Die überlieferten Unterlagen von zwei Erziehungsheimen und ihre Auswertungsmöglichkeiten

Von Jürgen Treffeisen

 

Das Generallandesarchiv Karlsruhe verfügt über eine große Zahl von sogenannten Zöglingsakten aus den zwei großen badischen Erziehungsheimen in Flehingen und in Stutensee. 1.331 dieser Akten sind aus dem Erziehungsheim Schloss Stutensee aus der Zeit von 1927 bis 1977 überliefert. Sie wurden 2009 in Zusammenarbeit mit dem Kreisarchiv Karlsruhe von der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee übernommen und sind seit 1946 wohl komplett erhalten. Zahlreiche Akten dokumentieren Aufnahmen seit 1927, wobei ein Schwerpunkt in der 2. Hälfte der 1930er Jahre liegt. Sie spiegeln somit auch Einweisungen in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (1933–1945) wieder. Die Verwaltungsakten wurden 1991 durch einen Brand vernichtet. Aus dem damaligen Erziehungsheim in Flehingen existieren noch 10.768 Zöglingsakten (knapp 100 Meter) aus den Jahren 1900 bis 1984 sowie 33 Akten zur Verwaltung des Erziehungsheims und damit eine wichtige und aussagekräftige Überlieferung zur Heimerziehung im 20. Jahrhundert. Die personenbezogenen Akten beider Einrichtungen wurden vom Generallandesarchiv Karlsruhe vollständig übernommen. Im Folgenden werden diese Unterlagen beschrieben, um so deren Aussagekraft und Auswertungsmöglichkeiten anzudeuten.

 

Die Verwaltungsunterlagen des Erziehungsheims Flehingen

Außenansicht Schloss Stutensee 1920 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 2390, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Außenansicht Schloss Stutensee 1920 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 2390, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Nur insgesamt 33 Akten, ca. 0,5 Meter Regalfläche, zur Verwaltung des Erziehungsheims Flehingen sind erhalten geblieben. Sie befassen sich hauptsächlich mit baulichen Veränderungen und haben einen Schwerpunkt in der Zeit von 1900 bis in die 1920er Jahre, reichen aber in einzelnen Vorgängen bis in das Jahr 1957. Die meisten dieser Akten entstanden beim Verwaltungsrat des Erziehungsheims. Trotz des geringen Umfangs sind aussagekräftige Archivalien zur Geschichte der Einrichtung und der Heimerziehung dabei. Einige Beispiele belegen dies eindrucksvoll. Die Dienst- und Hausordnung aus dem Jahr 1896 regelte detailliert das Leben der Heimkinder. In einer Stellungnahme zur Situation der Schlafräume lehnte 1912 der Bezirksarzt eine höhere Belegung der einzelnen Räume ab. 1930 verlangte das Badische Justizministerium, dass der Abortanbau an der Turnhalle auch von der Turnhalle aus zugänglich sein muss. 1955 errichtete man einen Drahtzaun beim Gärtnereibetrieb, um eventuelle Fluchtversuche zu unterbinden. Grundrisse und Lagepläne veranschaulichen das Bild der Einrichtung.

 

Beschreibung und Aussagekraft der Zöglingsakten

Wohl komplett erhalten geblieben sind die sogenannten Zöglingsakten des Erziehungsheims Flehingen aus den Jahren 1900 bis 1984. Die Unterlagen spiegeln die Einweisung sowie den Aufenthalt der männlichen Jugendlichen in der Erziehungsanstalt wider. Für jeden Jugendlichen wurde eine Akte angelegt. Sie dokumentiert zum Teil sehr detailreich sein Leben in der Einrichtung. Eine Analyse und Charakterisierung der Zöglingsakten belegen ihre Bedeutung für die Sozialgeschichtsforschung sowie für die Geschichte der Pädagogik und Unterbringung in solchen Einrichtungen im 20. Jahrhundert. Für die Geburtsjahrgänge 1880, 1885, 1895, 1905, 1915, 1925, 1935, 1945, 1955, 1965 und 1970 sichtete ich jeweils vier bis zehn Akten, deren Struktur und mögliche Inhalte im Folgenden analysiert wurden. Die Jugendlichen hielten sich in der Regel zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr in der Einrichtung auf, wie lange, ist auf dem einzelnen Aktendeckel vermerkt.

