Schlagen, Einschließen, festbinden

Gewalt gegen Minderjährige im psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau in den 1950er und 1960er Jahren

von Sima Afschar-Hamdi
 

Der zehnjährige Kurt, mit „abnormer Triebhaftigkeit“ 1951 von einem Erziehungsheim in das Psychiatrische Landeskrankenhaus (PLK) Weissenau bei Ravensburg gekommen, wurde vom Pflegepersonal als schwieriges Kind beschrieben. „Sein triebhaftes Verhalten macht ihn für die Abteilung fast untragbar. … er (wurde) 8 Tage lang in der Zelle isoliert, was auf sein Verhalten danach aber fast ohne Einfluss blieb. … Nur durch rohe Brachialgewalt kann er zum Folgen gebracht werden. Wiederholt musste er deshalb faradisiert werden“, wie in seiner Patientenakte notiert wurde.

„Faradisieren“ bedeutete das Verabreichen von Stromschlägen. Eigentlich zur Stimulation bei neuronalen oder muskulären Problemen gedacht, wurde es auch zum Zufügen von Schmerzen verwendet, wie aus zeitgenössischen Dokumenten hervorgeht.

Im PLK Weissenau gab es seit 1951 eine Kinderabteilung. Dort wurden geistig behinderte und psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche gleichermaßen aufgenommen. Es gab zwei Schlafsäle mit jeweils 20 Betten, in denen alle Kinder zusammen untergebracht waren.

Zwang und Gewalt ist bis heute ein vieldiskutiertes und umstrittenes Thema in der Psychiatrie allgemein, aber natürlich auch im Umgang mit Minderjährigen. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es selbstverständlich auch unterschiedliche Strömungen und Meinungen dazu, doch war damals das Durchsetzen von Gehorsam durch Zwang viel üblicher und in der Gesellschaft verbreiteter als heutzutage. Auch außerhalb von Psychiatrien und Kinderheimen waren z. B. Ohrfeigen damals keine Seltenheit.

In der Weissenau konnte das verschiedene Formen annehmen, wie den Patientenakten aus den 50er und 60er Jahren zu entnehmen ist. Ein vergleichsweise häufiges Zwangsmittel war das Isolieren, also das Unterbringen eines Kindes in einem Einzelzimmer oder einer Zelle ohne Kontakt zur Außenwelt. Von „einigen Stunden“ bis zu 8 Tagen konnte dies dauern. Auch das Fixieren, also das Festbinden, so dass sich das Kind nicht fortbewegen bzw. überhaupt bewegen konnte, kam vor. Dokumentiert zumindest wurde es nur für schwer geistig Behinderte, die entweder Dinge zerstörten oder andere Kinder würgten oder schlugen.

Dass das Verabreichen von Stromschlägen, also das Faradisieren, nach 1951 noch angewendet wurde, konnte nicht festgestellt werden. Wie schwerwiegend dies war, war auch dem Pflegepersonal und den Ärzten bewusst, auch in den Akten aus 1951 wurde es als „drastische Massnahme“ bezeichnet.

Doch auch ganz schlichte körperliche Gewalt kam vor. Von „rohem Anfassen“ oder „roher Brachialgewalt“ war hier die Rede. Dies ging nicht nur vom Pflegepersonal aus, auch die Lehrerin, die, zur damaligen Zeit recht fortschrittlich, im PLK angestellt war, notierte im April 1952 freimütig, dass bei einer Patientin „Schläge auf den Mund“ nichts nützten.

Mit dieser kurzen Aufzählung soll nicht unterstellt werden, dass Kinder per se in der Weissenau Gewalt angetan wurde, sie soll aber zeigen, dass es durchaus Fälle gab und welche Formen dies annehmen konnte.
 

Literatur

  • Krankenakten im Archiv des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg, Rechtsnachfolgerin des PLK Weissenau
  • Afschar-Hamdi, Sima, „Zwangsmaßnahmen an Kindern und Jugendlichen im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau in den 50er und 60er Jahren“, Dissertation (2018)

 

Zitierhinweis: Sima Afschar-Hamdi, Schlagen, Einschließen, festbinden. Gewalt gegen Minderjährige im psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau in den 1950er und 1960er Jahren, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 23.03.2022.

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