Hückel, Walter Karl Friedrich Bernhard 

Geburtsdatum/-ort: 18.02.1895; Berlin-Charlottenburg
Sterbedatum/-ort: 04.01.1973;  Tübingen
Beruf/Funktion:
  • Chemiker
Kurzbiografie: 1901 IV–1913 II bis März 1904 Vorschule in Göttingen, dann humanist. Gymnasium
1913 III–1920 VI Studium d. Chemie an d. Univ. Göttingen
1915 XI–1918 XI Kriegsdienst; EK II
1920 VII 7 Promotion bei A. Windaus zum Dr. phil. „summa cum laude“: „Hydroaromatische 1,2-Dicarbonsäuren u. ihr Verhalten bei d. Destillation mit Essigsäureanhydrid“
1920 VIII–1927 IX Planmäßiger Assistent des Chemischen Instituts d. Univ. Göttingen
1923 VIII 4 Habilitation für das Fach Chemie: „Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins“; Probevortrag: „Die neueren Forschungsergebnisse d. Physik u. die organische Chemie“
1927 X–1930 IV Planmäßiger außerordentlicher Professor für organ. Chemie an d. Univ. Freiburg im Br.
1930 V–1935 III ordentlicher Professor u. Direktor des Chem. Instituts an d. Univ. Greifswald
1935 IV–1945 V dasselbe an d. Univ. Breslau
1945 I–1947 VI Aufenthalt in Göttingen, literarische Arbeit; ab Okt. 1945 wiss. Berater bei d. Fa Sartorius
1947 VI–1948 IX Gastprofessor d. Chemie an d. Univ. Tübingen
1948 IX–1963 III bis Febr. 1950 außerordentlicher Professor mit den Rechten eines ordentlichen Professors, dann ordentlicher Professor für Pharmazeutische Chemie u. Direktor des Pharmazeutisch-chemischen Instituts an d. Univ. Tübingen; im SS 1963 Vertreter seines bisherigen Lehrstuhls
1954 VI Einweihung des neuen Pharmazeutisch-chemischen Instituts
1955 IV–1956 III Dekan d. Naturwiss.-mathematischen Fakultät
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Grignard-Medaille d. Société Chimique de France (1934); Mitglied d. Akad. d. Wiss. Göttingen (1939), Berzelius-Medaille, Lund/Schweden (1946); Ehrenmitglied d. Gesellsch. Finnischer Chemiker, Helsinki (1949); Mitglied d. Academia Scientiarum Fennica, Helsinki (1952); Medaille d. Königl. Akad. d. Wiss., Amsterdam (1957), Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wiss. (1958); Ehrenmitglied d. Ägyptischen Pharmazeutischen Ges. (1959); Dr. h. c. d. Univ. Rennes, Frankreich (1960); Ehrenmitglied d. Société Chimique de Belgique (1962), Lavoisier-Medaille de Société Chimique de France (1962); Stass-Medaille d. Société Chimique de Belgiue (1962); Mitglied d. Dt. Akad. d. Naturforscher „Leopoldina“ Halle/Saale (1963); Dr. h. c. d. Univ. Dijon, Frankreich, u. d. Univ. Kiel (1965); Otto-Wallach-Plakette d. Ges. Dt. Chemiker (1966)
Verheiratet: 1935 (Celle) Hildegard, geb. Schimpf (1908–2003)
Eltern: Vater: Armand (1860–1927), Dr. med., Arzt, Dozent, ab 1894 unabhängiger Wissenschaftler
Mutter: Maria, geb. Maier (1869–1947)
Geschwister: 2; Erich Armand Arthur Joseph (1896-1980), Physiker, u. Rudi (1899–1949), Dr. med., Arzt
Kinder: 4;
Dietlind (1937–1971),
Burkhard (1939–1946),
Ulrich (geboren 1942),
Konrad (geboren 1944)
GND-ID: GND/124973558

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 201-206

Hückel wurde als erstes Kind eines Arztes und selbstständigen Gelehrten geboren. Die Familie hatte sich 1899 in Göttingen niedergelassen und bemühte sich um eine harmonische und gesunde Entwicklung ihrer Kinder. So wuchsen die drei Brüder in schöner Umgebung mit Werkstatt und Laboratorium auf, die der Vater selbst eingerichtet hatte. „Außerhalb des Rahmens der Schule vermittelte mein Vater in Fortführung seiner früheren Erziehung meinen Brüdern und mir auf dem Gebiete eigentlich aller Naturwissenschaften eine umfassende theoretische und praktische Grundlage, […] halb im Spiel. […]Bereits am 20. Juli 1908 hatte ich meinem Vater erklärt, dass ich Chemiker werden wolle.“ (UA Tübingen, 311/1, Memoiren S. 18-21)
