiner Villa auf, dessen ehemaliger Adjutant Kiehns Schwiegersohn war und dessen jüngster Sohn 1962 eine Enkelin des Fabrikanten geheiratet hatte. 1972 geriet Kiehns Unternehmen in eine Krise, er war gezwungen, aus der Geschäftsführung auszuscheiden. Als angesehener Bürger seiner Stadt starb der Hochbetagte kurz vor seinem 95. Geburtstag.
Zwanzig Jahre nach seinem Ableben sorgte die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Biographie Kiehns über die Landesgrenzen hinaus für eine Debatte über den Umgang der Stadt Trossingen mit ihrer Vergangenheit. In der Stadt kam es zu Diskussionen über das Andenken, das man dem einstigen NS-Funktionär und SS-Günstling durch die Widmung öffentlicher Einrichtungen noch immer zollt. Stadtverwaltung und Gemeinderat kamen jedoch überein, dass Anlass zu Änderungen nicht bestehe. Das Stadtoberhaupt stellte wiederholt öffentlich der Evidenz historischer Quellen die Behauptung entgegen, über eine Wiederzuerkennung der Ehrenbürgerschaft an Kiehn in der Nachkriegszeit „gibt es keinerlei Unterlagen“. Der Trossinger Gemeinderat folgte dieser Auffassung im Juli 2000 in einem öffentlichen Beschluss. Die Ehrenbürgerwürde der Stadt Trossingen sei „nach 1945 Herrn Kiehn nicht wieder verliehen“ worden. Fritz Kiehn sei, so die gemeinsame Sprachregelung, lediglich „etwa ab der Zeit 1957/58 als Ehrenbürger angesprochen und entsprechend behandelt“ worden. Gleichzeitig sprach man sich gegen eine Änderung der Trossinger Namensgebung aus.
Quellen: Berghoff/Rauh-Kühne (vgl. Lit.).
Nachweis: Bildnachweise: Berghoff/Rauh-Kühne (vgl. Lit.).

Literatur: Hartmut Berghoff u. Cornelia Rauh-Kühne, Fritz Kiehn. Ein deutsches Leben im 20. Jh., 2000; dies., Eine südwestdeutsche Karriere. Der braune IHK-Chef F. Kiehn u. sein Wiederaufstieg nach 1949, in: Beiträge zur Landeskunde von 2000 H. 2, 1-10.
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