Kappes, Heinz 

Andere Namensformen:
  • Wirklicher Name: Kappes, Martin Heinrich
Geburtsdatum/-ort: 30.11.1893;  Fahrenbach bei Mosbach
Sterbedatum/-ort: 01.05.1988;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • ev. Pfarrer, Religiöser Sozialist, Mystiker
Kurzbiografie: 1911–1914 Studium d. ev. Theologie u. Orientalistik in Tübingen u. Berlin
1914–1918 Kriegsfreiwilliger, zuletzt Leutnant; Kopfverletzung
1919/20–1922 I. u. II. theol. Examen in Heidelberg, dann Vikar in Brötzingen bei Pforzheim, Lahr, Mannheim- Neckarstadt-West, Lutherkirche, u. Karlsruhe
1922–1933 Sozial- u. Jugendpfarrer in Karlsruhe
1922 Mitglied im Bund d. Religiösen Sozialisten; auch aktiv in d. christl. Studentenbewegung u. im Bund dt. Jugendvereine, Vorsitzender d. Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde
1924–1933 Mitglied d. SPD
1926–1930 u. 1930–1933 SPD-Stadtverordneter/Stadtrat in Karlsruhe, u. überregionaler Parteiredner
1926–1933 Mitglied d. bad. Landessynode, Auseinandersetzungen mit d. Kirchenleitung u. den Dt. Christen, 1933 zwangsversetzt nach Büchenbronn bei Pforzheim, Verhaftung, Amtsenthebung, Berufsverbot, gerichtl. Ausweisung aus Baden
1934/35–1948 Emigration d. Familie nach Palästina mit Hilfe d. Quäker; Deutschlehrer, dann Angestellter d. British Food Control
1939–1945 Kriegsdienstverweigerer; 1941 bis 1945 mit Mandatspass in Palästina; 1944 in Deutschland ausgebürgert
1948/49 Rückkehr in die Bundesrepublik, Wiedereinbürgerung u. Wiederaufnahme in den Dienst d. bad. ev. Kirche
1948–1951 Religionslehrer in Karlsruhe; seit 1950 Lehrtätigkeit; Mitbegründer u. Geschäftsführer d. Gesellschaft für Christl.-Jüd. Zusammenarbeit; engagiert bei den Anonymen Alkoholikern u. den Emotions Anonymous
1952–1959 Leiter des Ev. Gemeindedienstes in Karlsruhe bis Pensionierung, dann Indienreisen u. Integrales Yoga, Übersetzungen des Mystikers Sri Aurobindo
1981 Übersiedlung nach Stuttgart
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1922 (Karlsruhe) Else (Elisabeth), geb. Kern (1902–1973, gesch. 1948)
II. 1949 (Karlsruhe) Diederika, geb. Liesvold (1902–1979), Dr. phil.
Eltern: Vater: Georg (1863–1931), Pfarrer
Mutter: Marie, geb. Stoll (1866–1933).
Geschwister: 4; ein älteres u. drei jüngere Geschwister, darunter: Friedrich (1897–1965), Dr. med., Kinderarzt in Karlsruhe.
Kinder: 4, alle aus I. u. ausgewandert in die USA oder nach Großbritannien; Elisabeth (geboren 1924), Georg Ludwig (Rufname Jörg, geboren 1925), Hildegard (geboren 1926) u. Christina (Rufname Christel, geboren 1928).
GND-ID: GND/128431210

Biografie: Gerhard Schwinge (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 211-213

Kappes ist fast 95 Jahre alt geworden. Es war ein langes, unruhiges Leben, ohne Kontinuität, vom Kaiserreich bis in die Zeit der Bundesrepublik. Zu den politischen Wenden traten persönliche Brüche und Neuanfänge, erzwungene und gesuchte, wobei ihn Vorbilder und Leitfiguren prägten.
Aufgewachsen in einem theologisch konservativen und deutschnationalen Pfarrhaus, studierte Kappes nach dem Abitur in Wertheim ab 1911 in Tübingen und Berlin evangelische Theologie und Arabisch, weil er zu diesem Zeitpunkt plante, in die Nahostmission zu gehen. Von Anfang an bis 1932 war er Mitglied der christlichen Studentenverbindung Wingolf. Als der I. Weltkrieg ausbrach, meldete sich Kappes als Freiwilliger, stieg zum Leutnant mit verschiedenen Auszeichnungen auf, erlitt jedoch 1916 eine schwere, lange nachwirkende Kopfverletzung und wurde aufgrund der Erlebnisse in der äußerst verlustreichen Schlacht an der Somme zum Pazifisten und Antimilitaristen. Das Ende des Krieges und der Monarchie ließen ihn zum Demokraten und Sozialisten werden.