Vielfältig waren die Gründe für die Unterbringung der Jugendliche im Erziehungsheim. Ein Jugendlicher wurde 1912 als der mütterlichen Zucht vollständig entwachsen beschrieben. Er ist auch wegen Diebstahls bereits vorbestraft und steht neuerdings wegen Vergehens gleicher Art in Untersuchung.  Ein anderer besuchte die Schule nur unregelmäßig, wochenlang ist er von ihr fern geblieben […]  Wochenlang mied er die elterliche Wohnung und trieb sich in der Gesellschaft anderer verdorbener Jungen müssig in der Stadt herum, immer auf günstige Gelegenheit erpicht, irgendwo etwas zu entwenden. […] Ebenso erfolglos waren die häuslichen Zurechtweisungen und Züchtigungen. Namentlich seitdem der Vater an den Folgen eines Betriebsunfalles schon monatelang im Diakonissenhaus krank darnieder liegt, vermag die Mutter gegen ihren Sohn nichts mehr auszurichten. Ein 14jähriger Junge wurde 1910 eingewiesen, da er ein vagabundierendes Leben führte und von seinem Vater als frech, verlogen und verstockt geschildert wird.

Bei dem Gesuch um Aufnahme handelt es sich um ein Formular mit vorgegebenen Fragen, das wohl bis in die 1950er Jahre in Gebrauch war. Eine Frage lautet beispielsweise: Ansichten und Wünsche des Jugendlichen in Beziehung auf sein einstiges Fortkommen (Antwort in einem Fall: Möchte auf der Schusterei weiter beschäftigt werden.), eine andere Frage Grund des Aufnahmegesuchs (Antwort in einem Fall: eigene Verderbtheit). Eine detaillierte Personenbeschreibung nach einem vorgegebenen Formular bringt uns den Jugendlichen näher. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre finden sich dann Beobachtungsgutachten in den Akten, ebenso werden nun Führungszeugnisse seitens der Anstalt erstellt. Zu Anfang der 1940er Jahre wurden diese Dokumente als Pädagogische Gutachten bezeichnet. Ab den 1950er Jahren nehmen diese Beurteilungen – jetzt Führungsbericht genannt – deutlich zu, so dass sich hieraus Entwicklungen des einzelnen Jugendlichen herausarbeiten lassen. Ein sogenannter Intelligenzprüfungsbogen, zu dem auch ein handgeschriebener Lebenslauf gehört, vervollständigt nun die Unterlagen. In den 1960er Jahren kommt ein persönlicher, von den Neuankömmlingen selbst auszufüllender Fragebogen hinzu. Hier finden sich Fragen nach der familiären Situation, nach Ausbildung und Arbeit, aber auch zur Freizeitgestaltung sowie nach der persönlichen Einstellung (z. B. Weshalb kamst Du in das Heim? Bist Du gern ins Heim gekommen? Welche Filme, die Du in letzter Zeit gesehen hast, haben Dir besonders gut gefallen? Was liest Du am liebsten?).

In der Akte – zumindest für die ersten Jahrzehnte – ist ein detailliertes Verzeichnis über die dem Jugendlichen bei der Einlieferung abgenommenen Gegenstände eingefügt. Auch Abschriften von behördlichen Dokumenten wie zum Beispiel der Geburtsurkunde oder einem Auszug aus dem Geburtsregister können in einer Akte abgelegt sein. Mögliche Straftaten sind detailliert mit den dazu ausgesprochenen Strafen im sogenannten Strafregister aufgelistet. Die Einweisung zur Zwangserziehung erfolgte in der Regel aufgrund von kriminellen Vergehen (Der Antrag wurde gestellt, weil Ludwig wiederholt Diebstähle begonnen hat). Die Abschrift des Gerichtsurteils macht die Hintergründe der Einweisung in manchen Fällen sichtbar. Ein ärztliches Zeugnis liefert eine Beschreibung des äußeren Aussehens des Jugendlichen sowie dessen Gesundheitszustand und vorhandene Impfungen. Ab den 1920er Jahren nennt sich dieses Dokument Ärztlicher Fragebogen für die Aufnahme. In der Regel dokumentiert ein Schriftwechsel zur Aufnahme in das Erziehungsheim detailliert die Hintergründe der Einweisung. Ein Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts sorgte für die gesetzliche Grundlage. In der Regel wurden die Kosten der Unterbringung einer behördlichen Stelle am Heimatort des Jugendlichen in Rechnung gestellt, beispielsweise dem Armenrat der Stadt Mannheim, später dann dem zuständigen Sozialamt.

