Dürr, Karl Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 31.01.1892;  Pforzheim
Sterbedatum/-ort: 29.09.1976;  Pforzheim
Beruf/Funktion:
  • Oberkirchenrat, Gegner des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1910 Reifeprüfung an Oberrealschule in Pforzheim
1910-1914 Studium der Theologie in Bethel, Tübingen, Berlin und Leipzig
1915-1920 Kriegsdienst und Gefangenschaft
1920 2. Theologisches Examen und Ordination in der Evangelischen Landeskirche in Baden
1925 Pfarrer in Pforzheim-Brötzingen
1934 f. Vorsitzender der Kirchlich-positiven Vereinigung (KPV), des Pfarrernotbundes und des Bruderrats der Bekenntnisgemeinschaft in Baden
1935 Pfarrer an der Pauluskirche in Freiburg i. Br.
1945 Oberkirchenrat und Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Landeskirche in Baden, seit 1949 ständiger Stellvertreter des Landesbischofs
1958 Ruhestand
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1936 Freiburg i. Br., Elisabeth, geb. Holzhausen
Eltern: Wilhelm Dürr (gest. 1910), Schreinermeister
Juliana, geb. Breitenstein
Geschwister: 2 Brüder, 3 Schwestern
Kinder: keine
GND-ID: GND/129944491

Biografie: Günther Wendt (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 95-97

Als Dürr nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg und Kriegsgefangenschaft sich Anfang der zwanziger Jahre auf den Pfarrdienst vorbereitete und ihm 1925 seine erste Pfarrstelle in Pforzheim übertragen wurde, war das kirchliche Leben im Rahmen der am staatlichen Modell der parlamentarischen Demokratie orientierten Kirchenverfassung von 1919 durch kirchliche Parteien und Gruppen bestimmt. Von seinem pietistischen Elternhaus geprägt, schloß sich Dürr der Kirchlich-positiven Vereinigung (KPV) an, die sich in ihrer Satzung die Aufgabe stellte: den biblischen Glauben und die reformatorischen Bekenntnisse als Grund unserer Kirche zu erhalten, die auf diesem Grund stehenden Glieder der Kirche zu sammeln und in ihrem Glaubensleben zu stärken sowie am Aufbau des kirchlichen Lebens mitzuarbeiten. Die KPV grenzte sich dabei insbesondere von der Kirchlich liberalen Vereinigung (KLV) und dem Bund religiöser Sozialisten (BRS) ab.
Im Zusammenhang mit der Machtergreifung des NS-Regimes (1933) und den damit verbundenen kirchenpolitischen und theologischen Auseinandersetzungen wuchs der KPV unter der Leitung Dürrs die Verteidigung der an Schrift und Bekenntnis gebundenen Kirche gegenüber der „Glaubensbewegung deutscher Christen, Gau Baden“ zu. Eine kirchenleitende Bekenntniskirche hat es in Baden nicht gegeben, insofern gehörte die badische Landeskirche noch zu den sogenannten „intakten Kirchen“. Nach dem Urteil K. Scholders waren die badischen DC „aller Radikalität abhold“. Jedoch entstand in dem Kreis der Kirchlich-positiven eine Oppositionsbewegung, die gegen konkrete Ereignisse der kirchlichen Entwicklung in der Landeskirche und der „Reichskirche“ ihren Protest erhob. Für die Entwicklung und Gestaltung der KPV zu einer Bekenntnisgemeinschaft war insbesondere die Sportpalastkundgebung der DC in Berlin im November 1933 bedeutsam, bei der in massiver Weise die Grundlagen des christlichen Glaubens zugunsten der NS-Ideologie angegriffen und u. a. die Abschaffung des Alten Testaments gefordert wurde. Bis Anfang Januar 1934 waren bereits 102 badische Pfarrer dem von Martin Niemöller ins Leben gerufenen Pfarrernotbund, der den deutschchristlichen Angriffen Widerstand leistete, beigetreten. Dürr wurde von M. Niemöller mit der Leitung des Pfarrernotbundes in Baden beauftragt. Die „Selbstverpflichtung“ bei Aufnahme in den Pfarrernotbund schloß das Anerkenntnis ein, daß die Anwendung des Arier-Paragraphen im Raum der Kirche eine Verletzung des Bekenntnisses darstellt. In diesem Zusammenhang ist Dürr später ein zu zögerliches Verhalten vorgeworfen worden.
