Richter, Gregor Vinzenz 

Geburtsdatum/-ort: 22.01.1927; Klein-Röhrsdorf, Lkr. Löwenberg, Schlesien
Sterbedatum/-ort: 19.10.2002;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Historiker und Archivar
Kurzbiografie: 1933–1944 Volksschule in Klein-Röhrsdorf bis 1941, dann prakt. Ausbildung im elterlichen landwirtschaftl. Betrieb in Löwenberg u. Besuch d. Landwirtschaftsschulen in Löwenberg u. Laubau
1944 VI. Reichsarbeitsdienst, ab Sept. Kriegsmarine, Mai 1945 bis Okt. 1948 französ. Kriegsgefangenschaft
1949 X.–1951 VII. Arbeiter- u. Bauernfakultät d. Univ. Jena bis Abitur (mit Auszeichnung)
1951 X.–1955 VII. Studium d. Geschichte u. Germanistik an d. Univ. Jena
1955 XI.1–1957 XII.14 Vorbereitungsdienst als Diplom-Archivanwärter (Referendar) am Thüring. LHA Weimar u. Institut für Archivwissenschaft Potsdam bis Staatsprüfung für den wiss. Archivdienst
1956 VI. Promotion zum Dr. phil. bei Friedrich Schneider: „Die ernestinischen Landesordnungen u. ihre Vorläufer von 1446 u. 1482“
1958 I.–1960 VII. Referent am Thüring. LHA Weimar
1960 VII.22 Flucht nach Westberlin
1960 X.1 Anstellung beim HStA Stuttgart als wiss. Hilfskraft, Staatsarchivrat, 8. Mai 1962, Beamter auf Lebenszeit, 7. Juli 1965, Oberstaatsarchivrat, 1. Apr. 1966, Leiter d. Abteilung Militärarchiv
1969–2002 Ordentl. Mitglied d. Kommission für geschichtl. Landeskunde in Baden-Württemberg, ab 1977 Vorstandsmitglied; Vorsitzender d. Fachgruppe 1 „Archivare an staatlichen Archiven“ im Verband dt. Archivarinnen u. Archivare
1970–1973 Lehrauftrag an d. PH Schwäbisch Gmünd
1973 VIII. Versetzung an das StA Sigmaringen, ab 1. Febr. 1974 Staatsarchivdirektor u. Leiter dieses Archivs
1977–1981 Vorsitzender des Hohenzollerischen Geschichtsvereins, 1998 Ehrenmitglied
1979 XII.1 Leiter d. Abt. 1 (Personal, Haushalt, Organisation) d. Landesarchivdirektion Baden-Württemberg u. Stellvertreter des Präsidenten, Ltd. Staatsarchivdirektor
1985 I.1–1992 I.31 Präsident d. Landesarchivdirektion Baden-Württemberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Auszeichnungen: Ehrungen: Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens d. Bundesrepublik Deutschland (1988); Professor des Landes Baden-Württemberg (1991)
Verheiratet: 1952 Marianne, geb. Prenzel, Lehrerin (1925–2007)
Eltern: Vater: Johann, Landwirt
Mutter: Maria, geb. Dittrich
Geschwister: 5
Kinder: 3;
Thomas (geboren 1953),
Barbara (geboren 1958),
Bernhard (geboren 1962)
GND-ID: GND/129732893

Biografie: Nicole Bickhoff (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 312-315

Zu anderen Zeiten wäre Richter vermutlich Landwirt geworden. Sein Lebensweg begann auf dem elterlichen Bauernhof im schlesischen 500-Seelen-Ort Klein-Röhrsdorf, wo er als jüngster von fünf Geschwistern aufwuchs. Nach der Volksschule absolvierte er zunächst eine landwirtschaftliche Ausbildung auf dem väterlichen Hof, bevor die Kriegsereignisse seinen weiteren Lebensweg bestimmten. Nach Kriegsdienst und französischer Gefangenschaft, aus der er erst im Oktober 1948 entlassen wurde, ging er nach Thüringen, wohin seine Eltern bei Kriegsende geflüchtet waren und wo er selber für mehr als ein Jahrzehnt eine Bleibe finden sollte. Da sein ursprüngliches Berufsziel nicht mehr zu verwirklichen war, ergriff er die Chance, in Jena das Abitur zu machen und anschließend zu studieren. Im Wintersemester 1951 nahm er das Studium der Geschichte und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena auf, das er im Juli 1955 mit der Universitätsprüfung abschloss. Durch seine Lehrer, Friedrich Schneider, der als Landeshistoriker aus dem Archivdienst kam und von 1920 bis 1947 Archivar und Leiter des StA Greiz war, sowie Willy Flach, damals Direktor des Thüringischen LHA Weimar, der auch Richters Dissertation anregte, konnte Richter bereits während seiner Studienzeit Einblicke in das Archivwesen gewinnen, die für seinen weiteren Berufsweg entscheidend wurden.