Private Postkarten und Schreiben an den Jugendlichen zeigen Einblicke in sein Privatleben. Unter Umständen musste ein Fürsorger für ihn bestellt werden. Über den Aufenthalt in der Zwangs-Erziehungsanstalt konnte ein Führungszeugnis über den Jugendlichen ausgestellt werden, in dem dessen Betragen, Fleiß und Fortschritte, Aussicht auf Besserung und Gesundheitszustand eingeschätzt wurden. Bei einer Flucht findet sich in der Akte eine Fluchtanzeige. Die Korrespondenzen mit verschiedenen Verwaltungsstellen (unter anderem Waisenrichter) zeigen weitere Stationen des Jugendlichen, wenn auch nur aus der Sicht der Obrigkeit. Ging der Jugendliche auf Reisen, beispielsweise um seine Eltern zu besuchen, wurde eigens ein Reise-Ausweis ausgestellt. Hier wurden auch die genauen Reisedaten (Ab- und Ankunftszeiten der Züge) eingetragen. Später wurde dann nur noch der spätmöglichste Rückkehrzeitpunkt vermerkt. Mit einem Heimaturlaub konnte auch die Auflage verbunden sein, sich beim zuständigen Heimatjugendamt zu melden. Ab den 1950er Jahren finden sich Fotos der einzelnen Jugendlichen in den Akten, allerdings nicht regelmäßig und in späteren Jahren auch deutlich weniger.

Außenansicht von Schloss Flehingen, 1900 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 7268, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Außenansicht von Schloss Flehingen, 1900 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 7268, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Auch das Leben in der Anstalt wird in zahlreichen Dokumenten sichtbar. 1913 musste sich der Anstaltsleiter wegen der Arbeit der Jugendlichen in einem Steinbruch gegenüber dem Bezirksamt rechtfertigen. Ausdrücklich hob er hervor, daß die Arbeit im Steinbruch nur eine Aushilfsarbeit ist, und nur von den kräftigsten Zöglingen gemacht wird. Diese Arbeit wird niemals so betrieben, daß sie für irgendeinen Zögling zu anstrengend werden könnte. An den kälteren Tagen im Winter werden die Zöglingen innerhalb der Anstalt beschäftigt. Einem Jungen drohte 1956 der Entzug des Heimaturlaubs, da er wiederholt beim Rauchen erwischt worden war. In einer persönlichen, handschriftlichen Stellungnahme gelobte er Besserung: Ich weiß, daß das Rauchen meine Schwäche ist, und kämpfe auch immer wieder dagegen an. […] Es wird halt noch eine große Überwindung kosten, aber danach werde ich mich freuen über den Sieg, den ich über mich selbst davontrug. Wenn die familiäre Situation aus Sicht der Heimleitung ungünstig war, konnte auch ein Weihnachtsurlaub versagt werden. 1952 begründete man dies wie folgt: Wir können uns leider nicht entschließen, für [Name des Jugendlichen] einen Weihnachtsurlaub zu empfehlen. […] Die Mutter des Jungen ist unzuverlässig und eigenmächtig und wird nach unserem Dafürhalten eine pünktliche Rückkehr des Jungen nicht gewährleisten. Außerdem befürchten wir, dass [Name des Jugendlichen] bei einem Besuch im mütterlichen Haushalt Unfrieden stiftet.

Seit den 1970er Jahren nehmen zum Teil detaillierte Aktenvermerke zu einzelnen Ereignissen in Erziehungsheimen deutlich zu. Zwei alkoholisierte und Haschisch konsumierende Jugendliche konnten 1981 nur mit Müh und Not dazu bewegt werden, mit Betreuern ins Krankenhaus zu fahren. Auf der Fahrt zwischen Flehingen und Bretten wurden die beiden unruhiger. Sie gerieten in Stadium [sic] der hochgradigen Euphorie. Im Krankenhaus steigerte sich dann dieses euphorische Verhalten bis hin zu Lachkrämpfen. Sie waren zeitweise kaum noch ansprechbar.