Am 5. April 1934 schickte Dürr an den „Reichsbischof“ Müller in Berlin im Namen von 230 badischen Pfarrern ein Protesttelegramm gegen den sogenannten „Maulkorberlaß“, der allen Kritikern des Reichsbischofs und seines Kirchenregiments Disziplinarmaßnahmen androhte. Zu einer heftigen und grundsätzlichen Auseinandersetzung des im Juni 1934 in Anlehnung an die KPV auf Initiative Dürrs und unter seiner Leitung gebildeten Bruderrats der Bekenntnisgemeinschaft in Baden mit der Kirchenleitung kam es, als diese auf Druck der Reichskirchenleitung in Berlin im Widerspruch zur KPV der Landeskirche die „Eingliederung“ der Landeskirche in die Reichskirche in einem vorläufigen Kirchengesetz verfügte. Danach wurden die Befugnisse des Landesbischofs, des Oberkirchenrats und der Landessynode auf die DEK mit der Ermächtigung übertragen, auch verfassungsändernde Kirchengesetze zu erlassen. Der Reichsbischof kann dem Landesbischof Weisung erteilen. Die Auseinandersetzung um die „Eingliederung“ der Landeskirche markiert nach K. Scholder den eigentlichen Beginn des Kirchenkampfes in Baden. Die Bekenntnisgemeinschaft Badens kündigte der gleichgeschalteten Kirchenleitung in Karlsruhe den Gehorsam auf. Auf ihren Widerstand unter der Federführung von Dürr ist es mit zurückzuführen, daß der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) bereits im Dezember 1934 die „Ausgliederung“ der Landeskirche aus der Reichskirche beschloß. Zu dieser Zeit waren 260 Pfarrer und Vikare eingeschriebene Mitglieder der Bekennenden Kirche.
Als Vorsitzender der KPV und der durch sie initiierten Bekenntnisgemeinschaft mit dem Bruderrat als Leitungsorgan nahm Dürr – und nicht ein Vertreter der offiziellen Kirchenleitung – zusammen mit drei weiteren der Bekenntnisgemeinschaft angehörenden Persönlichkeiten – darunter der Freiburger Historiker G. Ritter – an den Bekenntnissynoden in Barmen und Berlin-Dahlem 1934, in Augsburg 1935 und in Bad Oeynhausen 1936 teil. 1935 wurde Dürr auch Mitglied des von der Bekennenden Kirche als gesamtkirchliches Leitungsorgan gebildeten Reichsbruderrats. In seiner Kommentierung der Theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnissynode und der von ihr beschlossenen Erklärung zur Rechtslage der Deutschen Evangelischen Kirche (1934) wendet sich Dürr u. a. gegen das „Führerprinzip“ mit der Unterordnung der Landeskirche unter die Reichskirche: „Evangelische Kirche kann nur von unten nach oben, d. h. von der Gemeinde aus, gebaut werden.“
Zum Widerstand im „Freiburger Kreis“ fand Dürr, als G. Ritter zusammen mit ihm und dem Freiburger Pfarrer Hof Ende 1938 eine Denkschrift „Kirche und Welt“ verfaßte, die sich mit dem Verhalten des Christen gegenüber einer Obrigkeit befaßt, die die Staatsbürger zu einer weltanschaulichen Gesinnungsgemeinschaft zusammenschweißen will und widergöttliche Gebote erläßt. Diese Denkschrift gilt als Vorstufe der zweiten „großen Denkschrift“ des „Freiburger Konzils“. Die herausragende Aktivität Dürrs im kirchlichen Widerstand setzte ihn wiederholten Hausdurchsuchungen und Verhören durch die Gestapo aus.
