Lindemann, Hugo Carl 

Geburtsdatum/-ort: 09.08.1867; Jaguarão/Brasilien
Sterbedatum/-ort: 19.02.1949; Bensheim
Beruf/Funktion:
  • Hochschullehrer, sozialdemokratischer Politiker
Kurzbiografie: 1876–1884 Gymnasium in Hannover
1884–1889 Studium der Klassischen Philologie und der Volkswirtschaftslehre in Göttingen, Bonn, München und Kiel
1889 Dr. phil. (Kiel)
1892–1896 Studienaufenthalt in England
seit 1896 freier Schriftsteller in Degerloch
1900–1908 Mitglied des Gemeinderats in Degerloch
1903–1906 MdR
1907–1918 Mitglied der Zweiten Kammer des Württ. Landtags
1908–1932 Hg. des „Kommunalen Jahrbuchs“
1915 Habilitation an der TH Stuttgart
1916–1918 Privatdozent für Kommunalwiss. an der TH Stuttgart
1918 Minister für wirtschaftliche Demobilisierung im letzten Kgl. Württ. Kabinett unter Theodor Liesching; Arbeitsminister in der Provisorischen Regierung des Freien Volksstaats Württemberg unter Wilhelm Blos
1919 Innenminister in der Provisorischen Regierung und der Staatsregierung des Freien Volksstaats Württemberg unter Wilhelm Blos
1919–1933 Direktor des städtischen Instituts für sozialwiss. Forschung und Honorarprof. der Univ. in Köln
1933 Entlassung aus politischen Gründen
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Auszeichnungen: Dr. rer. pol. h. c., Univ. Köln (1947).
Verheiratet: 1896 (Hannover) Anna Fehn (1866–1941), Studienrätin, Frauenrechtlerin
Eltern: Vater: Christian Franz Rudolf Lindemann (1834–1889), Ökonom
Mutter: Therese Wilhelmine Ludowike, geb. Sattler (1846–1933)
Geschwister: 2: Max (1868–1893); Helene (geboren 1875)
Kinder: 2 Töchter
GND-ID: GND/123303990

Biografie: Ansbert Baumann (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 126-128