In der Regel ermöglichte ein Ausbildungs- oder Anstellungsvertrag die Entlassung des Jugendlichen aus dem Erziehungsheim. In diesem Fall liegt der Dienstvertrag mit dem Lehrherrn bei. Der Jugendliche konnte aber auch hier die Flucht antreten. Es war auch möglich, dass die angeordnete Entlassung durch das zuständige Bezirksamt wegen schlechter Führung desselben zurückgenommen und die Wiedereinlieferung desselben verfügt wurde. 1952 begründete die Anstalt die Anfrage eines Vaters, warum für die Jugendlichen kein Lehrvertrag ausgestellt werde, interessanterweise folgendermaßen: Wir wollen nicht, dass das Erziehungsheim als solches in irgendeiner Form in den Papieren des Jungen in Erscheinung tritt. Regelmäßig berichteten Ausbilder über die Jugendlichen. 1940 lesen wir: Seinem Wunsch gemäß wurde der Junge zuerst auf der Wagnerei beschäftigt. Der Meister berichtete, daß es dem Jungen in dem erforderlichen Geschick für diesen Beruf mangle, er aber vor allem in seinen Arbeiten faul, interessenlos und gleichgültig sei. Der Meister lehnte die Weiterbeschäftigung des Jungen ab.  […] Zur Behebung der Verwahrlosung ist eine längerdauernde stramme und zielbewußte Anstaltserziehung erforderlich, die auch in Anbetracht des jugendlichen Alters[…] gewisse Erfolgsaussichten bietet, zumal bei dem Jungen […] keine erheblichen geistigen oder seelischen Regelwidrigkeiten vorliegen. Ab den 1960er Jahren wurden die Jugendlichen auch nach Erhalt eines Ausbildungsplatzes weiterhin betreut. Hierzu wurden sie bei ihren Ausbildungsplätzen unregelmäßig und grundsätzlich unangekündigt durch Vertreter der lokal zuständigen Sozialbehörde besucht. Eine Kopie des Besuchsprotokolls liegt der Akte bei. 1973 kann man beispielsweise in einem solchen Protokoll lesen: Auch mit dem Jungen selbst wurde gesprochen. Ihm macht seine Arbeit große Freude und er fühlt sich sehr wohl. Auch mit den einzelnen Lehrmeistern sprach man ausführlich. Unregelmäßigkeiten während der Ausbildung waren immer wieder Anlass, den Jungen ins Gewissen zu reden. 1987 wurde ein Jugendlicher schriftlich ermahnt: In den letzten Wochen sind immer wieder Phasen aufgetreten, in denen Du einfach keine Lust gehabt hast, in den Betrieb zu gehen, von der Arbeit weggelaufen bist oder Dich im Betrieb schlafen gelegt hast. […] Wenn sich diese Lustlosigkeit und Deine Verweigerung fortsetzen, werden wir, falls wir zu dem Schluß kommen, daß Du mit einer solchen Ausbildung überfordert bist, Deinen Lehrvertrag kündigen.

In der Regel werden die Ursachen für das Verhalten der Jugendlichen in deren Herkunftsfamilien gesucht: Der Grund der schon ziemlich fortgeschrittenen Verwahrlosung liegt in der psychischen Veranlagung und der vollkommen unzulänglichen häuslichen Erziehung. Die Mutter gilt als im Haushalt wenig vorbildlich, geschwätzig, faul und unaufrichtig. Der Vater, früher Trinker, ist arbeitslos. Mit diesen Worten erklärt ein Beobachtungsgutachten von 1932 die Verwahrlosung eines Jungen. Dass dieser offensichtlich durch eine Blutübertragung seinem Vater das Leben rettete, passte nun gar nicht mehr ins beschriebene Familienbild.

Außenansicht Schloss Stutensee, 1920 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 2392, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Außenansicht Schloss Stutensee, 1920 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 2392, Bild 1]. Zum Vergrößern bitte klicken.

