Schneider, Carl 

Geburtsdatum/-ort: 19.12.1891; Gembitz, heute: Gebice, Polen
Sterbedatum/-ort: 11.12.1946; Frankfurt am Main durch Selbstmord
Beruf/Funktion:
  • Psychiater
Kurzbiografie: 1912 Beginn des Medizinstudiums in Würzburg, Fortsetzung in Leipzig
1914–1918 Kriegseinsatz als Feldunterarzt, später als Feldhilfsarzt, bis 1916 in einem Feldlazarett, von Dez. 1916 bis 1917 in Galizien, danach bis Kriegsende an d. Westfront. 1915 Verletzung bei Ypern
1919 Ärztl. Approbation u. Promotion in d. Psychiatrischen u. Nervenklinik d. Univ. Leipzig: „Ueber Zoanthropie“
1919–1922 Assistenzarzt in d. Univ.-Nervenklinik Leipzig
1922–1930 Arzt an d. Heil- u. Pflegeanstalt Arnsdorf bei Dresden; ab 1924 Regierungsmedizinalrat
1930 Mitverfasser des Begleittextes für die psychiatrische Abteilung d. Hygieneausstellung in Dresden zus. mit Paul Nitsche
1930–1933 ärztl. Leiter d. von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel/Bielefeld
1932 Mitglied d. NSDAP, Mitglied Nr. 1 112 586
1933 XI. 1 o. Professor für Psychiatrie in Heidelberg u. Direktor d. Psychiatr.-Neurolog. Klinik ohne vorausgehende Habilitation
1940 sog. „T4“-Gutachter von Meldebogen im Rahmen des NS-Krankenmordes
1943–1944 Leiter d. Forschungsabteilung an d. Psychiatr.-Neurolog. Klinik Heidelberg zur Erforschung „angeborenen“ u. „erworbenen Schwachsinns“; 21 „Forschungskinder“ wurden in d. Heil- u. Pflegeanstalt Eichberg bei Wiesbaden ermordet
1945 Schneider unter den 13 „Repräsentanten extremen Nazitums“, von denen sich d. Univ. Heidelberg trennt; Festnahme durch die Amerikaner, Internierung in Moosburg/Oberbayern
1946 Tod durch Suizid in d. Untersuchungshaftanstalt in Frankfurt am M., wo Schneider im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Friedrich Mennecke befragt wurde
1998 Errichtung eines Mahnmals vor d. Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg für die 21 ermordeten
„Forschungskinder“
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1920 Leipzig Marianne, geb. Wiesner (* 1895), Ärztin
Eltern: Vater: Paul, Pastor, später Wandermusiker
Mutter: Elisabeth, geb. Krüger
Geschwister: keine
Kinder: 6; 5 Söhne, eine Tochter
GND-ID: GND/129585386X

Biografie: Maike Rotzoll (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 350-353

Schneider wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, konnte dann aber die Fürstenschule in Grimma, Sachsens Eliteschule, besuchen und dort 1911 das Abitur ablegen. Wie viele seiner Generation wurde er als junger Arzt durch die Teilnahme am I. Weltkrieg geprägt.
Nach seiner Zeit als Assistenzarzt an der Leipziger Universitäts-Nervenklinik unter Paul Flechsig und Oswald Bumke wechselte Schneider an die sächsische Anstalt Arnsdorf, wo er Regierungsmedizinalrat wurde und bis zu seiner Ernennung zum Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung der von Bodelschwingschen Anstalten in Bethel 1930 blieb. Unterbrochen wurde diese Tätigkeit 1926 durch einen Forschungsaufenthalt an der Dt. Forschungsanstalt für Psychiatrie in München.
