Kraemer, Rudolf 

Geburtsdatum/-ort: 06.12.1885;  Heilbronn
Sterbedatum/-ort: 30.07.1945;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Doktor der Rechtswissenschaften, Wegbereiter der Blindenselbsthilfe, Kritiker des Nationalsozialismus
Kurzbiografie: bis 1904 Der blindgeborene Junge ist seit dem fünften oder sechsten Lebensjahr ein schwerer Stotterer und leidet ab dem zehnten Lebensjahr an massiven Schlafstörungen. Etwa ab 1916 treten noch Rheuma und ab 1940 Herzmuskelschwäche hinzu.
1908 Abitur an einem allgemeinbildenden Gymnasium in Heilbronn
1908-1911 Erste Studienphase in Freiburg (Volkswirtschaft), in Tübingen und München (Jura); Abbruch des Studiums wegen krankhafter Schlafstörung
1909 Gründung des Württembergischen Blindenvereins
1912 Mitbegründung des Reichsdeutschen Blindenverbandes
1913 Gründung der Württembergischen Blindengenossenschaft Heilbronn als erste Blindengenossenschaft in Deutschland
1919-1924 Zweite Studienphase in Heidelberg (Jura und Nationalökonomie)
1924 Promotion bei Karl Brinkmann zum Dr. phil. und bei Karl Heinsheimer zum Dr. jur.
ab 1926 Kampf um die Einführung einer Blindenrente, welche ab 1950 als „Blindengeld“ tatsächlich realisiert wird
1929-1934 Arbeit als Justiziar für den Reichsdeutschen Blindenverband (Rechtsberatung; Schaffung einer neuen Organisationsstruktur); Abberufung durch die Nationalsozialisten
1933 öffentliche Kritik an der nationalsozialistischen Eugenik
bis 1935 langjährige Arbeit an einer umfassenden Publikation über das „Deutsche Blindenrecht“; deren Veröffentlichung wird verboten
1935-1941 Abhaltung von „Ent-Stotterungs“-Kursen
1941-1944 Manager von Blindenkonzerten
1945 2. Aug. beigesetzt auf dem Friedhof in Heidelberg-Neuenheim
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1927 (Heilbronn) mit Helene, geb. Bauer (1994-1983)
Eltern: Vater: Viktor August Kraemer (1840-1911), Druckereibesitzer und Zeitungsherausgeber in Heilbronn
Mutter: Lina, geb. Frank (1857-1914) aus Böckingen bei Heilbronn
Geschwister: 6
Kinder: Rolf (geb. 1927), Jurist, Personalchef
GND-ID: GND/124221254

Biografie: Christhard Schrenk (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 145-147