Nach dem I. und II. Examen 1919/20 und dem Lehrvikariat ließ sich Kappes als Vikar an der Lutherkirche im Proletarierviertel der Mannheimer Neckarstadt einsetzen, wo der Arbeiterpfarrer Dr. Ernst Lehmann (1861–1948) sein Vikarsvater und der liberal-soziale Friedrich Naumann (1860–1919) sein Vorbild war. Von 1922 bis 1933 konnte Kappes dann seine hier gewonnenen Vorstellungen als Jugend- und Sozialpfarrer – er war kein Gemeindepfarrer – besonders in der südöstlichen Karlsruher Altstadt, dem „Dörfle“, in die Tat umsetzen. In Erinnerung an diese Arbeit Kappes’ verleiht der Rotary Club Karlsruhe-Fächerstadt seit 1999 jährlich einen „Heinz- Kappes-Preis“ an Jugendliche für besonderes soziales Engagement. Dabei setzte sich Kappes bewusst ab von der bürgerlich-pietistischen Vereinsarbeit der Inneren Mission. Dagegen hielt er als Fürsorgepfarrer in diesen Jahren jeweils am 1. Mai und am 2. Advent, dem internationalen Friedenssonntag, politische Gottesdienste, welche von Tausenden besucht wurden. Einerseits Praktiker der Seelsorge an seinen Gemeindegliedern jeden Alters, versuchte Kappes seine Anliegen ebenso in verschiedenen Organisationen zu verwirklichen: Er wurde Mitglied des Volkskirchenbunds evangelischer Sozialisten, ab 1926 „Bund der Religiösen Sozialisten“, außerdem war er aktiver Mitarbeiter in der christlichen Studentenbewegung und im „Bund dt. Jugendvereine“ und gründete und leitete die Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde. Mittel zum Zweck war 1924 für ihn auch sein Eintritt in die SPD, für die er in Karlsruhe zum Stadtverordneten und Stadtrat gewählt wurde und als überregionaler Parteiredner gefragt war. In Adolf Hitler und den Nationalsozialisten hatte Kappes bereits 1923 visionär die apokalyptische Bedrohung der Zukunft gesehen. So war es nicht verwunderlich, dass er seit 1931 als Widerständler und Sozialdemokrat Ziel persönlicher Angriffe wurde. Ebenso und mehr noch erging es zu gleicher Zeit seinem Altersgenossen, dem linken Mannheimer Pfarrer Erwin Eckert (1893–1972), für den Kappes zwar in Dienststrafverfahren solidarisch eintrat, dessen extremen politischen Weg in die KPD und nach dessen unehrenhafter Dienstentlassung zum Kirchenaustritt er jedoch nicht mitging. Doch auch Kappes bekam die Feindschaft der bereits von Deutschnationalen und „Deutschen Christen“ beherrschten badischen Kirchenleitung zu spüren. 1933 folgten in kurzen Abständen der erzwungene Austritt aus der SPD, die Strafversetzung in eine kleine Landgemeinde, eine vorübergehende Verhaftung, Amtsenthebung und Berufsverbot und schließlich Kappes’ gerichtliche Ausweisung aus Baden als „marxistischer Agitator“. Kappes ging nach Palästina, zunächst als Reisender, sehr bald aber dank der Hilfe englischer und amerikanischer Quäker zusammen mit seiner Familie als Emigrant. Vorübergehend arbeitete er als Deutschlehrer, dann, wieder mit Unterstützung der Quäker, als Angestellter der British Food Control und in der Versöhnungsarbeit zwischen Juden und Palästinensern, versehen mit einem Mandatspass. In diesen Jahren lernte Kappes auch seine spätere zweite Frau kennen, eine Holländerin, welche bereits mit der Mystik verschiedenster Art und der Philosophie des Inders Sri Aurobindo (1872–1950) vertraut war. So ergab sich für Kappes eine Horizontausweitung „weit über das Christentum hinaus“, mit anderen eigenen Worten „eine kirchen- und religionsüberschreitende Erfahrung des kosmischen Christus“ (www.heinzkappes. de: Heinz Kappes, Die heilenden Kräfte des Glaubens, 1982, S. 8).