Zuvor freilich musste er die Schule absolvieren. Drei Jahre war er in der privaten Vorschule, in der er beim „ganz hervorragende[n] Pädagoge[n]August Heumann“ lernte (Memoiren, S. 6). Schon im humanistischen Gymnasium fiel dann Hückels phänomenales Gedächtnis auf. Er konnte z.B. die vierstellige Logarithmentafel „praktisch auswendig“ (Erich Hückel, 1975, 51). Das Lernen im Gymnasium bereitete ihm keinerlei Probleme; im Februar 1913 bestand er das Abitur und ab dem Sommersemester 1913 begann Hückels Chemiestudium.
Das Göttinger Chemische Institut stand damals unter der Leitung des bedeutenden Organikers Otto Wallach (1847–1931), dem 1910 der Nobelpreis für seine Forschungen über die Chemie der Terpene verliehen wurde. In seinen Memoiren erinnerte sich Hückel, wie Wallach ihm eine Analyse im Praktikum aufgetragen hatte und wie stolz er war, als der berühmte Gelehrte ihn für die sehr präzis durchgeführte Arbeit lobte. „Diese Gewohnheit Wallachs, regelmäßig durch das gesamte Praktikum zu gehen, […] habe ich zum Vorbild genommen“ (Memoiren, S. 46). 1961 würdigte Hückel Otto Wallach mit einer ausführlichen Biographie. Hückels eigene Forschungen über Terpene, 36 Experimentalarbeiten ab 1937, besonders über bizyklische Terpene, waren eine Fortsetzung von Wallachs Arbeit. Das lässt auch verstehen, warum Hückel 1966 die nach Otto Wallach genannte Auszeichnung der Gesellschaft Deutscher Chemiker erhielt.
Bereits zum Ende seines sechsten Semesters, im Juni 1915, bestand Hückel das 2. Verbandsexamen. Seine Doktorarbeit freilich wurde verzögert; denn im November 1915 wurde er zum Heer eingezogen; Hückel war bis März 1918 Soldat im Infanterieregiment 62 und damit u.a. an der Somme-Schlacht, den Kämpfen in Russland und am Italienfeldzug beteiligt. Beim Sturmangriff vor Arras wurde er verwundet. „Meine Soldatenzeit hat mich gelehrt, mit Menschen aller Bevölkerungsschichten umzugehen. […] Dann hat sie mir noch eines gegeben, […]eine feste Gesundheit“ (Memoiren, S. 158).
Nach seiner Entlassung im November 1918 kehrte Hückel an die Universität zurück und arbeitete sich schnell wieder ein. Der Nachfolger Wallachs und spätere Nobelpreisträger Adolf Windaus (1876–1959) nahm ihn als seinen Doktoranden an und trug ihm „mit bewundernswertem Scharfsinn“ (Antrittsrede, 1957, S. 22) ein Thema auf, das ganz seinen Neigungen entsprach. Es handelte sich um Stereochemie, die Anwendungsmöglichkeiten der sogenannten Spannungstheorie auf das Ringsystem des Cholesterins. Hückel besaß ein hoch entwickeltes räumliches Vorstellungsvermögen. Stereochemischen Fragestellungen ging er dann sein Leben lang leidenschaftlich nach. Im Juni 1920 legte Hückel seine Dissertation vor und im Doktorexamen wurde er in Chemie als Hauptfach sowie Physikalischer Chemie und Physik als Nebenfächern geprüft. In seinem Gutachten bestätigte Windaus: „Die Arbeit zeigt, dass Herr Hückel über die ihm gestellten Aufgaben nachdenkt und experimentelles Geschick besitzt“ (UA Göttingen, Promotionsakte Hückel). Er bewertete die Dissertation mit „sehr gut“; so fiel auch das Rigorosum aus.
