Angst und Demokratie

Die Angstgeschichte der Bundesrepublik

 

Plakat der Jusos, Französische Besatzungszone, 1952. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 113 Nr. 0201. Zum Vergrößern bitte klicken.
Plakat der Jusos, Französische Besatzungszone, 1952. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 113 Nr. 0201. Zum Vergrößern bitte klicken.

In den frühen 1950er Jahre löste das vermehrte Verschwinden von jungen Männern in der Bundesrepublik eine regelrechte Panik aus. Junge Deutsche, so die in unzähligen Zeitungsberichten kolportierte These, würden von unlauteren Werbern für die französische Fremdenlegion gegen ihren Willen entführt und dann dazu gezwungen, für die französischen Kolonialinteressen in Indochina zu kämpfen. Mehrere Landesparlamente und der Bundestag debattierten das Problem; das Thema gefährdete die deutsch-französische Aussöhnung; die Bundesregierung reaktivierte ein älteres Gesetz, dass die Werbung für die Fremdenlegion unter Strafe stellte. Allein, die Werber gab es nicht. Wie sich bis Mitte der 1950er Jahren herausstellte, hatten sich die meisten jungen Männer aus unterschiedlichen Gründen freiwillig gemeldet. Viele wollten der Not oder der familiären Enge der Nachkriegszeit entkommen, andere gingen schlicht aus Abenteuerlust. Doch die in der vorherrschenden Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik kaum erwähnte Episode verweist auf verborgene Ängste, die die Zukunftsvorstellung der Deutschen nach 1945 entscheidend prägten. Diese Ängste wurden selten direkt artikuliert, sie lassen sich jedoch auch über die Metaphern und Vergleich erschließen, in der vermeintliche Bedrohungen wie die der Fremdenlegion beschrieben wurden. Da war dann die Rede von einer Versklavung der Deutschen durch die Siegermächte, von einem Ausgeliefertsein an die Besatzungsmächte. Die vermeintliche Werbung erschien oft in Analogie zu homosexueller Verführung junger Männer, die doch im Zentrum des Wiederaufbaus stehen sollten. Die Vorstellung der Werber als blutrünstige Parasiten und feminisierte Verführer trugen Charakterzüge des klassischen aber nach 1945 tabuisierten Feinbildes: der Juden. Die Werber waren eine neue Bedrohung im alten Gewand.

Geschichte der Bundesrepublik ist auch die Geschichte ihrer Ängste. Und ähnlich wie in dem obig zitierten Beispiel resultierten diese deutschen Ängste vor allem aus einer eigentümlichen Verschränkung der Erinnerung an eine katastrophale Vergangenheit mit der Antizipation einer gefahrenbesetzten Zukunft. Dies charakterisierte auch die Urangst der Deutschen nach 1945: die Angst vor der Vergeltung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit führte das oft uneingestandene Wissen um die Beteiligung an den (oder mindestens die passive Hinnahme der) Nazi-Verbrechen zu panischen Ängsten, dass es die ehemaligen Nazi-Opfer den Deutschen nun mit gleicher Münze heimzahlen würden. Gerüchte kursierten über Plünderungen seitens jüdischer Holocaust-Überlebender am Jahrestag der »Reichskristallnacht« im November 1945; die Bevölkerung sah sich den gewaltsamen Racheakten ehemaliger »Fremdarbeiter« aus Osteuropa nahezu schutzlos ausgeliefert. Auch die Besatzungsmächte erschienen keinesfalls als Retter, sondern zunächst eher als eine weitere Quelle existentieller Bedrohung, die sowohl die private (über Wohnungsbeschlagnahmung) wie auch die politische Existenz (über die Entnazifizierung) gefährdete. Viele dieser Ängste verblieben im Bereich des Imaginären, so gab es kaum tatsächliche jüdische Vergeltungsakte. Doch sie prägten die subjektive Wahrnehmung und Erfahrungswirklichkeit der Deutschen nach 1945.

Wahlplakat CDU, 1949. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 110/2 Nr. 0144.. Zum Vergrößern bitte klicken.
Wahlplakat CDU, 1949. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 110/2 Nr. 0144. Zum Vergrößern bitte klicken.