Nach der Ausbildung für den wissenschaftlichen Archivdienst am LHA Weimar und dem Institut für Archivwissenschaft in Potsdam nahm Richter seine Arbeit am LHA in Weimar auf, wo er zunächst vor allem mit der Bestandsbildung und der Erschließung von neueren Akten der Landesverwaltung nach 1945 beschäftigt war. Außerdem wurde er in seinem letzten Jahr in Weimar mit der Erschließung des Nachlasses der Großherzogin Maria Pawlowna betraut; auf diese Erfahrungen griff er später in mehreren Veröffentlichungen zurück.
Die ersten beruflichen Jahre Richters wurden bald von der politischen Entwicklung überschattet. Ende der 1950er-Jahre verschärfte sich der politische Druck auch auf das Archivwesen. Insbesondere die im Februar 1960 in Sellin auf Rügen veranstaltete Tagung der wissenschaftlichen Archivare, welche als Ergebnis die Wesenzüge des künftigen sozialistischen Archivwesens in der DDR festlegte und das Bekenntnis der Archivare zum Marxismus-Leninismus einforderte, machte deutlich, dass der Nischencharakter der Archive nicht länger existierte. Für Richter und seine Frau, beide praktizierende Katholiken, ergab sich daraus die existentielle Frage des Bleibens oder Gehens. Am 22. Juli 1960 wurden die Fluchtpläne umgesetzt. Über Westberlin gelangte die junge Familie in das Notaufnahmelager Gießen, wo sie bereits einen Monat später die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt in Westdeutschland erhielt. Über die Zwischenstation Rastatt kam die Familie nach Stuttgart.
Erste Versuche Richters, in der baden-württembergischen oder niedersächsischen Archivverwaltung oder beim Bundesarchiv unterzukommen, verliefen zunächst wegen fehlender Stellen negativ. Durch glückliche Umstände ergab sich für ihn dann aber im Oktober 1960 die Möglichkeit, als Angestellter beim HStA Stuttgart tätig zu werden, um die Staatsleistungen an die Kirchen in Baden und Württemberg historisch zu untersuchen. Immer wieder griff Richter später auf die damaligen Quellenstudien zurück, um in Vorträgen und Veröffentlichungen das Thema Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert darzustellen.
Max Miller setzte sich für die Übernahme Richters in den höheren Archivdienst ein. Nachdem die Potsdamer Ausbildung als dem zweiten Staatsexamen gleichwertig anerkannt wurde, konnte Richter im Mai 1962 Archivrat werden. Als Referent im HStA Stuttgart betreute Richter nacheinander die Bestände im Militärarchiv und das Lagerbuchselekt, war für Benutzerberatung, Ausstellungs- und Öffentlichkeitsarbeit und dann nichtstaatliche Archivpflege in den Kommunalarchiven Nordwürttembergs zuständig. Beim Neubau des HStA war er Baureferent. Schließlich übernahm er die Leitung der Abt. Militärarchiv. Im August 1973 wurde Richter dann an das StA Sigmaringen versetzt, wo er am 1. Februar 1974 die Nachfolge von Dr. Eugen Stemmler als Staatsarchivdirektor antrat. Richter hatte die Reorganisation und die Unterbringung des Archivs, dessen Archivalien bisher auf mehrere Standorte verteilt waren, zu lösen. Statt eines Neubaus setzte er sich für den Kauf des angemieteten Prinzenbaus und dessen Umbau für archivische Zwecke ein. Einen besonderen Schwerpunkt legte er auf die Pflege der Außenkontakte. So knüpfte er Verbindungen zu den Leitern der ablieferungspflichtigen Behörden und intensivierte die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch der Adelsarchivpflege maß er hohen Stellenwert zu. Enge Beziehungen pflegte er zum Hohenzollerischen Geschichtsverein, dessen Vorsitzender er 1977 wurde. 