Danach wurde Hückel Windaus‘ Assistent. Er wandte sich nun einem allgemeineren stereochemischen Problem zu, der Frage, inwieweit das durch van’t Hoff eingeführte „Kohlenstofftetraeder“ für die Konstruktion von Molekülmodellen brauchbar ist. Als Musterfall wählte Hückel die Frage nach der Existenz von zwei stereoisomeren Dekahydronaphtalinen, die Ernst Mohr aufgrund seiner theoretischen Forschungen vorausgesagt hatte. Windaus zeigte lebhaftes Interesse an dieser Arbeit und unterstützte Hückel immer wieder. Er veranlasste auch eine Beurlaubung Hückels für das Sommersemester 1922. Die Zeit von März bis September verbrachte Hückel in München als Volontärassistent beim berühmten Kasimir Fajans, um seine Kenntnisse in physikalischer Chemie zu vertiefen. Dort beschäftigte er sich besonders mit Verbrennungswärmen und Zusammenhängen zwischen Konstitution und physikalischen Eigenschaften organischer Verbindungen. Er publizierte auch einige Artikel darüber.
Nach dieser fruchtbaren Unterbrechung kehrte Hückel zurück. Im März 1923 hatte er die beiden angestrebten Isomere in Händen und konnte bei einer Chemiker-Tagung in Heidelberg dem schwer erkrankten Mohr persönlich die experimentelle Bestätigung seiner Voraussagen mitteilen. Das gilt bis heute als Anfang der modernen Stereochemie. Mit den erreichten Ergebnissen habilitierte sich Hückel am Ende des Sommersemesters 1923 bei Windaus. Als Privatdozent las er dann über „Theorien der organischen Chemie“, „Koordinationslehre“, „Über Katalyse“ und „Konstitution und physikalische Eigenschaften anorganischer und organischer Verbindungen“. Ende des Wintersemesters 1926/27 wurde Hückel außerordentlicher Professor; seine stereochemischen Arbeiten fanden bald Anerkennung. 1927 wurde er auf ein planmäßiges Extraordinariat am Chemischen Institut der Universität Freiburg und Vorstand der organischen Abteilung berufen. Bald konnte er seine Forschungen auf die Geschwindigkeit einiger interessanter Reaktionen erweitern. Damals las er über theoretische organische Chemie, danach zweisemestrig über „spezielle organische Chemie“.
1930 wurde Hückel auf den Lehrstuhl der Chemie an der Universität Greifswald berufen. Zum ersten Mal ganz selbstständig konnte er nun das organisch-chemische Laboratorium eigens für seine wissenschaftlichen Arbeiten herrichten. Als Direktor des gesamten Chemischen Instituts pflegte er das Zusammenwirken zwischen organischer, physikalischer und anorganischer Chemie, was „allen Teilen Gewinn“ bringe, wie er in seinem Vortrag zum 25-jährigen Bestehen des Greifswalder Chemischen Instituts erklärte (Angewandte Chemie, 45, 1932, S. 488). Dort publizierte Hückel auch die ersten zwei Auflagen seines bald klassisch gewordenen Werks „Theoretische Grundlagen der organischen Chemie“ (1931 und 1934/5). Diese erfolgreiche Entwicklung wurde durch die erzwungene Versetzung Hückels nach Breslau abgebrochen. Dort musste er gleich zwei Professuren, an der Universität und an der TH, übernehmen. Die eigentliche Arbeit aber fand in zwei veralteten, weit auseinanderliegenden Laboratorien statt; Hückel pendelte zu Fuß hin und her. Hinzu kam der Personalmangel. Ende 1939 musste er dazu noch die Professur des Anorganikers Otto Ruff (1871–1939) an der TH übernehmen. Fast zehn Jahre in Breslau litt er unter dem, was „die Willkür der damaligen Machthaber im Kulturministerium“ (Antrittsrede, 1957, S. 24) ihm zugemutet hatte. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass Hückel dennoch eine Reihe wissenschaftlicher und literarischer Arbeiten durchführen konnte und in Breslau u.a. seine Terpen-Forschungen begann.