Dies war auch der Fall im Kalten Krieg. Hier verschränkte sich die Erinnerung an die eigene zunehmend popularisierte Leidens- und Opfererfahrung im Bombenkrieg mit der Angst vor einem noch zerstörerischen Konflikt an der vordersten Front des Kalten Krieges. Interessanterweise gelang es der ganz auf Sicherheit abzielenden Politik der Regierung Adenauer kaum, diese Ängste wirksam einzudämmen. Zu groß war das aus der NS-Zeit resultierende Misstrauen gegenüber dem Schutzversprechen des Staates. Die Politik der 1950er Jahren zielte daher eher auf eine Art Angstbalance, bei der die Angst vor dem Kommunismus und den Russen die Angst vor einem neuen Krieg neutralisieren sollte. Wirklich sicherer fühlte sich die Westdeutschen jedoch erst infolge des Schutzversprechens der Amerikaner – dies war die eigentliche Bedeutung von John F. Kennedys berühmten Satz vom Balkon des Schöneberger Rathauses im Juni 1963: Ich bin ein Berliner.

Doch die Angstgeschichte der Bundesrepublik endete nicht mit dem Beginn der Entspannung während des Kalten Krieges. Vielmehr verschoben sich die Ängste zunehmend von äußeren auf innere Bedrohungen. Dies ging einher mit einem Wandel in der Erinnerungskultur, die nun auch die Rolle der Deutschen als Täter in den Blick nahm, beispielsweise in den großen NS-Prozessen der 1960er Jahre wie dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Die zunehmende Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Demokratie und den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkte auch eine größere Sensibilität gegenüber den vermeintlichen Gefahren für die Gegenwart der bundesrepublikanischen Demokratie. In der Debatte um die Notstandsgesetze der 1960er Jahre wich beispielsweise die vorangegangene Sorge um einen schwachen Staat, der nicht ausreichend Schutz gegenüber äußeren Bedrohungen bieten konnte, der Angst vor einem zu starken, potenziell übergriffigen und autoritären Staat. Im Gegensatz dazu weckte die Studentenbewegung auf konservativer Seite Ängste vor einem neuen Totalitarismus von links. Überhaupt war die politische Debatte in der Bundesrepublik stark geprägt von einer Dialektik der Angst, in der die eine Seite der jeweils anderen unterstellte, eine andere Republik anzustreben. Ein grundsätzliches Vertrauen in die Stabilität der Demokratie der Bundesrepublik stellte sich erst spät ein – für Jürgen Habermas beispielsweise erst in den 1980er Jahren, als er konstatierte, dass auch die Mitte-Rechts Regierung unter Helmut Kohl den demokratischen Grundkonsens nicht in Frage stellen würde.

Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor dem Rathaus in Freiburg, 15. Mai 1968. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 134 Nr. 085255 Bild 1, Willy Pragher. Zum Vergrößern bitte klicken.
Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor dem Rathaus in Freiburg, 15. Mai 1968. Vorlage: Landesarchiv BW, StAF W 134 Nr. 085255 Bild 1, Willy Pragher.. Zum Vergrößern bitte klicken.

Neben den Angstobjekten veränderten sich in der Geschichte der Bundesrepublik die gesellschaftlichen Bedingungen für den Ausdruck und damit auch die Erfahrung von Ängsten. Die frühe Bundesrepublik stand im Zeichen eines repressiven Gefühlsregimes. Man gab sich dezidiert sachlich und nüchtern und bemühte sich dadurch um einen Kontrast zum Dritten Reich, das im Rückblick nun als eine Zeit von außer Kontrolle geratenen Emotionen erschien. Doch die Studentenbewegung der 1960er Jahre wendete sich gegen die Gefühlsarmut (Peter Schneider) der Nachkriegsgesellschaft und propagierte mit einer freieren Sexualität auch ein expressiveres Gefühlsleben. Das Emotionsregime der 1970er Jahre war dann das genaue Gegenteil der Gefühlsnormen der 1950er Jahre. Der möglichst offene Ausdruck von Gefühlen erschien nun als das Indiz einer gesunden Subjektivität, während die Unterdrückung von Gefühlen nicht nur politisch verdächtig, sondern auch existentiell bedrohlich war. Die zu der Zeit weitverbreitete Theorie der Krebspersönlichkeit stipulierte beispielsweise, dass die Unterdrückung von Gefühlen Krebs verursachen würde. Politisch relevant wurde diese expressive Gefühlskultur in den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, insbesondere der Umwelt- und Friedensbewegung. Die offene Artikulation und zunehmend auch öffentliche Performanz von Ängsten verband sich nun mit einer entstehenden Holocaust-Erinnerung. So prägte die Vorstellung eines nuklearen Holocausts die größte Protestbewegung der Nachkriegszeit, die Friedensbewegung der 1980er Jahre. Angst erschien nun als eine höhere Form der Vernunft, die eine privilegierte Wirklichkeitswahrnehmung erlaubte. Greta Thunbergs Aufforderung zur Panik angesichts des Klimawandels bei der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2019 stand in der Tradition dieses positiven Angstverständnisses.

