Haenzel, Gerhard Karl Theodor 

Geburtsdatum/-ort: 05.03.1898; Wollin, Pommern
Sterbedatum/-ort: 06.03.1944; Lesneven, Dép. Finistère, Bretagne (durch Selbstmord)
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker
Kurzbiografie: 1907–1915 Peter Gröning-Gymnasium, Stargard, Pommern, bis Abitur
1915–1920 Militär- u. Kriegsdienst im kaiserlichen Heer u. in d. Reichswehr, zuletzt Leutnant
1920–1925 Studium an d. TH Berlin, Dipl.-Ing. Fachrichtung Technische Physik
1924 –1933 Assistent u. Dozent an d. TH Berlin
1927–1928 Studium an d. Univ. Berlin
1927 II. 25 Promotion bei S. Jolles, TH Berlin, zum Dr. Ing.: „Zur synthetischen Theorie d. Mechanik starrer Körper“
1929 Habilitation für das Fach Mathematik an d. TH Berlin: „Theorie u. Klassifikation d. Kollineationen vermöge d. Involutionen auf d. linearen Strahlenkongruenz“
1933 o. Professor für Geometrie an d. TH Karlsruhe
1935–1938 Einberufungen zu Wehrübungen
1940 Promotion an d. Univ. Freiburg zum Dr. rer. nat.
1939–1944 Kriegsdienst, zuletzt als Hauptmann an d. Westfront
1943 o. Professor für „Reine u. angewandte Mathematik“ an d. Univ. Münster
1944 Denunziation, Einleitung eines kriegsgerichtlichen Verfahrens
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1924 (Berlin) Gertrud Emilia Elisabeth, geb. Wichmann, (1904 –1985)
Eltern: Vater: Julius Alwin (1864–1931), Rektor, später Schulrat
Mutter: Ernestine Emma Margarethe, geb. Hellwig (1869–1936)
Geschwister: 4; Hildegard (1891–1980), Susanna (1893–1975), Dr. med., Ilse (1894–1971) u. Ruth (1904–1999)
Kinder: 3; Margarete Elisabeth Ingeborg (* 1925), verh. Waldmann, Gert Wolfgang (1927–1978) u. Ingrid Karin (1934–1977), Dr. med.
GND-ID: GND/125021992

Biografie: Jürgen Elstrodt (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 165-168

Haenzel wurde in Wollin auf der Insel Wollin in der Odermündung in Pommern als Sohn eines Lehrers und späteren Schulrats geboren. Er besuchte bis 1915 das humanistische Gymnasium, bestand dort das Abitur, wurde anschließend zum Militärdienst einberufen und leistete vom 1. Juli 1915 an Kriegsdienst, zunächst im I. Weltkrieg im kaiserlichen Heer, anschließend in der Reichswehr bei den polnischen Aufständen bis 1920. Die Liste seiner zahlreichen Einsätze füllt in der Personalakte im Universitätsarchiv Münster eine eng beschriebene Schreibmaschinenseite. Am 30. September 1920 schied er als Leutnant aus dem Militärdienst aus.
Vom WS 1920/21 bis zum SS 1925 studierte Haenzel an der TH Berlin Mathematik, Physik und Elektrotechnik, zunächst an der Fakultät für Maschinenbau, danach überwiegend an der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften. Am 4. Juli 1925 legte er die Hauptprüfung zum Diplom-Ingenieur der Fachrichtung „Technische Physik“ ab. Bereits vor dem Abschlussexamen bekleidete er eine Stelle als außerplanmäßiger Assistent bei Georg Hamel (1877–1954) am Institut für Angewandte Mathematik der TH Berlin.