Im Januar 1945 gelang es ihm, seine Familie mit dem letzten Zug nach Göttingen zu seiner Mutter zu schicken. Er selbst musste dem bereits sinnlosen Befehl gehorchen, die Laboratorien nach Sagan zu evakuieren. Von Sagan konnte er nicht mehr nach Breslau zurückkehren und durfte sich deshalb nach Göttingen begeben. Sein Haus samt Hab und Gut waren verloren.
„Leidens- und Hungerjahre 1945–1947“ nannte Hückel die ersten Nachkriegsjahre in Göttingen in seinen Memoiren (UA Tübingen, 311/1, S. 599). Sein Sohn und seine Mutter starben. Er selbst hatte keine Stelle und schrieb hauptsächlich für die „FIAT-Review of German Science 1939–1946“ der Field Information Agency, Technical, später auch auf Deutsch zwei Bände über „Theoretische organische Chemie“ in Deutschland von 1939 bis 1946. Außerdem war er Berater bei der Firma Sartorius. Schließlich publizierte er einen meisterhaft gestalteten Studienführer „Organische Chemie“ und konnte das umfangreiche Buch „Anorganische Strukturchemie“ fast vollenden. Dank der Bemühungen seines alten Freundes und Wander-Kameraden Georg Wittig wurde Hückel im Wintersemester 1947/48 und Sommersemester 1948 als Gastprofessor nach Tübingen berufen, um über „Probleme aus der theoretischen organischen Chemie“ zu lesen. Seine Familie blieb bis Ende August 1949 in Göttingen. Tübingen wurde die letzte Lebensstation Hückels. Nach reichlich hin und her – man wollte eigentlich einen Pharmazeuten, keinen Chemiker auf dieser Stelle haben – entschied die Universität, Hückel auf den vakanten Lehrstuhl für Pharmazeutische Chemie zu berufen.
Wie sich bald herausstellte, vermochte Hückel die Stelle dennoch voll auszufüllen. Erstaunlich schnell arbeitete er sich in das für ihn neue Gebiet ein, verfasste zweibändige „Vorlesungen über Pharmazeutische Chemie und Arzneimittelsynthese“ und plante und überwachte den Neubau des Pharmazeutisch-Chemischen Instituts. Es wurde 1954 bezogen. Dank seiner personellen Besetzung und apparativen Ausstattung rückte es bald „in die erste Reihe Pharmazeutisch-Chemischer Hochschulinstitute“ (Neidlen, 1980, S. IV). Hückel betreute damals zahlreiche Doktorarbeiten über Synthese, Analyse und chemische Eigenschaften verschiedener Klassen von Stoffen, die für die Pharmazie als bedeutend erschienen. Er verstand es wohl, allgemein-chemische und pharmazeutische Fragestellungen miteinander zu verbinden. Zeichen seines Ansehens: bei seiner Emeritierung 1963 wurde für Hückel ein Fackelzug veranstaltet!
Hückels „Hauptcharakterzüge waren unbedingtes Pflichtbewusstsein und außergewöhnliche menschliche Güte“ (Erich Hückel, 1975, S. 154). So nimmt es nicht wunder, dass der Emeritus mit einigen Mitarbeitern seine Arbeiten fortsetzte: „Nahezu täglich kam er ins Institut und nahm an dessen wissenschaftlichem Leben regen Anteil“ (Neidlen, 1980, S.V). Der frühe Tod der einzigen Tochter 1971 aber löste bei ihm einen seelischen Schock aus, von dem er sich nicht mehr erholte. Nach jahrelangem Leiden verstarb er.