1979 wurde Richter Leiter der Abteilung 1 in der Landesarchivdirektion und gleichzeitig ständiger Stellvertreter des Präsidenten, dessen Nachfolge er 1985 antrat. Ein besonderes Anliegen in dieser seiner Amtszeit wurden die großen Baumaßnahmen in Ludwigsburg und Sigmaringen zur Unterbringung der Staatsarchive in denkmalgeschützten Gebäuden begonnen. Der Archivverbund Main-Tauber nahm 1992 seine Arbeit im Kloster Bronnbach auf. Ein Landesrestaurierungsprogramm wurde 1986 durch Kabinettsbeschluss begründet. Die elektronische Datenverarbeitung zur Unterstützung archivischer Arbeiten fand ihren Einzug in allen Staatsarchiven, und beim HStA Stuttgart wurde ein audiovisuelles Archiv eingerichtet. Der wichtigste Arbeitsbereich aber war die gesetzliche Verankerung der archivischen Arbeit, die mit der Verabschiedung des Landesarchivgesetzes am 27. Juli 1987, dem ersten Archivgesetz in Deutschland, gelang. Ende Januar 1992 wurde Richter mit einem Symposion verabschiedet, das „Die Arbeit der Archive im Spannungsfeld von Persönlichkeitsschutz, Freiheit der Wissenschaft und Selbstbindung der Forschung“ thematisierte.
Richter war in zahlreichen Vereinen und Gesellschaften engagiert und zeitweilig Vorstandsmitglied geschichtlicher und archivarischer Vereinigungen. Sein historisches und archivfachliches Interesse spiegelt seine Publikationsliste wider, die Beiträge zu archivfachlichen Gegenständen, vor allem zur Zusammenarbeit von Schule und Archiv, quellenkundliche Arbeiten und Aufsätze zur baden-württembergischen wie zur thüringischen Landesgeschichte umfasst. Von den historiografischen Arbeiten sind besonders seine Forschungen zu den Lagerbüchern hervorzuheben; weite Beachtung fand seine 1979 erschienene Monographie zur Lagerbücher- und Urbarlehre.
Wer Richter persönlich kannte, dem bleibt vor allem das temperamentvolle, lebhafte Naturell des kleinen, agilen Mannes in Erinnerung. Besonders zeichneten ihn seine Kontaktfreudigkeit und eine unkomplizierte, offene Art aus, was aber nicht bedeutet, dass er immer ein bequemer Gesprächspartner war; er wusste durchaus seine Interessen und die der Archive durchzusetzen. Sein beruflicher Erfolg erfüllte ihn mit Selbstbewusstsein; gern und engagiert nahm er öffentliche Auftritte wahr und beteiligte sich am fachlichen Diskurs. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst war er noch häufig Gast bei archivischen Veranstaltungen. Der Tod ereilte Richter völlig unerwartet. Auf einer Veranstaltung des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins im HStA Stuttgart brach er plötzlich zusammen und verstarb noch in dem Gebäude, in dem er viele Jahre gewirkt hatte.
Quellen: HStA Stuttgart J 40/14, Nachlass Gregor Richter; Ministerium für Wissenschaft, Forschung u. Kunst B-W, Personalakte.