In den 1920er Jahren veröffentlichte Schneider eine Reihe vielbeachteter wissenschaftlicher Arbeiten, u. a. zur Psychologie der Schizophrenie. Mit Paul Nitsche, dem Leiter der sächsischen Anstalt „Sonnenstein“, zu dem er in freundschaftlicher Beziehung stand, verfasste Schneider 1930 den Begleittext für die psychiatrische Abteilung der Hygiene-Ausstellung in Dresden. Die Autoren plädierten für eine „zielbewußte und umfassende qualitative Bevölkerungspolitik“ im Sinne einer „rassenhygienischen Ausgestaltung“ des gesamten Wirtschafts- und Rechtssystems. 1932 trat Schneider in die NSDAP ein. Stand er der rassenhygienisch motivierten Sterilisierung 1931 bei der Fachkonferenz für Eugenik des „Central-Ausschusses für Innere Mission“ in Treysa noch sehr zurückhaltend gegenüber, so rechtfertigte er das im Juli 1933 verkündete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bereits „als verantwortungsvolle[n] Versuch vor Gott, eine neue Zeit mit neuen Menschen zu versehen“ und bekannte, dass eine Fülle von Bedenken, die er früher gehabt habe, durch „das neue Gesetz und die neue Zeit beseitigt“ seien. (Wandererfürsorge, S. 84)
Die „sittliche Rechtfertigung“ fand die Zwangssterilisation nach Schneider in einem neuen, an den NS-Begriff der „Volksgemeinschaft“ anküpfenden Gedanken, wonach der neue Staat nur in der „lebendig gestalteten Gesinnungsgemeinschaft der Staatsangehörigen“ lebe. Daraus folgten für Schneider auch eugenische Konsequenzen: „Denn der Kranke, der Abnorme, ist dieser lebendigen Betätigung der Gesinnungsgemeinschaft nicht fähig. Er kann daher in den Staat als Gesinnungsgemeinschaft seiner Angehörigen nicht eingegliedert werden.“ Der Staat habe unter dieser Voraussetzung „ein Recht zu fordern, dass immer nur Menschen nachwachsen, die dieser lebendigen Gemeinschaft fähig sind.“ (ebd. S. 234)
Dies alles Kranke, Minderwertige und Abnorme aussondernde „Gemeinschaftsdenken“ Schneiders wurde für seine psychiatrisch-therapeutische Praxis, besonders seine Arbeitstherapie, leitend. Dem Andersartigen blieb nach Schneiders Forderung nur die Alternative einer dem Zwange gehorchenden Anpassung an die Leistungsanforderungen und Wertbildungen der Gemeinschaft oder er fiel, wo diese ihm nicht möglich war oder nicht gewollt, der Vernichtung anheim.
Im November 1933 wurde Schneider als Nachfolger des aus politischen Gründen aus dem Amt gejagten Karl Wilmanns auf den Heidelberger Lehrstuhl berufen. Dabei war, soweit nachvollziehbar, die Berufung nicht aus rein parteitaktischen Gründen erfolgt, sondern entsprach durchaus der wissenschaftlichen Qualifikation Schneiders. Er war zwar nicht habilitiert, jedoch wissenschaftlich besonders auf dem Gebiet der Schizophrenieforschung ausgewiesen.
In der Umgestaltung der Klinik im Sinne der „neuen Zeit“ setzte Schneider drei deutlich sichtbare Schwerpunkte: Er realisierte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ konsequent und verwahrte sich sogar, wie einem Briefwechsel mit Ernst Rüdin zu entnehmen ist, gegen eine Unterlassung der Zwangssterilisation in Fällen, in denen an der Diagnose einer Schizophrenie Zweifel bestanden. Ganz im Sinne der vorherrschenden psychiatrischen Erbforschung führte Schneider mit Unterstützung der „Notgemeinschaft der Dt. Wissenschaft“ erbbiologische Feldforschungen in kleinen Odenwaldgemeinden durch.
Sein Hauptanliegen jedoch war die arbeitstherapeutische Umgestaltung der Klinik. In den Kellerräumen entstanden Buchbinder-, Schuhmacher- und Schreinerwerkstätten. Mit der Arbeitstherapie verfolgte er nicht nur ökonomische Ziele oder wollte ausschließlich der Herstellung eines geordneten Klinikalltags im Sinne der Disziplinierung dienen; er begriff sie zuerst als eine biologische Heilweise, die in die seelischen, körperlichen und physiologischen Regulationsabläufe des Kranken eingreift, um eine „biologisch“-therapeutische Wirkung hervorzurufen. Die Kranken, auch im akutesten Stadium, sollten gleichsam aus ihren krankhaften Erlebnisformen herausgerissen, in die „psychologische Zange“ genommen und in das ordnende Milieu der Arbeit hineingedrängt werden. Hinter diesem therapeutischen und rehabilitativen Anspruch stand der Zwang zur Anpassung an ein Gemeinschaftsleben, das Schneider wesentlich durch Arbeit und produktive Leistung bestimmt sah.