Rudolf Kraemer wurde 1885 als sechstes von sieben Kindern des einflussreichen Heilbronner Zeitungsverlegers Viktor August Kraemer geboren. Seine Familie besaß die finanziellen Möglichkeiten und die menschliche Größe, den blinden Sohn nicht in eine Anstalt abzuschieben, sondern ihm die denkbar beste Bildung angedeihen zu lassen. Im fünften oder sechsten Lebensjahr wurde Rudolf zusätzlich zu einem schweren Stotterer – darunter litt er nach eigener Aussage weitaus mehr als unter der Blindheit. Im Alter von etwa zehn Jahren traten noch massive, krankhafte Schlafstörungen hinzu. Trotz dieser gesundheitlichen Probleme legte er 1908 an einem allgemeinbildenden Heilbronner Gymnasium mit überdurchschnittlichem Erfolg sein Abitur ab.
Für den blinden jungen Mann stellte sich nun die Frage, wie es beruflich weitergehen sollte. In dieser Situation formulierte er als sein Ziel, die Lebensumstände seiner blinden Schicksalsgenossen zu verbessern. Ihm war klar, dass dieses Ziel nur über hartnäckige Verhandlungen mit den für die Fürsorge zuständigen Behörden zu erreichen sei. Um dafür gewappnet zu sein, studiert er ab 1908 in Freiburg, Tübingen und München Nationalökonomie und Jura. Dies gestaltete sich in der Praxis als sehr schwierig, weil es keine Fachbücher in Blindenschrift gab. Rudolf Kraemer engagierte sich deshalb einen Privatsekretär, der ihm die einschlägige Literatur vorlas. Im Jahre 1911 musste er sein Studium wegen krankhafter Schlafstörungen abbrechen.
Das änderte jedoch nichts an seinem Ziel, die Lage der Blinden zu verbessern. Allerdings musste er jetzt seinen Weg zu diesem Ziel ändern. So verließ er den Pfad der Theorie und Wissenschaft und stellte den praktischen Gedanken der Blinden-Selbsthilfe in den Vordergrund. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Blinde – im günstigsten Fall – in Blindenanstalten untergebracht. Dort wurden sie lebenslänglich betreut und bewahrt. Kraemer und seine Mitstreiter setzten gegen diese passive Rolle der Blinden die Idee, dass seine Schicksalsgenossen ihr Leben aktiv in die eigenen Hände nehmen sollten. Deshalb gründete er 1909 als erste großflächige Blinden-Selbsthilfe-Organisation dieser Art in Deutschland den Württembergischen Blindenverein. Und er zählte 1912 zu den Mitgründern des Reichsdeutschen Blindenverbandes.
Bereits 1913 ging Kraemer noch einen wesentlichen Schritt weiter. Ihn beschäftigte die Idee, dass man blinden Handwerkern am besten dadurch helfen könne, dass man ihnen Arbeit – und damit sowohl Einkommen als auch Selbstwertgefühl – verschafft. Deshalb rief er die Württembergische Blindengenossenschaft Heilbronn ins Leben. Dort wurden sowohl der Einkauf der Rohstoffe als auch der Vertrieb der fertigen Produkte genossenschaftlich geregelt. Niemand in Deutschland hatte zuvor einen solchen Schritt gewagt – das Experiment sollte dank des blinden Kaufmanns Karl Anspach bald zu einer nationalen Erfolgsgeschichte werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Rudolf Kraemer in Heidelberg sein Jura und Nationalökonomie-Studium wieder auf. Er beendete die Phase 1924 mit einer zweifachen Promotion zum Dr. phil. und Dr. jur. Damit hatte er mehr erreicht, als fast jeder andere Geburtsblinde in Deutschland vor ihm. Und er war in der Lage, sein Ziel der Verbesserung der Situation der Blinden nun wieder auf dem ersten – dem juristischen – Weg zu verfolgen.
Ab 1926 widmete er sich dem Kampf um die Einführung einer „Blindenrente“. Seine Idee war, dass der Staat durch regelmäßige Zahlungen die materiellen Nachteile ausgleichen sollte, die den Blinden durch ihr Leiden erwachsen. Diese Blindenrente wurde ab 1950 – also fünf Jahre nach Kraemers Tod – in der Bundesrepublik Deutschland Realität.
Anfang 1927 heiratete er, zum Jahresende kam sein Sohn zur Welt. 1928 baute er sich in Heidelberg ein blindengerechtes schönes Haus, dessen Pläne er selbst entworfen hatte.
Von 1929 bis 1934 arbeitete Kraemer als Justiziar für den Reichsdeutschen Blindenverband. Dabei beriet er sowohl den Vorstand als auch zahlreiche einzelne Blinde in konkreten juristischen Einzelfragen. Darüber hinaus gab er durch eine Satzungsreform dem deutschen Blindenwesen eine neue Organisationsstruktur, die im wesentlichen auch heute noch Bestand hat.
1934 enthoben ihn die Nationalsozialisten dieses Amtes. Grund dafür war seine 1933 öffentlich geäußerte scharfe Kritik an der nationalsozialistischen Eugenik-Lehre. Kraemer setzte sich vehement insbesondere gegen die Zwangs-Sterilisierung ein. Mit dieser Haltung ließen ihn die damaligen Blinden-Funktionäre ziemlich allein. Diese waren im allgemeinen als bereits gut ausgebildete Erwachsene z. B. durch Unfall erblindet und infolgedessen von der Eugenik-Problematik nicht persönlich betroffen.
1935 wandte sich Kraemer von der inzwischen „gleichgeschalteten“ Blinden-Organisation ab und suchte einen neuen Weg, um das Los der Blinden zu verbessern. Er konzentrierte sich nun darauf, seine langjährige Arbeit an einer umfassenden Publikation über das „Deutsche Blindenrecht“ abzuschließen. Hierfür trug er alles zusammen, was es im Deutschen Recht zum Thema Blindheit gab. Auf diese Weise wollte er den Blinden eine Hilfestellung zur besseren Durchsetzung ihrer Rechte an die Hand geben. Aufgrund eines Gutachtens aus dem Reichsarbeitsministerium konnte das Werk jedoch nicht in Druck gehen.
In dieser Situation kehrte Kraemer dem Deutschen Blindenwesen den Rücken und wandte sich einer seiner anderen Krankheiten zu: dem Stottern. Er entwickelte eine Theorie über das Wesen und die Ursachen des Stotterns, und er bot Entstotterungs-Kurse an. Dies blieb jedoch wirtschaftlich unbefriedigend. Deshalb vollzog Kraemer eine erneute Wendung und arbeitete ab 1941 als Manager von neun blinden Musikern, für die er Konzerte organisierte. Die fortschreitenden Kriegseinwirkungen setzten dieser Tätigkeit im Herbst 1944 ein unfreiwilliges Ende. Rudolf Kraemer, der seit etwa 1915 zusätzlich an schwerem Rheuma und ab 1940 auch an einer – wohl daraus resultierenden – Herzmuskelschwäche litt, starb wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges („Herztod“).
Rudolf Kraemer – ein Mann von etwa 175 cm Körpergröße und mittlerer Statur – besaß nicht nur als Intellektueller und Wissenschaftler Größe, sondern er war auch ein gütiger und humorvoller Mensch. Und trotz aller Schicksalsschläge war er – einer der profiliertesten Vertreter der deutschen Blinden-Selbsthilfe-Bewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – mit sich und der Welt im Reinen. Das beweisen die Worte, die er wenige Wochen vor seinem Tode als Inschrift für seinen Grabstein ausgesucht hat: „Rudolf Kraemer lädt dich ein, fröhliches Herzens und gütigen Sinnes seiner zu gedenken. Ehre und Dank aber gewähren Gott.“
Quellen: Familienarchiv Kraemer, Heidelberg; Blindenstudienanstalt Marburg, Altaktenablage; StadtA Heilbronn.
Werke: Blindheitsleid und Glücksgefühl, 1929; Die Blindenrente, 1927; Die Neugestaltung des Reichsdeutschen Blindenverbandes, 1930; Kritik der Eugenik, 1933.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im Familienarchiv Kraemer, Heidelberg; StadtA Heilbronn, Fotosammlung.

Literatur: Christhard Schrenk, Anwalt des deutschen Blinden: R. Kraemer (1885-1945), in: Heilbronner Köpfe II, 1999, 65-78; ders., R. Kraemer – Ein Leben für die Blinden (1885-1945), Doktor der Rechtswissenschaften – Wegbereiter der Blindenselbsthilfe – Kritiker des Nationalsozialismus (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 14), 2002 (mit Bibliographie).
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