Werke: (Auszug) Die ernestinischen Landesordnungen u. ihre Vorläufer von 1446 u. 1482, Diss. phil. Jena 1956, 1964; Kompetenzstreitigkeiten württ. Behörden u. Lagerbuchfälschungen im 18. Jh., in: ZWLG 27, 1968, 339-356; Der Neubau d. HStA Stuttgart, in: Archivalische ZS 66, 1970, 116-130; Bedeutung u. Publikationsmöglichkeiten von Urbaren des 16.–18. Jh.s, in: ZWLG 31, 1973, 232-248; Zur Verwendung von archivarischen Quellen im Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht, 1973, 659-668; Verfassungsnormen in Stadt u. Herrschaft Haigerloch 1410–1724, in: Zs. für Hohenzollerische Geschichte 14, 1977, 129-140; Die Errichtung u. Ausstattung d. Erzdiözese Freiburg u. d. Diözese Rottenburg zu Beginn des 19. Jh.s, in: FDA 98, 1978, 509-539; Mittelalterliche u. neuzeitl. Urbare als rechtsverbindl. Dokumente nach ordnungsgemäßer Renovation u. Publikation, in: Archiv für Diplomatik 24, 1978, 427-442; Urfehden als rechts-, orts- u. landesgeschichtl. Quellen, in: Zs. für Hohenzollerische Geschichte 15, 1978, 63-76; Lagerbücher- oder Urbarlehre, 1979; (Hg. mit M. Gögler), Das Land Württ.-Hohenzollern 1945–1952. Darstellung u. Erinnerungen, 1982; (Hg.), Öffentlichkeitsarbeit, Bildungsaufgaben u. Unterrichtsdienste d. Archive, in: Aus d. Arbeit des Archivars, FS für E. Gönner, 1986; Staatsleistungen an d. Kirchen: Herkommen u. Entwicklung nach 1945, in: Rottenburger Jb. für Kirchengeschichte 7, 1988, 33-50; Die parlamentarische Behandlung d. b-w. Landesarchivgesetzes vom 27. Juli 1987, in: Aus d. Arbeit d. Archive, FS für H. Booms, 1989, 113-129; Die Landesarchivgesetzgebung in B-W, in: Archivrecht in B-W, 1990, 229-263; Heirat u. Scheidung d. Prinzessin Albertine Wilhelmine Amalie von Schwarzburg-Sonderhausen u. des württ. Prinzen Ferdinand (1795–1801), in: Thüring. Forschungen, FS für H. Eberhardt, 1993, 333-354; Schulaufsicht u. Lehrerfortbildung in Schlesien am Ende des 19. Jh.s: Streiflichter nach d. Orts- u. Schulchronik von Klein-Röhrsdorf, in: Schlesien, Kunst, Wissenschaft, Volkskunde, 4/1993, 232-241; Regionale u. überregionale „Zusammenarbeit zwischen den Archiven“: 45 Jahre südwestdt. Archivtag, in: Beständebildung, Beständebegrenzung, Beständebereinigung, hgg. von H. Bannasch, 1993, 85-96; Wie im württ. Allgäu 1938 nach dessen Vertreibung „weitaus d. überragende Teil d. kath. Bevölkerung auf Seiten von Bischof Sproll“ stand, in: Rottenburger Jb. für Kirchengeschichte 13, 1994, 199-211; Die Abschaffung d. Abzugsfreiheit in d. Herrschaft Hohenberg im 16. Jh., in: Aus südwestdt. Geschichte, 1994, 383-391; Kleinröhrsdorf, Kreis Löwenberg: Chronik eines schlesischen Dorfes, 1997; Stuttgarter Quellen zu kurpfälz.-württ. Titularstreitigkeiten 1583-1618, in: ZGO 147, 1999, 47–63; Der braunschweigische Herrschaftskonflikt u. die Ev. Union im Spiegel württ. Quellen aus den Jahren 1611–1616, in: Stadt u. Überlieferung, 1999, 47-63; Staatsleistungen an die kath. Kirche in Württ., in: Zwischen „Staatsanstalt“ u. Selbstbestimmung, 2000, 255-268; Schicksalhafte Konstellationen u. laufbahnrechtl. Hürden beim berufl. Neubeginn nach d. Flucht aus d. DDR, in: Archiv u. Geschichte, FS für F. Kahlenberg, 2000, 142-156.
Nachweis: Bildnachweise: HStAS, Altregistratur (vgl. Quellen).

Literatur: V. Wahl, Zum Tod des „Thüringer Archivars“ Gregor Richter (1927–2002) – Worte d. Erinnerung, in: Archive in Thüringen, Mitteilungsblatt 1/2003, 18-21; W. Schöntag, Nachruf Gregor Vinzenz Richter, in: Der Archivar 56, 2003, 177-188; ders, Gregor Vinzenz Richter 1927–2002: Nachruf, in: ZWLG 62, 2002, 439-442.
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