Was aber geschah mit den Kranken, die sich im Sinne der von Schneider durchgeführten Therapien – ab 1939 kam die Insulinschock- und später die Elektroschocktherapie hinzu – als unheilbar erwiesen? Sie wurden nach einer Beobachtungszeit in die Heil- und Pflegeanstalten verlegt, insbesondere Wiesloch und Klingenmünster, und einem potenziell tödlichen Schicksal überlassen.
Schneider war frühzeitig an der Planung und Durchführung der ersten Massenvernichtungsaktion an Anstaltspatienten beteiligt, möglicherweise über seine Verbindungen zu Paul Nitsche, dem späteren medizinischen Leiter der zentralen, mit der „Euthanasie“ und der Planung des Anstaltswesens beauftragten Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Als Gutachter von Meldebögen hat er mit über das Schicksal zehntausender Menschen entschieden, ohne sie je gesehen oder untersucht zu haben. Auch war er an den Beratungen über ein „Euthanasiegesetz“ beteiligt, das den „Gnadentod“ im Anschluss an die von 1939 bis 1941 durchgeführten Massentötungen in den Vergasungsanstalten auf eine gesetzliche Grundlage mit Einzelfallprüfung stellen sollte. Vor allem aber war Schneider einer der Protagonisten der Forderung nach durchgreifenden „Reformen“: des Anstaltswesens, der psychiatrischen Therapien, der Ausbildung und der psychiatrischen Wissenschaft. Sein Ansatz war von dem Grundgedanken geprägt, dass für die heilbaren Kranken alles getan werden solle, um sie wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, während die unheilbaren und nicht reintegrierbaren Kranken nach Ausbeutung ihrer Arbeitskraft der „Euthanasie“ anheimfallen sollten.
So heißt es entlarvend stringent in einer von Schneider mitverfassten Denkschrift aus dem Jahr 1943: „ […] die Maßnahmen der Euthanasie werden umso mehr allgemeines Verständnis und Billigung finden, als sichergestellt und bekannt wird, dass in jedem Fall bei psychischen Erkrankungen alle Möglichkeiten erschöpft werden, um die Kranken zu heilen oder doch so weit zu bessern, dass sie, sei es in ihren Berufen, sei es in einer anderen Form volkswirtschaftlich wertvoller Betätigung zugeführt werden.“ (Heidelberger Dokumente 126, 420–426)
Zudem plante Schneider in Zusammenarbeit mit der „Euthanasiezentrale“ ein großangelegtes Forschungsvorhaben, für das er über einen längeren Zeitraum 15 Mio. RM veranschlagte. Realisiert wurde ein Projekt, das sich mit der Differenzierung von erblichen und exogenen, durch äußere Einwirkung verursachten, Schwachsinnsformen befasste.
An die 21 im Rahmen dieses Forschungsprojektes getöteten Kinder erinnert heute ein Mahnmal. Sie wurden in den Jahren 1942 bis 1944 in der Heidelberger Klinik einem umfangreichen Untersuchungsprogramm unterworfen und später auf Veranlassung von Schneider und seines Mitarbeiters Julius Deussen in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg ermordet, um anschließend ihre Gehirne in Heidelberg untersuchen zu können.