In einem anderen Fall konstatierte 1932 die pädagogische Beurteilung eines Jugendlichen, daß der Vater ein mehrfach vorbestrafter, schlecht beleumundeter, sittenloser und gewalttätiger Mensch ist. […] Es ist mit Sicherheit festgestellt, daß vor einiger Zeit noch […] eine Dirne in Untermiete sich befand. Vertrauliche Erhebungen haben ergeben, daß bei [Familienname] Dirnen verkehren. Ein pädagogisches Gutachten von 1941 enthält folgende Einschätzung: Der Vater, Schlosser von Beruf, lebt ständig mit seiner Ehefrau im Streit. In der Erziehung seines Kindes war er inkonsequent und ausgesprochene Grobheit wechselte mit Laschheit ab. Die Mutter wird als moralisch minderwertig, schlechte Hausfrau, unordentlich, streitsüchtig, einsichtslos und unbelehrbar bezeichnet. Sie besitzt keine erzieherischen Fähigkeiten. Infolge Familienstreitigkeiten war sie schon verschiedentlich vorübergehend abwesend und hat sich mit ihrem Sohn 3 Tage und Nächte im Freien aufgehalten. Die folgende Einschätzung datiert auf das Jahr 1953: Erzieherisch hat [Name des Jugendlichen] in den letzten Jahren laufend Schwierigkeiten bereitet. Viel Schuld daran wird meines Erachtens der Umstand sein, dass beide Elternteile den ganzen Tag unterwegs sind.

Briefe der Angehörigen an die Anstaltsleitung dokumentieren gleichfalls in Ansätzen das familiäre Umfeld. 1909 wurde der Antrag eines Vaters, der sich krankheitsbedingt nicht um seinen Sohn kümmern konnte, auf Entlassung seines Sohnes abschlägig beschieden. Auch die positive Stellungnahme des Pfarrers sowie das Vorhandensein einer Arbeitsstelle konnten das Bezirksamt nicht mehr von der Zwangseinweisung abbringen. Denn das bisherige Verhalten des Jugendlichen, der seit 30. April diesen Jahres vorläufig in der Erziehungsanstalt Flehingen untergebracht ist, bietet keine Gewähr dafür, dass er in seiner Stellung als Arbeiter aushalten und sich bessern werde. Vielmehr ist nach der ganzen Vergangenheit des Jugendlichen mit Sicherheit anzunehmen, dass er alsbald seiner Stellung entlaufen und die elterliche Wohnung meiden würde, um von neuem in schlechter Gesellschaft auf Betteln und Diebstähle auszugehen, und ihn nur die Zwangserziehung vor völligem sittlichen Verderben bewahren kann.

Eine Familie erkundigte sich 1911 zum Verhalten ihres Sohnes und hoffte: Haben Sie Geduld und lassen Sie die Strenge nicht außer Acht. Einige Monate später bat der Vater dem Sohn folgendes auszurichten: Sagen sie ihm nur, er soll sich recht Mühe geben, das er die Prüfung so bald wie möglich bestehen kann und wenn er dann willig und ernst ist, so ist er jederzeit Willkommen, aber auf Unwegen darf er nicht mehr geraten, das muss er mir versprechen und auch halten, denn diese Unannehmlichkeiten kann ich nicht mehr haben. Andernfalls werde ich ihm die Türe weisen für immer. 1913 bat eine Mutter: Darf ich Sie bitten etwas auf meinen lieben Sohn zu achten, daß er etwas wird und er auch ausharrt. Eine besorgte Mutter schrieb 1941: Ich selbst habe mich seinerzeit damit [Aufnahme in Flehingen] einverstanden erklärt, weil es im gegebenen Moment einen anderen Ausweg für mich nicht mehr gab. Nach Tagen reiflicher Überlegung wurde mir bewusst, dass nach längerem Verbleib meines Sohne in Ihrem Heim, diesem ein schwerer Nachteil für seine ganze Zukunft entsteht, der durch nichts behoben werden kann.