Hückel hinterließ ein erstaunlich vielfältiges wissenschaftliches Erbe. Hunderte von Experimentalarbeiten stammen von ihm. „Die eigene Beobachtung ist die Grundlage jeder chemischen Forschung“, hatte er den angehenden Chemikern eingeprägt (Einführung, 1951, S. 10) und noch dem 65-jährigen bereitete das Experiment „kindliche Freude“ (Auterhoff, 1960, S. 144). Experimentalforschungen Hückels betreffen hauptsächlich zwei Gebiete: Stereochemie und Mechanismen organischer Reaktionen; denn stereochemische Arbeiten hatten ihn „ganz von selber“ (1957, Antrittsrede, S. 22) zu Fragestellungen geführt über den Verlauf von chemischen Reaktionen. Charakteristisch dabei ist, dass das Experimentieren Hückels immer auf die Lösung einer theoretischen Frage ausgerichtet war, ganz anders als die Mehrzahl damaliger Arbeiten in der organischen Chemie, die fast ohne theoretischen Hintergrund entweder Naturstoffe analytisch zu untersuchen strebten oder auf die Herstellung weiterer Derivate in bekannten Stoffklassen zielten. Ab 1926 erforschte Hückel Zusammenhänge zwischen Reaktivität und räumlichem Bau der Moleküle besonders intensiv. Hinzu kamen Untersuchungen über die „Waldensche Umkehrung“, die Umwandlung der Konfiguration eines asymmetrischen Kohlenstoff-Atoms in das optisch spiegelbildliche bei Substitutionsreaktionen.
Thematisch etwas abgesondert stehen die ab 1939 unternommenen 18 Experimentalarbeiten Hückels über Hydrierung ungesättigter Kohlenwasserstoffe mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak, die durch theoretische Ergebnisse seines Bruders Erich angeregt waren. Die Brüder waren „stets in wissenschaftlichem Gedankenaustausch geblieben“ (Memoiren, S. 279). Heute wird in der Chemie von „Birch- Hückel-Reduktionen“ gesprochen.
Eine andere Seite seines Erbes stellen seine literarischen Arbeiten dar. Hückel besaß eine ausgeprägte schriftstellerische Ader. Der Umfang seiner Publikationen ist auf über 15 000 Seiten zu schätzen. Diese enorme Produktivität wurde durch Hückels zur Legende gewordenes überragendes Gedächtnis stets begünstigt, ihr Grund aber lag in seinem inneren Bedürfnis, das sich stets entwickelnde Gesamtbild der Chemie immer wieder kritisch aufzuarbeiten, und in seiner ausgeprägten Neigung, Kenntnisse zu vermitteln.
Einen umfangreichen Teil von Hückels literarischem Erbe bilden die zahlreichen, mannigfaltigen Lehrbücher, und ein weiterer Teil seiner literarischen Hinterlassenschaft thematisiert die Geschichte der Naturwissenschaft, zumal der Chemie. Dutzende Artikel über Chemiker, Entwicklungen chemischer Begriffe und Einzelforschungen sind ungemein inhaltsreich und bis heute eine wahre Fundgrube für Historiker der Naturwissenschaften. Auch in den eigentlichen chemischen Arbeiten lässt sich der historische Ansatz Hückels immer wieder erkennen: „weil es für jeden, der sich für das Werden wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert, von Wert ist zu sehen, wie sich die […] aufgestellten Theorien im Laufe der Zeit gewandelt haben und was von ihnen schließlich heute noch geblieben ist“ (Theoretische Grundlagen d. organ. Chemie Bd. 2, 6. u. 7. Aufl. 1954, S. XI). Viele