1948 kehrte Kappes nach Deutschland zurück, erwarb 1949, da 1944 vom NS-Staat ausgebürgert, wieder die deutsche Staatsbürgerschaft und heiratete erneut. Die badische Landeskirche stellte ihn wieder ein, beschäftigte ihn drei Jahre als Religionslehrer an Karlsruher Gymnasien und übertrug ihm 1952 wiederum ein Sozialpfarramt, die Leitung des Evangelischen Gemeindedienstes in Karlsruhe. Dazu kam eine diakoniepraktische Lehrtätigkeit in der Karlsruher Volkshochschule und im Diakoniewissenschaftlichen Institut in Heidelberg.
Zugleich ist ein weiterer Neuansatz in Kappes’ Leben feststellbar: Der Bad Boller Prediger und Sozialpolitiker Christoph Friedrich Blumhardt (1842–1919) wurde seine Leitfigur; Kappes bezeichnete sich jetzt als „Blumhardtianer“, schätzte besonders dessen Predigten über das auf Erden zu verwirklichende Reich Gottes und rezitierte sie öffentlich.
Auf einer USA-Reise lernte er die Arbeit der Anonymen Alkoholiker und der „Emotions Anonymous“ kennen und führte sie in Deutschland ein, ein Engagement, das bis zu seinem Lebensende anhielt. Er wurde auch Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Mit der Pensionierung 1959 begann ein letzter, immerhin fast 30 Jahre dauernder Lebensabschnitt. Noch im selben und im Folgejahr lebte Kappes etwa 18 Monate lang in Indien im von Sri Aurobindo gegründeten Ashram und vertiefte sich in dessen Lehren und Texte eines integralen Yoga, mit dessen Hilfe Aurobindo die Philosophie ins praktische Leben umsetzen wollte. Nach Blumhardt wurde nun Aurobindo für den Rest von Kappes’ Leben die Leitfigur. Kappes selbst entwickelte sich zum Mystiker, der die Schriften Aurobindos in Deutschland veröffentlichte. Seit 1972 erschienen fünf, viele hundert Seiten umfassende Bände, durchweg Übersetzungen aus dem Englischen. Nach dem Tod seiner zweiten Frau übersiedelte Kappes 1981 nach Stuttgart und verbrachte die letzten sieben Lebensjahre in der Obhut einer Verehrerin. Nach wie vor und bis zum Schluss blieb er aber für viele seelenkranke Menschen Gesprächspartner und Helfer; nannte sich selbst ironisch „Seelenheilpraktiker“.
1988 mündete sein Lebensweg von der idealistischen Unruhe der jungen Jahre in abgeklärte Weisheit des Alters, von äußerer Aktion in Innerlichkeit, von Radikalität in Gelassenheit. Ein Leben der Solidarität mit den „Mühseligen und Beladenen“, den Verfolgten und Seelisch-Kranken neigte sich dem Ende zu. Es war ein Leben, das ein anti-institutionelles, also kirchenfernes Christentum genauso einschloss wie ein Zurückstellen familiärer Bindungen. Doch in Kappes’ Selbstbekenntnissen findet sich auch das „Zeugnis seines unerschütterlichen Glaubens und der inneren Gewissheit: Ich bin immer gut geführt worden.“ (www.heinz-kappes.de: Interview mit M. Balzer am 17.2.1988)
Quellen: (Auswahl) LKAK PA 6223–6225, Personalakte, Sammlung Kappes, Nachlass, verzeichnet, 27 Fasz. v.a. zu Heinz Kappes als religiösem Sozialisten u. zum Religiösen Sozialismus in Baden; PrivatA Friedrich-Martin Balzer/Marburg, weitere Teile des Nachlasses von Kappes; StadtA Karlsruhe 1/POA 2/889, Personalakte des Stadtrats Kappes; Die Ev. Landeskirche in Baden im Dritten Reich. Quellen zu ihrer Geschichte, Bd. I u. II, hgg. von H. Rückleben u. H. Erbacher, 1991–1992, Bd. IV u. VI, hgg. von G. Schwinge, 2003, 2005, 418f.: Biogramm u. Gesamtregister zu Heinz Kappes.
