Oehme, Ruthardt Alexander Johannes 

Geburtsdatum/-ort: 10.07.1901; Böhla bei Großenhain/Sachsen
Sterbedatum/-ort: 05.06.1987;  Freiburg i. Br.
Beruf/Funktion:
  • Geograph und Bibliotheksdirektor
Kurzbiografie: 1912-1921 Dreikönigsschule (Realgymnasium) in Dresden (Sprachen: Französisch, Englisch, Lateinisch, Griechisch)
1921-1926 Studium der Geographie, Geschichte, Geologie, Mineralogie und Chemie an der Universität Greifswald, Leipzig, der TH Dresden und der Universität Heidelberg, insbesondere bei Alfred Hettner, Heinrich Schmitthenner und Wilhelm Salomon-Calvi
1926 Promotion bei Alfred Hettner in Heidelberg und Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen
1926-1929 Bibliothekarische Ausbildung an den Universitätsbibliotheken Heidelberg und Leipzig (Fachexamen für den Höheren Bibliotheksdienst)
1929-1933 Assistent am Geographischen Institut der Universität Freiburg
1933-1939 Wissenschaftlicher Bibliothekar an der UB Freiburg und (1934-1936) an der Bibliothek der TH Karlsruhe
1939 Habilitation Universität Freiburg, Dozent am Geographischen Institut
1939-1945 Kriegsdienst in Frankreich und Südrußland
1945-1952 Wissenschaftlicher Bibliothekar an der UB Freiburg
1951 außerplanmäßiger Professor an der Universität Freiburg
1952-1966 Direktor der Bibliothek der TH Karlsruhe
1952 Umhabilitierung an die TH Karlsruhe, außerplanmäßiger Professor am Geographischen Institut
1954 Berufung zum Mitglied der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg bei deren Gründung
1966 Pensionierung
1967-1968 Kommissarischer Leiter des Geographischen Instituts der Universität Karlsruhe
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1929 Ina, geb. von Grohzheim (1908-1978)
Eltern: Alexander Oehme (1873-1932), Baumeister
Meta, geb. Thiele
Geschwister: 2 Schwestern
Kinder: 3 Töchter, 3 Söhne
GND-ID: GND/131966227

Biografie: Gudrun Schultz (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 259-261

Das wissenschaftliche Lebenswerk Oehmes galt der historischen Kartographie vor allem des südwestdeutschen Raumes. Zahlreiche Einzeluntersuchungen gipfelten in der 1961 erschienenen „Geschichte der Kartographie des deutschen Südwestens“, die den Rang eines Standardwerkes erhalten hat. Dennoch lagen seine geographischen Interessen, schon in der Schulzeit in Dresden ausgeprägt, zunächst eher auf geomorphologischem Gebiet. Sein Studium hatte er allerdings außergewöhnlich breit angelegt und neben den Hauptfächern auch Theologie, Mathematik, Physik, Englisch und Psychologie gehört. In Heidelberg konzentrierte er sich unter dem Einfluß des Geologen Wilhelm Salomon-Calvi auf Geologie, Mineralogie und Chemie als Ergänzung zur physischen Geographie. Den größten Einfluß jedoch übte Alfred Hettner auf ihn aus. Oehme war zeitlebens stolz, noch Schüler Hettners gewesen zu sein, der ihm als Vorbild eines Gelehrten und Lehrers galt. Bei ihm promovierte er 1926, trotz des mehrfachen Universitätswechsels nach 11 Semestern, über die „Klein- und Großformen der Süd-West-Lausitz und des angrenzenden Quadersandsteingebietes“.
Einen Monat nach der Doktorprüfung legte er das Lehramtsexamen ab. Zu Hettners Bedauern entschied er sich zum Verzicht auf die ihm damals aussichtslos erscheinende akademische Laufbahn und wählte den Beruf des wissenschaftlichen Bibliothekars. Dennoch ergriff er nach der ihn wenig befriedigenden Ausbildung an den Universitätsbibliotheken Heidelberg und Leipzig und dem 1929 abgelegten Examen gern die ihm von Hettner vermittelte Möglichkeit einer auf vier Jahre befristeten Assistententätigkeit am Geographischen Institut der Universität Freiburg unter Hugo Hassinger. Zu seinen Aufgaben gehörten neben anderen Lehrverpflichtungen auch die kartographischen Übungen. 1930 übernahm er die Schriftleitung der „Badischen (ab 1938: Oberrheinischen) Geographischen Abhandlungen“ und führte sie fort, bis ihm dies der Kriegsdienst 1941 unmöglich machte. 1933 dann trat er in den Dienst der Universitätsbibliothek Freiburg, zunächst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, 1934 als außerplanmäßiger, ab 1935 als planmäßiger Beamter. Den Lehrauftrag für kartographische Übungen behielt er bei. 1934-1936 arbeitete Oehme an der Bibliothek der TH Karlsruhe.