Seit dem Jahresanfang 1926 arbeitete Haenzel als ständiger Assistent seines Lehrers Geheimrat Stanislaus Jolles (1857–1942) am Lehrstuhl für Darstellende Geometrie und nach Jolles’ Emeritierung vom 1. Oktober 1927 in gleicher Position bei dessen Nachfolger Erich Salkowski (1881–1943). Auf Anregung von Jolles entstand Haenzels erste Dissertation, womit er 1927 an der TH Berlin zum Dr. Ing. promoviert wurde. Vom SS 1927 bis zum WS 1927/28 setzte Haenzel seine Studien an der Universität Berlin fort und wurde 1929 an der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften der TH Berlin bei Salkowski für das Fach Mathematik habilitiert. Anschließend hielt er bis zum WS 1932/33 mathematische Vorlesungen an dieser Hochschule und veröffentlichte zahlreiche mathematische Arbeiten, vornehmlich über Themen aus der Geometrie, aber auch über algebraische Fragen, elliptische Integrale und die Gravitationsgleichungen Einsteins. Etwa die Hälfte seiner über 30 wissenschaftlichen Arbeiten entstammt dieser produktiven Schaffensperiode.
Am 1. April 1933 wurde Haenzel auf dem Lehrstuhl für Geometrie an der TH Karlsruhe Nachfolger von Richard Baldus (1885– 1945), der an die TH München gewechselt war. Die Stellenbesetzung mit Haenzel erwies sich als eine glückliche Wahl, denn Haenzel verband sein Arbeitsgebiet „Anwendungen der Geometrie“ geschickt mit Beziehungen zur Technik. In seinen systematisch und klar aufgebauten Vorlesungen stellte er zunächst anschauliche Argumentationen voran, bevor er strenge mathematische Begründungen vortrug. Mit großem Engagement widmete er sich den Belangen der studentischen Jugend. Haenzel gehörte zu den wenigen Mitgliedern der deutschen Delegation in Oslo vom 15. bis 18. Juli 1936 auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress.
Im Jahre 1937 wechselte Haenzel in Karlsruhe auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Mathematik und Mathematische Technik. In einem Personalbogen benennt er seine Forschungsgebiete: „Mathematik, insbesondere Geometrie“ und „Theoretische Physik, insbesondere neuere Atomtheorie“. Einer originellen Verbindung beider Forschungsrichtungen entstammen drei Arbeiten über Geometrie und Wellenmechanik. Die ersten beiden dieser Arbeiten schickte Haenzel am 9. Mai 1940 an die Naturwissenschaftlich- Mathematische Fakultät der Universität Freiburg und beantragte die Promotion zum „Dr. phil. nat.“ mit den Fächern Mathematik, Physik und Philosophie. Daraufhin wurde er am 23. September 1940 „mit Auszeichnung“ zum „Dr. rer. nat.“ promoviert; Erstgutachter war Wilhelm Süss (1895–1958), der 1944 das Mathematische Forschungsinstitut in Oberwolfach gründete. Haenzel legte jedoch großen Wert auf die Bezeichnung „Dr. phil.“, denn er hegte den Wunsch, an eine Universität zu wechseln, und an einigen deutschen Universitäten gehörte die Mathematik damals noch zur Philosophischen Fakultät.
Nach Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1935 wurde Haenzel von 1935 bis 1938 mehrfach zu Reserveübungen einberufen, 1936 zum Oberleutnant, 1938 zum Hauptmann d. Res. befördert. Während des II. Weltkriegs wurde er zunächst von 1939 bis Ende Januar 1940 und wieder ab dem 15. Dezember 1941 zum Kriegsdienst einberufen. Ständige Anträge der TH Karlsruhe auf „UK-Stellung“ bzw. „Arbeitsurlaub“ für Haenzel zur Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs und zur Abnahme von Prüfungen hatten allenfalls kurzfristigen Erfolg oder wurden abgelehnt. Infolge der Strapazen des Militärdienstes war Haenzel vom 6. August bis zum 15. September 1942 wegen einer Herz- und Nervenerschöpfung im Lazarett.
Auch während der Zeit seiner Abwesenheit hielt Haenzel Kontakt zur Fridericiana. Seinem Antrag auf Umbenennung der Einrichtungen beim Lehrstuhl für Mathematik und Mathematische Technik in „Mathematisches Institut“ entsprach das Reichsministerium und ernannte Haenzel am 5. August 1942 zum Direktor des Mathematischen Instituts der TH Karlsruhe.
Wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus wurde Haenzel mehrfach denunziert. Vergleichsweise sehr spät und erst nach längerem Druck trat er in die Partei ein. Er teilte am 4. November 1941 der „Hochschulführung“ der TH Karlsruhe mit, dass er seit Anfang 1940 der NSDAP angehöre (Mitgliedsnr. 7 860 509). Heftige Auseinandersetzungen mit dem damaligen Dekan Bühl wegen dessen anmaßender und grob willkürlicher Amtsführung zu Lasten des Mathematischen Instituts führten 1942 unter Hinweis „auf eine Reihe früherer Vorkommnisse“ zu einer förmlichen Beschwerde Haenzels beim bad. Kultusministerium. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Haenzel den 1943 an ihn ergangenen Ruf an die Universität Münster als Nachfolger des 1942 pensionierten Ludwig Neder (1890– 1960) zügig annahm und in Karlsruhe keine Verhandlungen zur Rufabwehr führte. Ein weiterer Grund für den Wechsel war, dass Haenzel trotz seiner Aufgeschlossenheit für die besonderen Belange der Mathematik an Technischen Hochschulen sich inzwischen mehr zur Reinen Mathematik hingezogen fühlte, wie sie an Universitäten gepflegt wurde. Haenzel wurde am 27. September 1943 rückwirkend zum 1. August Professor für Reine und angewandte Mathematik und Direktor des Mathematischen Seminars der Universität Münster in Westfalen.
Hermann Senftleben (1890–1975), der Dekan der Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät dieser Universität, stellte alsbald einen Antrag auf UK-Stellung oder Arbeitsurlaub für Haenzel, weil in Münster „für den Unterricht nur noch eine einzige Kraft […] zur Verfügung“ stand. Zusätzlich bemühte sich Senftleben, über W. Süss, den Rektor der Universität Freiburg, Haenzels zweiten Doktorvater, für Haenzel einen Auftrag für „kriegswichtige Forschungsarbeiten“ zu erwirken. Der Antrag auf Arbeitsurlaub aber wurde vom Oberkommando der Wehrmacht am 2. Februar 1944 abgelehnt.
Haenzel war unterdessen durch militärische Aufgaben nach eigenem Zeugnis „außerordentlich stark in Anspruch genommen.“ Nachdem er im Herbst 1943 ein „Marschbataillon von über 1000 Mann nach dem Osten“ geführt hatte, wurde er Anfang 1944 in der Bretagne zur Vorbereitung der Abwehr der erwarteten alliierten Invasion eingesetzt. Wiederholt äußerte sich Haenzel kritisch über die mangelhafte Versorgung der Truppe und die unzulänglichen Verteidigungsmaßnahmen an der bretonischen Küste und zog daraus entsprechende Folgerungen über den Ausgang des Krieges. Dies führte zu einer schriftlichen Denunziation und zur Einleitung eines kriegsgerichtlichen Verfahrens gegen Haenzel wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“. Bevor eine Vernehmung vor dem Kriegsrichter zustande kam, erschoss sich Haenzel und sicherte so die Hinterbliebenenpension für seine Familie, die bei einer Verurteilung verwirkt gewesen wäre.
Haenzel war nur 219 Tage Professor in Münster und hat sein Amt dort nie ausüben können. Nachträglich stellte Süss fest, dass der von Münster angestrebte „UK-Stellungsbefehl“ für Haenzel sein Batallion noch vor Haenzels Tod erreicht hatte, ihm aber wegen des anhängigen Verfahrens nicht eröffnet worden war.