Werke: Beiträge in: Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes/Der Religiöse Sozialist 1925–1932 u. in anderen Organen u. Sammelbänden, 20 Beiträge abgedruckt bei Balzer/Wendelborn 1994 (u.a.: Der theol. Kampf d. rel. Sozialisten gegen das nationalsozialist. Christentum, 1931). – Interviews; seit 1964 autorisierte Übersetzungen von Werken Sri Aurobindos aus dem Englischen, 5 umfangr. Bände; Heinz-Kappes-Freundeskreis Stuttgart, Die Zwölf Schritte – ein universales Genesungsprogramm. Gedanken eines erfahrenen Heilpraktikers, 1994; Unser Programm ist ein Instrument zum Siegen! Gesammelte Reden für Emotions Anonymus u. Anonyme Alkoholiker, 1976–1986, 1995.
Nachweis: Bildnachweise: 1933: Personalakte u. in allen Veröffentlichungen zur Person (vgl. Quellen u. Literatur); 1985 u. 1988 in: Balzer/ Wendelborn u. bei www.heinz-kappes.de.

Literatur: (Auswahl) F.-M. Balzer, Das Problem d. Assoziation nichtproletarischer, demokratischer Kräfte an die Arbeiterbewegung. Das Beispiel von Heinz Kappes, in: Internationale Dialog-Zs. 7, 1974, 170-181; Heinz Kappes, in: Biograph. Handb. d. deutschspr. Emigration nach 1933, Bd. I, 1980, 347f.; M. Jakobs, Religiöser Sozialismus u. Mystik. Ein Blumhardtianer berichtet …, Interview mit Heinz Kappes, in: Hoffnung d. Kirche u. Erneuerung d. Welt, hgg. von A. Schindler u.a., Pietismus u. Neuzeit, Bd. 11, 1985, 318-344; F.-M. Balzer, Miszellen zur Geschichte des dt. Protestantismus: „gegen den Strom“, 1990, 113-130; F.-M. Balzer/G. Wendelborn, „Wir sind keine stummen Hunde“. Heinz Kappes (1893–1988), Christ u. Sozialist in d. Weimarer Republik, 1994, 254 S. mit 20 Originaltexten von Heinz Kappes 1925–1938 u. Abb.; G. Wendelborn, Biographie Heinz Kappes, 36-151 (mit Bildnachweis.); M. Koch, Heinz Kappes (1893–1988), Christ u. Sozialdemokrat in d. Weimarer Republik, in: Protestantismus u. Politik. Zum polit. Handeln ev. Männer u. Frauen für Baden zwischen 1819 u. 1933, hgg. von d. Bad. Landesbibliothek Karlsruhe, Konzeption u. Redaktion G. Schwinge, 1996, 272-286 (mit Quellen, Literatur u. Bildnachweis); Th. K. Kuhn, Art. Heinz Kappes, in: Biograph.-Bibliograph. Kirchenlexikon XVI, 1999, 833; M. Koch, „Wer über das Jetzt in die Zukunft schaut, … d. sieht mit Angst die drohende Katastrophe“. Heinz Kappes (1893–1988) – Pfarrer, Sozialdemokrat u. NS-Gegner, in: Dem Ideal d. Freiheit dienen – ihrer Vorkämpfer gedenken, 2003, 107-114; ders., Heinz Kappes – Pfarrer, Sozialdemokrat u. NS-Gegner, in: Bad. Theologen im Widerstand (1933–1945), hgg. von R.-U. Kunze, Forschungsstelle Widerstand am Institut für Geschichte in Karlsruhe, 2004, 63-82; R. Löffler, Exil ohne Patronage: d. religiöse Sozialist Heinz Kappes in Jerusalem, in: Exil and Patronage. Cross-cultural negotiations beyond the Third Reich, Ed. A. Chandler, 2006, 127-150, erweitert unter dem Titel Fluchtpunkt Jerusalem. Der bad. religiöse Sozialist Heinz Kappes, in: Emigration, in: Jahrb. für bad. Kirchen- u. Religionsgeschichte 1, 2007, 55-89; M. Koch, Heinrich Martin (Heinz) Kappes (1893–1988), in: Lebensbilder aus d. ev. Kirche in Baden im 19. u. 20. Jh., Bd. II, Kirchenpolit. Richtungen, hgg. von J. Ehmann, 2010, 534-553; Led by the spirit, Homepage des Heinz-Kappes-Freundeskreises e.V. Stuttgart, www.heinz-kappes.de (umfangreichste Dokumentation, Text- u. Tondokumente v.a. d. Jahre nach 1948; Heinz Kappes, in: Wikipedia, 2012).
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