1939 habilitierte er sich bei Hassingers Nachfolger Hans Mortensen, wiederum über ein geomorphologisches Thema: „Beiträge zur Morphologie des mittleren Estremadura (Spanien)“. Wie in der Dissertation ging es ihm um die Formenentwicklung unter gesteins- und klimabedingten Einflüssen, wobei er den Kleinformen – bei der Dissertation vor allem den Blockmeeren, jetzt Ranas genannten miozänen Schwemmschuttmassen – besondere Bedeutung zur Erklärung der Morphogenese beimaß.
Trotz der Einberufung zur Wehrmacht 1939-1945 konnte er bis 1941 seinen Lehrverpflichtungen teilweise nachkommen. Oehme war als Offizier in Frankreich und Südrußland eingesetzt. 1949 durfte er die Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. Am 16.3.1951 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. 1952 übernahm er die Leitung der Bibliothek der TH Karlsruhe. Nach der Umhabilitierung hielt er am Geographischen Institut in Karlsruhe kartographische Vorlesungen und Übungen. Oehme trat im August 1966 als Bibliotheksdirektor in den Ruhestand. Von 1967 bis 1968 verwaltete er das Geographische Institut in Karlsruhe als kommissarischer Leiter. Im November 1968 zog er mit seiner Familie wieder nach Freiburg.
Die Hinwendung zur historischen Kartographie, angeregt durch die kartographischen Übungen am Freiburger Institut, war für Oehme zunächst nur die Bescheidung auf einen Forschungszweig, den auch der ortsgebundene Bibliothekar bearbeiten konnte. Noch als Soldat veröffentlichte er seine Beobachtungen in länderkundlicher Sicht („Die Freigrafschaft“ 1941/42 und „Taurische Skizzen“ 1943). Aber schon 1935 hatte er den ersten Erfolg auf dem neuen Arbeitsgebiet verzeichnet, als er zwölf Holzschnittkarten des 16. Jahrhundert als eine Ausgabe der Landtafeln des Schweizer Humanisten Johannes Stumpf identifizieren konnte. Bis zum Kriegsende wechselten kartographische und allgemein-geographische Veröffentlichungen ab, danach stand die historische Kartographie als Forschungsgebiet fest. Oehmes Interesse konzentrierte sich auf den oberschwäbischen und den Bodenseeraum und auf die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, insbesondere auf den Übergang von der Landtafelmalerei zur nüchternen, auf Vermessung beruhenden Kartendarstellung. Zu diesen Studien zählt die 1956 erschienene Arbeit über den Überlinger Lateinschulmeister Johannes Georgius Tibianus = Schinbain (vermutlich 1541-1611), dem Oehme eine bisher als „älteste Schwarzwaldkarte“ bekannte Holzschnittkarte zuweisen und dessen verschollene Bodenseekarte er wiederauffinden konnte.
1954 wurde Oehme in die neugegründete Historische Kommission in Baden-Württemberg berufen. Hier war er an den Vorarbeiten zum Historischen Atlas beteiligt. Aus ihnen erwuchs seine „Geschichte der Kartographie des deutschen Südwestens“, der ersten zusammenhängenden Darstellung der kartographischen Erfassung dieses Raumes von der auf das 4. Jahrhundert zurückgehenden Peutingerschen Tafel bis zur Militärkartographie des 18. Jahrhunderts und an die Schwelle der modernen, im 19. Jahrhundert einsetzenden amtlichen Kartographie. Sie trug Oehme 1963 den Schillerpreis der Stadt Marbach ein und wurde unter die „50 schönsten Bücher des Jahres“ eingereiht.
Schon in den früheren Arbeiten beschäftigten Oehme über kartographisch-technische Fragen hinaus die Entstehungsbedingungen der Karten, ihre kulturgeographischen Aussagen sowie Leben und geistiges Umfeld des Autors. Diese Fragestellungen rückten später mehr und mehr in den Vordergrund, vor allem in der 1976 erschienenen Biographie des schwäbischen Theologen Eberhard David Hauber (1695-1765), der sich in seiner Jugend eingehend mit Geographie und Kartographie befaßt hatte und später zum Lehrer Büschings wurde. Oehme stellte nicht nur die bisher wenig gewürdigte Bedeutung Haubers für die geographische Wissenschaft heraus, sondern spürte seinem gesamten geistigen Hintergrund, der Theologie, Philosophie und den naturwissenschaftlichen Anschauungen des frühen 18. Jahrhunderts, nach.