Publikationen Hückels sind kritisch, oft fast polemisch zugespitzt. „Man wird sich vielleicht wundern, dass manches, was gewöhnlich als gesicherte Errungenschaft angesehen wird, nun wieder als ungelöstes Problem hingestellt erscheint unter Nichtanerkennung bisheriger Beweisführung“ (Theoretische Grundlagen, 1931, Bd. 1, S. V). Immer wieder vom Ende der 1920er bis zum Ende der 1960er-Jahre griff Hückel kritische Betrachtungen auf, von Fundamentalbegriffen der Chemie wie Konstitution, Valenz, chemische Bindung, Reaktivität in ihrer geschichtlichen Entwicklung und verwies auf die Anwendungsgrenzen dieser Begriffe. Vor allem sein Hauptwerk stellt eine große Auseinandersetzung in diesem Sinne dar: die zwei Bände „Theoretische Grundlagen der organischen Chemie“. „Das Werk ist eine Leistung, die in ihrer Bedeutung weit über den [Rahmen]eines zusammenfassenden und berichtenden Buches hinausgeht. Es ist an vielen Stellen wegweisend für die kommende Forschung des Physikers und des Chemikers“ (B. Helferich, Angewandte Chemie, 45, 1932, S. 179). Tatsächlich stellten die „Grundlagen“ ein Pionierwerk für die organische Chemie weltweit dar, einen Meilenstein für die weitere Entwicklung, zumal in den Abschnitten über chemische Bindung, wo dank der Teilnahme von Hückels Bruder Erich deren quantenchemische Grundlagen beschrieben wurden. „Es ist gewiss, dass ein Verständnis wichtiger chemischer Fragen nur auf Grund der modernen Quantentheorie zu gewinnen sein wird, und es wird deshalb auch für den organischen Chemiker nicht mehr möglich sein, an der neuesten Entwicklung der Atom- und Molekularphysik vorüberzugehen, auch dann nicht, wenn sie ihm für die Probleme, die er gerade behandelt, überflüssig erscheinen können“, hatte Hückel schon 1935 erklärt („Theoretische Grundlagen Bd. 2, 2. Aufl. 1935, S. 295). Die Zeit war aber noch nicht reif, die organische Chemie aufgrund der neuen Physik umzugestalten. Obwohl der Umfang des Werks bei weiteren Auflagen sich verdoppelte, sah Hückel sich gezwungen, die Entwicklungen in der Quantenchemie wegzulassen, „die ein normaler Chemiker nicht nachprüfen kann“ (Memoiren, S. 766). Hückels Werk überdauert in der Geschichte der Chemie nicht nur als monumentales Denkmal der „vor-quantenchemischen“ Ära, sondern auch als erster, vielleicht bedeutendster Beitrag dazu, dass letztlich die moderne theoretische Chemie entstehen konnte.
Quellen: UA Göttingen Phil Prom HV, 15, Promotionsakte Hückel, u. Math Nat Prüf Pers Hückel, Habilitationsakte Hückel; UA Freiburg B 24/1502, Personalakte Hückel; UA Greifswald Phil-Fak I-373, Bl. 125-155, Berufung Hückel, PA 2527, Personalbogen Hückel, u. Professorenalbum III, Bl. 69, Angaben zur Person Hückel; UA Tübingen 193/3663, Personalakte des Rektorats, 201/917, Personalakte d. Mathematisch-Naturwiss. Fakultät, Personalakten Hückel, 311, Teilnachlass Hückel, insbes. 311/1, Memoiren Hückels, Typoskript, 767 S. 40/101, 74, 126/30/ Studenten- u. Personalakte Armand Hückel; UA Heidelberg HAW 226, Akte Hückel als Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wiss.; Auskünfte des StadtA Tübingen vom 18.6.2014 u. des StadtA Göttingen vom 30.6.2014.