Hintergrund von Schneiders psychiatrischem Eifer und wissenschaftlichem Impetus mitten im II. Weltkrieg war seine Auffassung von der Psychiatrie als Grundlagenwissenschaft für Gesunderhaltung und geistige Stärkung des deutschen Volkes, die endlich eingreifen solle in den „Gang der Ideengeschichte“ der Menschheit: „denn so wie einst die Astronomie durch Kopernikus, so wird einmal die Psychiatrie durch einen ihrer Forscher bannen den durch religiöse Vorstellungen und Dogmen noch immer geschützten Aberglauben vom Wesen der Seele und wird damit den Weg frei machen zu einem […]reicheren Leben unseres Volkes nach seinen eigenen Kräften und Gaben.“ (Heidelberger Dokumente 127, 585–591)
Quellen: UA Heidelberg PA 1161, Rep. 27, Quästur, Nr. 1201; Historisches A. d. Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Verwaltungsakten V, 2; BA Berlin Mikrofilm Nr. 41149/41151, „Heidelberger Dokumente“ (d. s. von den Amerikanern beschlagnahmte Handakten Paul Nitsches, Originale in den National Archives Washington T 1021 Roll 10–12 File 707).
Werke: Auswahl: Über Zoanthropie, Diss. med. Leipzig 1919, 1920; Psychologie u. Psychiatrie, in: Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten 78, 1926, 522–571; Die Psychologie d. Schizophrenen u. ihre Bedeutung für die Klinik d. Schizophrenie, 1930; (mit P. Nitsche) Einführung in die Abteilung seelische Hygiene d. internationalen Hygieneausstellung Dresden 1930, 1930; Die Auswirkungen d. bevölkerungspolit. u. Erbbiolog. Maßnahmen auf die Wandererfürsorge, in: Der Wanderer 50, 1933, 233–240; Behandlung u. Verhütung d. Geisteskrankheiten, Monographien aus dem Gesamtgebiete d. Neurologie u. Psychiatrie 67, 1939; Entartete Kunst u. Irrenkunst, in: Archiv für Psychiatrie 110, 1940, 135–164; Die schizophrenen Symptomverbände, Monographien aus dem Gesamtgebiete d. Neurologie u. Psychiatrie 71, 1942.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg, Bildersammlung.

Literatur: A. W. Bauer, Die Univ. Heidelberg u. ihre Medizin. Fakultät von 1933–1945: Umbrüche u. Kontinuitäten, in: 1999. Zs. für Sozialgeschichte des 20. u. 21. Jh.s 11, 1996, 46–72; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933–1986, 2009, 557 f.; E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor u. nach 1945, 2003, 531 f.; P. Becker- von Rose, Carl Schneider – wissenschaftlicher Schrittmacher d. Euthanasieaktion u. Universitätspsychiater in Heidelberg 1933–1945, in: G. Hohendorf u. A. Magull-Seltenreich, Von d. Heilkunde zur Massentötung. Medizin im Nationalsozialismus, 1990, 91–112; G. Hohendorf, V. Roelcke u. M. Rotzoll, Innovation u. Vernichtung. Psychiatrische Forschung u. „Euthanasie“ an d. Heidelberger psychiatrischen Klinik 1939–1945, in: Der Nervenarzt 67, 1996, 935–946; B. Laufs, Die Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel d. Heidelberger Universitätsklinik, Diss. Med. Homburg 1989; V. Roelcke, G. Hohendorf, M. Rotzoll, Die Forschungsabteilung d. psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg 1943–1945 u. ihre Verwicklung in die nationalsozialistische „Euthanasie“, in: Ch. Mundt et al. (Hgg.), Psychiatrische Forschung u. NS-„Euthanasie“, 2001, 41–62; M. Rotzoll, B. Brand-Claussen, G. Hohendorf, Carl Schneider, die Bildersammlung, die Künstler u. d. Mord, in: T. Fuchs et al. (Hgg.), WahnWeltBild, Heidelberger Jahrb. Bd. XLVI, 2002, 41–64; Ch. Teller, Carl Schneider. Zur Biographie eines dt. Wissenschaftlers, in: Geschichte u. Gesellschaft 16, 1990, 464–478; M. Rotzoll u. G. Hohendorf, Die Psychiatrisch-neurologische Klinik, in: W. U. Eckart u. a. (Hgg.), Die Univ. Heidelberg im Nationalsozialismus, 2006, 909–939.
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