Hugo Lindemanns Vater entstammte einer Juristenfamilie aus Lüneburg, begab sich aber schon in den 1850er Jahren nach Brasilien, wo er als Geschäftsmann erfolgreich war und Kontakte in die höchsten politischen Kreise pflegte. Nachdem er ein ansehnliches Vermögen erworben hatte, bereitete er 1866, im Vorfeld seiner Hochzeit mit der aus Künzelsau stammenden und inzwischen in Stuttgart lebenden Therese Sattler, seine Rückkehr nach Deutschland vor, indem er das Stuttgarter Bürgerrecht und die württembergische Staatsbürgerschaft beantragte. Nach der in Stuttgart vollzogenen Eheschließung zog das Paar jedoch zunächst wieder nach Brasilien, wo ein Jahr später der Sohn Hugo zur Welt kam. Der Kontakt nach Stuttgart wurde allerdings über einen Verwandten aufrechterhalten: Der ebenfalls aus der Lüneburger Großfamilie stammende Heinrich Lindemann hatte dort 1852 eine berühmte Buchhandlung gegründet und war seit 1855 mit Rudolfs älterer Schwester Sophie verheiratet.
1872 kehrte die Familie endgültig nach Deutschland zurück und ließ sich, nach einem kurzen Aufenthalt in Stuttgart, in Ludwigsburg nieder, wo Hugo Lindemann im Königlichen Lyzeum eingeschult wurde. Nachdem die Familie im Spätjahr 1876 nach Hannover umgezogen war, besuchte er dort das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium und erwarb 1884 das Abitur. Zum Wintersemester 1884/85 schrieb er sich an der Universität Göttingen für die Fächer Klassische Philologie und Staatswissenschaften ein. Nach zwei Semestern wechselte er an die Universität Bonn, von wo aus er für das Sommersemester 1886 an die Universität München ging. Ab dem Wintersemester 1886/87 war er an der Universität in Kiel eingeschrieben, und promovierte 1889 mit einer altphilologischen Arbeit zum Dr. phil.
Bereits während seines Studiums hatte Lindemann Artikel für sozialistische Zeitschriften verfasst und dabei ein besonderes Interesse an den Ideen des britischen Fabianismus gezeigt. Deswegen begab er sich, nachdem er zwei Jahre in Hannover als freier Autor gelebt hatte, im Sommer 1892 nach London, wo er nicht nur zentrale Texte der britischen Gewerkschaftsbewegung unter dem Pseudonym „C. Hugo“ ins Deutsche übersetzte, sondern auch Kontakte mit führenden Vertretern der deutschen Sozialdemokratie unterhielt. So steuerte er zu einer (nur teilweise verwirklichten) „Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen“ zwei wichtige Kapitel bei, erarbeitete gemeinsam mit dem Juristen Stegmann ein umfangreiches „Handbuch des Socialismus“ und publizierte regelmäßig im „Vorwärts“ und in der „Neuen Zeit“. Vor allem aber studierte er die englische Kommunalpolitik, was für seinen weiteren Weg von prägender Bedeutung sein sollte.
Insgesamt war sein Aufenthalt in England jedoch eine eher ambivalente Zeit: Zwar etablierte er sich in der Partei als talentierter Schriftsteller, musste aber auch verkraften, dass ein Vorabdruck seines Handbuchs im September 1893 im „Vorwärts“ negativ besprochen wurde. Hinzu kam, dass seine finanziellen Verhältnisse nach dem Tod des Vaters zunehmend angespannt waren. Im Sommer 1895 schien sich eine neue berufliche Perspektive abzuzeichnen, als ihm Johann Heinrich Dietz eine dauerhafte Stelle in seinem Verlag anbot. Obwohl diese Anstellung schließlich doch nicht zustande kam, kehrte Lindemann kurze Zeit später nach Hannover zurück, wo er am 28. März 1896 die 30jährige Anna Fehn heiratete. Die Tochter eines königlichen Oberbereiters war eine selbstbewusste Frau, die zu dieser Zeit als Lehrerin aktiv im Berufsleben stand und nach ihrer Eheschließung als eine der führenden deutschen Frauenrechtlerinnen in Erscheinung trat.
Noch im gleichen Jahr zog das Ehepaar nach Degerloch, wo Lindemann als freier Schriftsteller und Mitarbeiter des SPD-Organs „Schwäbische Tagwacht“ tätig war. In kurzer Zeit gewann er innerhalb der württembergischen SPD großes Ansehen und profilierte sich in verschiedenen politischen Ämtern: Von 1900 bis 1908 saß er für die Partei im Gemeinderat von Degerloch und war, nach der Eingemeindung in die Landeshauptstadt, von 1908 bis 1918 Mitglied des Stuttgarter Bürgerausschusses. Zwischen 1903 und 1907 vertrat er den württembergischen Wahlkreis 10 im Reichstag und wurde 1906 in die Zweite Kammer des Landtags gewählt, der er dann bis 1918 angehörte, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Hier wirkte er 1909 entscheidend am Zustandekommen der württembergischen Bauordnung mit. 1911 war er außerdem Kandidat seiner Partei für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters und verlor die Wahlen gegen den Nationalliberalen Karl Lautenschlager nur denkbar knapp.
Parallel dazu veröffentlichte Lindemann zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, war ab 1908 Mitherausgeber des „Kommunalen Jahrbuchs“ und wurde zu einem der führenden Vertreter des Fachs Kommunalwissenschaften in Deutschland. Im Spätjahr 1915 habilitierte er sich an der TH Stuttgart und lehrte dort ab dem Studienjahr 1916/17 als Privatdozent.
Politisch war Lindemanns Ansehen über die Parteigrenzen hinweg so groß, dass er am 8. November 1918 als Vertreter der SPD im letzten königlichen Kabinett zum Minister für wirtschaftliche Demobilisierung ernannt wurde. Einen Tag später wurde er in Abwesenheit als Arbeitsminister in die Provisorische Regierung berufen, welche im Kontext der revolutionären Ereignisse aus Mitgliedern der SPD und der USPD gebildet worden war. Lindemann war somit der erste Minister, welcher aus dem königlichen Kabinett in die provisorische Regierung übertrat und bereitete somit deren Öffnung gegenüber den bürgerlichen Parteien vor, die dann am 10. November vollzogen wurde. Am 15. Januar 1919 übernahm er, als Nachfolger des entlassenen Arthur Crispien, das Amt des württembergischen Innenministers und trug in den folgenden Monaten seinen Teil dazu bei, dass die Konsolidierung der neuen Machtverhältnisse in Württemberg insgesamt recht friedlich über die Bühne ging. Allerdings hatte er nicht die Absicht, seine wissenschaftliche Laufbahn zugunsten einer politischen Karriere aufzugeben: Nachdem er bereits im Dezember 1918 einen Ruf an das vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer gegründete Institut für sozialwissenschaftliche Forschung erhalten hatte, erklärte er dem Kabinett am 15. April 1919, dass er diesen nun annehmen und von seinem Ministerposten zurücktreten wolle. Zwar gelang es Staatspräsident Blos, den Wechsel des von ihm hochgeschätzten Kollegen noch für einige Monate hinauszuzögern, doch am 29. Oktober 1919 trat Lindemann endgültig aus der württembergischen Staatsregierung aus und übernahm die Leitung des Kölner Forschungsinstituts; zudem war er ab 1920 als Honorarprofessor an die Universität Köln angebunden. In den folgenden Jahren galt seine Konzentration somit primär der Wissenschaft; sein politisches Engagement beschränkte sich auf die Mitgliedschaft in der Kölner Stadtverordnetenversammlung, der er von 1928 bis 1933 angehörte. Im April 1933 wurde Lindemann von den nationalsozialistischen Machthabern aus politischen Gründen zunächst beurlaubt; wenige Wochen später wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, und er zog sich ins hessische Bensheim zurück. 1945 wurde er rehabilitiert und erhielt zwei Jahre später in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen einen Ehrendoktor an der Universität Köln.
Quellen: StAL F 201 Bü 412, Bü 475; StadtA Stuttgart 10 Dep. A 10/2668; LKAS Familienregister Bd. 20, 1029.
Werke: Handbuch des Socialismus, 1894; Städteverwaltung und Munizipalsozialismus in England, 1897; Die deutsche Stadtverwaltung. Ihre Aufgaben auf den Gebieten der Volkshygiene, des Städtebaus und des Wohnungswesens, 1901; Die städtische Regie, 1907; Über Begriff und Bedeutung der Kommunalwissenschaft, 1916; Die deutsche Stadtgemeinde im Kriege, 1917.
Nachweis: Bildnachweise: HStAS J 300 Nr. 549.

Literatur: Raberg, Biographisches Handbuch, 506; Walther Herrmann, in: NDB 14, 586 f.; Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 – 1933, Chronik und Wahldokumentation. Ein Handbuch, 1995, 590; Leo Hilberath, Wissenschaft und Politik an der deutschen Schicksalswende, Festgabe für Hugo Lindemann, 1947.
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