Werke: Werkverz. In: Chemische Berichte 111, 1980, I-XXVIII. – (Auswahl) Der Energie-Inhalt d. Polymethylenringe, in: Berr. d. Dt. Chemischen Gesellschaft 53, 1920, 1277-1283; (mit A. Windaus) Anwendung d. Spannungstheorie auf das Ringsystem des Cholesterins, in: Nachrichten d. Königl. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen, Math.-physikal. Kl. 1921, 162-183; Die Bedeutung d. Atomkonstanten d. Verbrennungswärme u. d. Molekularrefraktion, in: Journal für praktische Chemie [2], 103, 1922, 241-248; Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins u. seiner Derivate, in: Nachrr. von d. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen, Math.-physikal. Kl., 1923, 43-56; Zur Stereochemie bicyclischer Ringsysteme. I. Die Stereoisomerie des Dekahydronaphtalins u. seiner Derivate, in: Liebigs Annalen d. Chemie 441, 1925, 1-48; Konfigurationsänderungen bei Substitutionen, in: Zs. für angewandte Chemie 39, 1926, 842-851; Über den Anwendungsbereich d. klassischen Stereochemie u. d. geometrischen Stereochemie Weßenbergs, in: Berr. d. Dt. Chemischen Gesellschaft 59, 1926, 2826-2838; Katalyse mit kolloiden Metallen, 1927; D. gegenwärtige Stand d. Spannungstheorie, in: Fortschritte d. Chemie, Physik u. physikalischen Chemie 19, 1927, 239-343; Theoretische Grundlagen d. organischen Chemie Bd. 1, 2, 1931, 2. Aufl. 1934 u. 1935, 3. Aufl. 1940 u. 1941, 4. Aufl. 1943, 5. Aufl. 1944 u. 1948, 6. Aufl. 1949 u. 1954, 7. Aufl. 1952 u. 1954; 8. Aufl. 1956 u. 1957, 9. Aufl. 1961; (mit Erich Hückel) Theory of induced polarities in benzene, in: Nature 129, 1932, 937f.; Molekülbau u. Reaktionsgeschwindigkeit, in: Berr. d. Dt. Chemischen Gesellschaft 67 A, 1934, 129-138; Lehrbuch d. Chemie, T. 1 Anorganische Chemie, T. 2 Organische Chemie, 1936–1937, 2. Aufl. 1940–1941, 3. Aufl. 1943, 4. Aufl. 1949, 5. Aufl. 1952 u. 1954, 6. Aufl. 1955 u. 7. Aufl. 1957; (mit F. Nerdel) Änderungen des Molekülbaus bei chemischen Reaktionen. III. Die Umsetzung von Bornylamin u. Isobornylamin mit salpetriger Säure, in: Liebigs Annalen d. Chemie 528, 1937, 57-73; Zur Theorie d. sterischen Hinderung, in: Zs. für physikalische Chemie A, 178, 1937, 113-122; Die Stellung d. organischen u. physikalischen Chemie zueinander im Wandel d. Zeiten, in: Zs. für den physikalischen u. chemischen Unterricht 51, 1938, 78-83, 120-123; Zur Kenntnis d. Waldenschen Umkehrung, in: Liebigs Annalen d. Chemie 533, 1938, 1-45; (mit H. Havekoss u.a.) Molekülbau u. Reaktionsgeschwindigkeit, ebd., 129-171; Über den Geltungsbereich d. Arrheniusschen Beziehung bei Reaktionen in Lösungen, in: Zs. für physikalische Chemie A, 189, 1939, 313-320; Umsetzungen von ungesättigten u. mehrkernigen aromatischen Kohlenwasserstoffen mit Natrium u. Calcium in flüssigem Ammoniak, in: Liebigs Annalen d, Chemie 540, 1939, 157-189; Substitution, Addition u. Abspaltung, in: Angewandte Chemie 53, 1940, 49-54; Otto Ruff, 1871-1939, in: Berr. d. Dt. Chemischen Gesellschaft, 73 A, 1940, 125-145; Die Umlagerungen des Pinens, in: Nachrr. von d. Akad. d. Wiss. In Göttingen, 1941, Math.