Bis kurz vor seinem Tode arbeitete Oehme auf seinem Gebiet weiter, zuletzt über den Geographen und Ingenieur Tilemann Stella (= Stoltz, 1524/25-1589). Wenn die historische Kartographie heute als legitimer Zweig der geographischen und der historischen Wissenschaft gilt, ist dies auch Oehmes Verdienst. Er hat zahlreiche Fachgenossen zur Beschäftigung mit der alten Karte angeregt. Für sein auch international hohes fachliches Ansehen spricht u. a. seine Tätigkeit als Corresponding Editor der Zeitschrift „Imago Mundi“ von 1960 bis 1975. Oehmes wissenschaftliche Leistungen wurden neben seinem Hauptberuf als Bibliothekar erbracht. Dieser Beruf stellte ihn als Leiter der Bibliothek der Technischen Hochschule Karlsruhe vor die schweren Aufgaben des Wiederaufbaus der Bestände und des Gebäudes der im September 1944 zerstörten Bibliothek bei zunächst sehr geringem Etat und der übermächtigen Konkurrenz anderer Hochschulinstitute bei der Verteilung des knapp werdenden Hochschulgeländes. Trotzdem entschied sich Oehme 1957, als ihm die Leitung der Bibliothek der Technischen Universität Berlin angetragen wurde, für sein Bleiben in Karlsruhe. In seiner Amtszeit erhöhte sich das Bibliotheksaversum auf das Zwölffache, die Zahl der Mitarbeiter stieg von elf auf 54, alles in einem äußerst unzweckmäßigen Kasernenbau. Der Kampf um die Rückkehr aus dem 4,5 km vom Hochschulzentrum entfernten Exil der Bibliothek, die Abfindung mit dem spät zugewiesenen und äußerst klein bemessenen Bauplatz, der nur einen Hochhausbau zuließ, die dadurch erschwerte Bauplanung und die Auseinandersetzung mit den Architekten endeten erst kurz vor Oehmes Pensionierung mit dem Bezug des noch nicht ganz fertigen Neubaus im Frühjahr 1966.
Oehme war kein „Bibliothekar mit Leib und Seele“, aber er war ein sehr gewissenhafter Bibliothekar, offen auch für den technischen Fortschritt im Bibliothekswesen. Seine Bibliothek war eine der ersten in Deutschland, die Reproduktionsverfahren zur Einschränkung der Ausleihe einsetzte. Er regte schon 1965 die ersten Versuche zum EDV-Einsatz an seiner Bibliothek an. Trotz aller Belastungen aber suchte er sich Freiräume für Forschung und Lehre offenzuhalten. Er verkörperte bewußt den aussterbenden Typus des Gelehrtenbibliothekars, der nicht in der Verwaltung aufging, sondern aktiv am Hochschulgeschehen teilnahm. Als Vorgesetzter sah er seine Aufgabe auch in der Fürsorge für die ihm Unterstellten, eine Haltung, die ihm bei seinem sensiblen Wesen zwar manche Enttäuschung, aber auch die Achtung und Zuneigung seiner Mitarbeiter eintrug.
Bei seiner umfassenden Bildung und seinen vielfältigen Interessen, zu denen auch Theater und Musik zählten, war Oehme ein äußerst bescheidener und fast zu sehr zurückhaltender Mensch, der sich gleichwohl in vertrautem Kreis öffnen und als spannender und humorvoller Erzähler erweisen konnte. Sein Leben im Ruhestand teilte sich zwischen der wissenschaftlichen Arbeit und regelmäßigen Wanderungen im Kaiserstuhl und Tuniberg. Sehr schmerzlich und auch durch die Fürsorge der Kinder kaum abzumindern traf ihn der Verlust seiner Frau, die 1979 nach langer Krankheit starb. Die Familie hatte viel für ihn bedeutet. Nicht zufällig griffen vier seiner sechs Kinder in ihrem Studium die Fachrichtungen des Vaters auf.
Quellen: Personalakten des UA Karlsruhe; Mitteilungen von Frau Ruthild Meyer-Oehme; persönliche Kenntnis aus 12jähriger Mitarbeit an der Bibliothek der TH Karlsruhe
Werke: Liste der Veröffentlichungen (bis 1968) in: Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde – Geographie, Geschichte, Kartographie – Festschrift für Ruthardt Oehme zur Vollendung des 65. Lebensjahrs (= VKgLBW Reihe B 46 Bd.) Stuttgart 1968, in Auswahl in: Imago Mundi. 40. 1988, 127-129 (Nachruf von L. Zögner)
Nachweis: Bildnachweise: Foto in: Festgabe 1968, Imago Mundi 40. 1988, Kartographische Nachrichten 38. 1988

Literatur: Eberhard Sauppe, Der Bibliothekar Ruthardt Oehme, in: FG 4. Ruthardt Oehme, Stuttgart 1968, 1-6; Adolf Leidlmair, Ruthardt Oehme als Geograph, in: Ebd. 7-19. Lothar Zögner, Prof. Dr. Oehme 75 Jahre, in: Kartographische Nachrichten 26. 1976; ders., Ruthardt Oehme 85 Jahre, in: Ebd. 36, 1986; ders., Ruthardt Oehme 1901-1987, in: Ebd. 38, 1988; ders., Ruthardt Oehme, 1901-1987, in: Imago Mundi 40. 1988
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