Von 1945 bis zu seiner Zurruhesetzung 1958 war Dürr Mitglied der neu gebildeten Kirchenleitung im EOK, seit 1949 als ständiger Vertreter des Landesbischofs. Zwei seiner Tätigkeitsbereiche seien hervorgehoben: Die Einflußnahme auf die Neuordnung (Grundordnung) der Landeskirche sowie seine besondere Verantwortung für eine Reform der Ausbildung des Pfarrernachwuchses.
Aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes und der Bindung an die Erkenntnisse der Bekennenden Kirche von der Notwendigkeit einer bekenntnisbestimmten, am Verkündigungsauftrag der Kirche orientierten Kirchenordnung setzte sich Dürr für eine Präzisierung des Bekenntnisstandes der Landeskirche im Sinne einer, das Gemeinsame der lutherischen und reformierten Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts hervorhebenden Bekenntnisunion ein. In diesem Zusammenhang vertrat Dürr gegenüber dem lutherischen Kirchenverständnis anderer theologischer Mitglieder des EOK eine durch die Einheit in der Unterschiedenheit der Bekenntnisse und damit ökumenisch bestimmte Unionstheologie.
Für die Neuordnung der praktisch-theologischen Ausbildung zwischen dem 1. und 2. von der Kirchenleitung abgenommenen theologischen Examen ist die von Dürr als Nachwuchsreferent mitgestaltete Einrichtung eines Kandidatenkonvikts (Petersstift) in Heidelberg bedeutsam. In ihm wurde in Ergänzung zu dem von der theologischen Fakultät in Heidelberg veranstalteten praktisch-theologischen Seminar eine vita communis der Kandidaten mit Einführung in gemeindliche Praxis ermöglicht.
Werke: Notizen über die kirchlichen Verhältnisse Badens in den Jahren 1933 bis 1937, hektographiertes Exemplar im landeskirchlichen Archiv (LKA) in Karlsruhe; Kommentierung der Theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnissynode (1934), Kirchlich positive Blätter 1934, 94 f.
Nachweis: Bildnachweise: in: Gerhard Schwinge, 100 Jahre badische Pfarrerschaft und Heidelberger Theologische Ausbildung, 1992, und H.-G. Dietrich (vgl. Literatur)

Literatur: Umfangreiche Wiedergabe der einschlägigen kirchenpolitischen und konfessionsgebundenen Äußerungen Dürrs in amtlichen Korrespondenzen, öffentlichen Erklärungen und Vorträgen in: Die Evangelische Landeskirche in Baden im Dritten Reich, Quellen zu ihrer Geschichte, im Auftrag des EOK, hg. von H. Rückleben und H. Erbacher, Band 1 (1931-33), 1991, Band 2 (1933-34), 1992; H. Erbacher, Die Evangelische Landeskirche in Baden in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich 1919-1945, geschichtliche Dokumente. Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, Band 34, 1983; H. Erbacher (Hg.), Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte der Evangelischen Landeskirche in Baden, Preisarbeiten anläßlich des Barmenjubiläums 1984. Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte der Evangelischen Landeskirche in Baden, Band 39, 1989; Heinrich Hoffmann und Martin Häffner, Der Beginn des Kirchenkampfes in Baden bis zur Theologischen Erklärung von Barmen, 91 f. und 145 f., Klaus Scholder, Baden im Kirchenkampf des Dritten Reichs, Oberrheinische Studien 2 (1973, 223 f.); Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden, Hg. Stadtarchiv Mannheim, bearb. von Jörg Schadt, 1976, 70 f.; Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. von E. Jon u. a., 1991, hier der Beitrag von Klaus Schwabe, Der Historiker G. Ritter und der Freiburger Kreis, 196 f.; H. E. Tödt, Gerechtigkeit für die Väter?; AUFBRUCH, Evangelische Kirchenzeitung für Baden 20 (1984) zu Nr. 29; Hans-Georg Dietrich, Die evangelische Kirchengemeinde Freiburg 1933-45, in: Schauinsland 110 (1991), 213-255, bes. 240 f., 245 ff. mit Bild
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