-Physikal. Kl., 59-75; Konfigurative Beziehungen in d. Terpenreihe, in: Journal für praktische Chemie [2] 157, 1941, 225-237; Neue Ziele in d. Terpenchemie, in: Die Chemie 55, 1942, 227-232; Aus d. Geschichte d. Terpenchemie, in: Die Naturwissenschaften 30, 1942, 17-30; Der Wertigkeitsbegriff, in: Journal für praktische Chemie [2]161, 1943, 241-260; Adolf Windaus‘ Bedeutung für die organische Chemie, in: Angewandte Chemie 59, 1947, 185-188; Anorganische Strukturchemie, 1948; Neues aus d. theoretischen organischen Chemie, in: Naturwissenschaftl. Rundschau 1, 1948, 56–61; Der Strukturgedanke in d. Chemie, ebd., 2, 1949, 441-445; Einführung in das Studium d. Chemie, 1951; Theoretische organische Chemie, Naturforschung u. Medizin in Deutschland, Bde. 34 u. 35, 1953; Vorlesungen über pharmazeutische Chemie u. Arzneimittelsynthese, Bd. I, Anorganischer Teil, Bd. II, Organischer Teil, 1954, 2. Aufl. 1961; Antrittsrede, in: Jahresheft d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1957/58, 21-25; Die Chemische Bindung. Kritische Betrachtung d. Systematik, d. Ausdruckweisen u. d. formelmäßigen Darstellung, in: Journal für praktische Chemie [4] 5, 1958, 105-174; Paul Walden, 1863-1957, in: Chemische Berr. 94 A, 1958, XIX-LXVI; (mit R. Rosmus) Gegenseitige Löslichkeitsbeeinflussung bei Kombinationen von Salicylaten zweiwertiger Metalle mit Pyramidon u. Antipyrin, in: Archiv d. Pharmazie 293, 1960, 159-169; Otto Wallach, 1847–1931, in: Chemische Berr., 94, 1961, VII-XCIII; Terpene, in: Ullmanns Encyklopädie d. technischen Chemie, 3.Aufl., 16. Bd., 1965, 756-767; Participation, assistance, transition state, intermediate, in: Journal für praktische Chemie [4]32, 1966, 320-336; Über die Grenzen einer sinnvollen Anwendung des Mesomerie- u. des Resonanzbegriffes, ebd, 33, 1966, 5-38; Reduktion von Kohlenwasserstoffen durch Metalle in flüssigem Ammoniak, in: Fortschritte d. chemischen Forschung 6, 1966, 197-250; 100 Jahre Geschichte d. Berichte, in: Chemische Berr. 100, 1967, I-XXXIX, 2778; Die Entwicklung d. Hypothese vom nichtklassischen Ion: Eine historisch-kritische Studie, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1967/68, 5. Abhandlung, 1-53.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (ca. 1960), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 203, Handschriftenabteilung d. UB Tübingen, 49924 (PA) LXV60a 4o, mit Genehmigung d. Univ. Tübingen. – Journal of Chem. Education 28, 1950, 625 u. Chemische Ber. 111, 1980, S. I; Chemie in unserer Zeit 4, 1970, 182 (mit Erich Hückel, 1914), 185 (mit den Brüdern, 1938) (vgl. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterb. VI, Teil 2, 1937, 1173f., VII a, Teil 2, 1958, 564-566, VIII, Teil 2, 2002, 1562f.; DBE, 2.Aufl. 5, 2006, 192; Lexikon bedeutender Chemiker, 1989, 214f.; R. E. Oesper, Walter Hückel, in: Journal of Chemical Education 28, 1950, 625 (mit Bildnachweis); O. Neunhoeffer, Zum 60. Geburtstag von Prof. Dr Walter Hückel, in: Arzneimittelforschung 5, 1955, 103f.; Anonym, Walter Hückel, in: Nachrichten aus Chemie u. Technik 8, 1960, 35f. (mit Bildnachweis); H. Auterhoff, Zum 65. Geburtstag von Professor Dr. Walter Hückel, in: Arzneimittelforschung 10, 1960, 143f. (mit Bildnachweis); Anonym, Prof. Dr. Walter Hückel 65 Jahre, in: Pharmazeutische Ztg. 105, 1960, 204f.; M. H.-C. M. J., Professor Dr. Dr. h. c. Walter Hückel, Tübingen, 70 Jahre, in: Dt. Apotheker-Ztg. 105, 1965, 215f.(mit Bildnachweis); O.-E. Schultz, Prof. Dr. Dr. h. c. Walter Hückel, Tübingen, Ehrendoktor d. Kieler Universität, 70 Jahre, in: Pharmazeutische Ztg. 110, 1965, 213 (mit Bildnachweis); W. Luck, Walter Hückel †, in: Physikalische Blätter 29, 1973, 232; Erich Hückel, Ein Gelehrtenleben, 1975; R. Neidlein, M. Hanack, Walter Hückel, 1895–1973, in: Chemische Berichte 111, 1980, I-XXVIII (mit Bildnachweis u. Werken).
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