Doch die Ängste der Gegenwart unterscheiden sich von den Nachkriegsängsten deutlich. Nicht nur rückt die Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Imagination von Ängsten zunehmend in den Hintergrund. Dies ist ein wesentlicher Grund für den Aufstieg von in Teilen rechtsextremen Parteien wie der AfD. Auch haben die Gegenwartsängste ihren konkreten Ort verloren. So lässt sich in Zeiten fortschreitender Globalisierung der Ursprung der Ängste vor wirtschaftlichem Kollaps, Terrorismus, Einwanderung, Klimawandel und neuerdings vor einem tödlichen Virus kaum mehr bestimmen. Gerade diese Unbestimmtheit der Ängste ermöglicht eine neue Politik der Angst, die Bedrohungsvorstellungen lokalisiert und personalisiert. Da werden vermeintliche Kollektive wie Muslime oder Flüchtlinge in klassischer Manier schnell zu Sündenbocken für die zunehmend undurchschaubaren Bedrohungen der Globalisierung. Nicht alle Ängste sind daher produktiv. Denn diese auf Minderheiten gerichteten, personalisierten Ängste bereiten den mentalen Boden für die Verschiebung von Angst zu Hass und rassistischer Gewalt.

Die hier skizzierte Geschichte der Bundesrepublik unterscheidet sich deutlich von dominierenden Erfolgsgeschichten der Demokratisierung, Liberalisierung oder Westernisierung. Ihr Ausgangspunkt ist die zeitgenössische Unsicherheit, die weitverbreiteten Zweifel vieler Deutscher an der eigenen Befähigung zu Demokratie und Wohlstand, die vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit ja auch durchaus plausibel waren. Im Rückblick der mit dem Wissen um den (vorläufigen) Ausgang der Geschichte ausgestatten Historikerinnen und Historiker werden diese Unsicherheiten und Ängste jedoch oft geglättet und verschwinden in einer retrospektiv als unvermeidlich erscheinenden Erfolgsgeschichte. Angesichts der gegenwärtigen Krise der Demokratie sind uns diese zeitgenössischen Ängste der alten Bundesrepublik aber auch wieder etwas näher gerückt. Ähnlich wie in der Nachkriegszeit scheint ein Scheitern der Demokratie nicht mehr als völlig ausgeschlossen. Die Ängste der Deutschen sollten daher nicht einfach als Indiz einer neurotischen German Angst pathologisiert werden. Dieser Begriff ist selbst historisch erklärbar. Er tauchte erstmals in den 1980er und 1990er Jahren auf und diente vor allem als Mittel konservativer Kritik an der Friedens- und Umweltbewegung. An ihm erweist sich allerdings auch die historische Spezifik zeitgenössischer Vorstellungen von Rationalität. Denn die damals oft zitierte vermeintlich irrationale Angst der Atomkraftgegner und Friedensaktvisiten erscheint nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, nach zwei desaströsen Irakkriegen, im Rückblick als durchaus rational. Überhaupt kam den Ängsten der Nachkriegszeit auch eine positive, produktive Funktion zu. Obwohl viele der imaginierten Schreckensszenarien nicht eingetreten sind, sensibilisierten die politischen Ängste der Nachkriegszeit für potentielle Gefahren für die Demokratie. Der vermeintliche Erfolg der Bundesrepublik war damit gerade auch in ihren Ängsten begründet.

Frank Biess

Frank Biess ist Professor an der University of California­San Diego

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 8-13.

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