Die bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen Haenzels liegen auf dem Gebiet der Geometrie. Dazu stellte W. Süss in seinem Promotionsgutachten fest: „In diesen Arbeiten wird die Theorie des linearen Strahlenkomplexes und seiner Kongruenzen erneut entwickelt, welche seit Plücker und F. Klein lange Zeit als abgeschlossen betrachtet worden ist […]. Diese Haenzelschen Arbeiten stellen damit eine völlig neue Grundlage der gesamten Strahlengeometrie dar und eröffnen gleichzeitig neue Felder der Anwendungen. Eines dieser Anwendungsgebiete ist […]die Wellenmechanik von Dirac.“ Insgesamt freilich ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Entfaltung Haenzels durch die lange Dauer seiner militärischen Dienstzeiten erheblich gehemmt wurde und viele seiner wissenschaftlichen Pläne wegen seines frühen Todes nicht realisiert werden konnten. Prägnant dokumentiert sich Haenzels Beziehung zum Fach Mathematik in seinem Satz: „Die Mathematik ist die musischste aller Wissenschaften.“
Quellen: UA Freiburg B 31/971, Promotionsakten Gerhard Haenzel; UA Münster Bestand 10, Nr. 2351, Bestand 63, Nr. 84, Personalakten Gerhard Haenzel; Auskünfte von Margarete Waldmann, geb. Haenzel, Freiburg, Tochter von Haenzel, u. Heinz-Albrecht Caspar, Darmstadt, Neffe von Haenzel, vom März 2008, Herbst 2008 u. Juli 2009.
Werke: Verzeichnis d. 31 wesentlichen wissenschaftl. Arbeiten von Haenzel bei Max Pinl, 1972, 204 –205; diese u. drei weitere kleinere auch in d. Datenbank des Zentralblatts für Mathematik (großenteils mit Referat). Schriftenverzeichnis auch bei Fritz Reutter, 1966 (vgl. Literatur). – Auswahl: Zur synthetischen Theorie d. Mechanik starrer Körper, Diss. ing. Berlin (TH), in: Sitzungsberr. d. Berliner Mathemat. Gesellschaft 26, 1927, 126–162; Theorie u. Klassifikation d. Kollineationen vermöge d. Involutionen auf d. linearen Strahlenkongruenz, Habil., in: Tôhoku Mathematical Journal 31, 1929, 388–419; Die Geometrie d. linearen Strahlenkongruenz u. ihre Gerade-Kugel-Transformation, in: Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vgg. 42, 1932, 75–84; Eine analytische Theorie d. Involutionen auf d. linearen Strahlenkongruenz u. deren Anwendung, in: Journal für die reine u. angewandte Mathematik 166, 1932, 167–181; Die Geometrie d. linearen Strahlenkongruenz […], ebd. 173, 1935, 91–113, 175, 1936, 169–181, 178, 1938, 229–252 u. 185, u. 1943, 78–101; Die Polarentheorie des linearen Strahlenkomplexes u. seiner Strahlenkongruenzen, ebd. 181, 1939, 45–60; Geometrie u. Wellenmechanik, in: Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vgg. 49, 1940, 215–242, 50, 1940, 121–129 u. 52, 1942, 103–117 (die ersten beiden gleichzeitig: Diss. phil. nat. Freiburg 1940); Die Diracsche Wellengleichung u. das Ikosaeder, in: Journal für die reine u. angewandte Mathematik 183, 1941, 232–242; Die de Brogliesche Theorie des Photons in geometrischer Darstellung, in: Zs. für Techn. Physik 24, 1943, 87–90.
Nachweis: Bildnachweise: GLA Karlsruhe 448/2440; von Renteln, 2002, 131 u. 138; Elstrodt u. Schmitz, 2008, 94 (vgl. Literatur); Jürgen Elstrodt u. Norbert Schmitz, Geschichte d. Mathematik an d. Univ. Münster. http://www.math.uni-muenster.de/ historie, 96.

Literatur: Fritz Reutter, Gerhard Haenzel, in: NDB 7, 1966, 447 f.; Max Pinl, Kollegen in einer dunklen Zeit. III. Teil. Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vgg. 73, 1972, 153–208, bes. 203– 205; Michael von Renteln, Die Mathematiker an d. TH Karlsruhe (1825–1945). 22002, insbes. 131–140; Jürgen Elstrodt u. Norbert Schmitz, Geschichte d. Mathematik an d. Univ. Münster. Teil I: 1773–1945. 2008, bes. 71–75 u. 94 –97; Jürgen Elstrodt u. Norbert Schmitz, Geschichte d. Mathematik an d. Univ. Münster. http://www.math. uni-muenster.de/historie.
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