Auch Korrespondenzen einzelner Jugendlicher an das Erziehungsheim können in den Akten vorhanden sein. Ein Jugendlicher, der bei einem Landwirt als Gehilfe eine Anstellung gefunden hatte, bat 1925 um Übersendung seiner noch in Flehingen lagernden Kleidungsstücke. Er ging davon aus, nun eine Heimat gefunden zu haben. Hier bin ich in gute Hände geraten und kann ruhig behaupten, dass ich mit meinem Dienstherr wenigstens ein vernünftiges Wort reden kann, was nicht überall der Fall ist. Sehr problematisch konnte es werden, wenn ein Jugendlicher Kontakte zu einem Mädchen unterhielt. 1972 intervenierte die Mutter eines Jugendlichen, den Kontakt ihres Sohnes zu einem Mädchen und deren Mutter zu unterbinden. Nach einem Besuch dieser beiden in Flehingen, den zunächst das Erziehungsheim erfolglos zu verhindern suchte, stellte sich die Situation jedoch neu dar. Das Erziehungsheim teilte der Mutter folgendes mit: In einem Gespräch mit [Name des Jugendlichen] wurde uns klar, daß Ihr Sohn an dem Mädchen [Name des Mädchens] sehr hängt und auch nicht von ihr lassen will. […] Im Übrigen glauben wir, daß Sie sich Ihrem Sohn nur dann wieder nähern können, wenn Sie stillschweigend das Mädchen [Name des Mädchens] akzeptieren.  [Name des Jugendlichen] wurde von uns schon deutlich auf die Jugend dieses Mädchens und seine eigene Jugend aufmerksam gemacht. Er ist aber so in sie verrannt, daß er aussagte: Von ihr bringt mich keiner weg.

Eine Beziehung konnte sich aber auch positiv auf die Entwicklung eines Heiminsassen auswirken. 1982 lesen wir in einem Bericht: In den letzten Monaten ist bei uns eine wesentliche Stabilisierung des jungen Mannes festzustellen.  [Name des Jugendlichen] hat seit einigen Monaten eine sehr intensive und enge Beziehung zu einer jungen Frau (Anfang 20) aufgebaut. Frl. J. besucht [Name des Jugendlichen] regelmäßig in unserem Haus und wir haben einen günstigen Eindruck gewinnen können. […] Seit [Name des Jugendlichen] diesen Kontakt pflegt, ist es in keiner Weise mehr zu massivem Alkoholkonsum beziehungsweise zu depressiven Erscheinungen bei ihm gekommen. Seine Vorstellungen gehen dahin, daß er auf jeden Fall diese Beziehung weiterpflegen möchte, und er sich in absehbarer Zeit mit Frl. J. verloben will.

Teilweise enthalten die Akten ab den 1950er Jahren abgefangene Briefe von und an die Jungen. Beispielsweise intervenierte die Mutter eines Jugendlichen 1962, weil dieser mit einem wohl Kriminellen in brieflichem Kontakt stand. Dieser wurde seitens des Erziehungsheims aufgefordert, den Kontakt zum Jugendlichen einzustellen: Die Mutter des [Name des Jugendlichen] sieht es nicht gern, wenn Sie mit diesem in Briefverbindung stehen. Da wir mit den Eltern und Erziehungsberechtigten unserer Jugendlichen sehr eng zusammenarbeiten, bitten wir Sie dringend den Briefverkehr einzustellen und auch von dem angesagten Besuch im Heim abzusehen. Sollten Sie unserer Bitte nicht nachkommen wollen, dann müßten wir Sie noch einmal unter Einschaltung des Karlsruher Jugendamtes daran erinnern. Ein abgefangener, dem Jugendlicher wohl nicht ausgehändigter Brief ist in der Akte abgeheftet.

Die Flucht einzelner Jugendlicher war natürlich auch immer ein Thema, das sich in den Akten widerspiegelt. 1923 meldete sich ein Arbeitgeber brieflich in Flehingen, um die Flucht eines Jungen anzuzeigen: Die von Ihnen überwiesenen Zöglinge machen sich gut mit Ausnahme von [Name des Jugendlichen]. Er meldet sich viel krank. Gestern kam er wegen Zahnschmerzen. Wir schickten ihn mit einem Vertrauten zum Zahnarzt und dieser machte den Fehler, dass er wieder zurückkam, als er [Name des Jugendlichen] dorthin verbracht hatte. [Name des Jugendlichen] ist nun anscheinend nach Karlsruhe zu seinen Eltern, die ihn am Sonntag besucht hatten. Diese machten einen ordentlichen Eindruck und so hoffen wir, dass sie ihn im Laufe des Tages zurückbringen. Eine größere Suchaktion unter sofortiger Einschaltung der Polizei löste 1981 das Verschwinden eines Jugendlichen aus. Nachdem [Name des Jugendlichen] nicht am Arbeitsplatz erschienen ist, wurde er im Gruppenbereich gesucht und man fand in seinem Zimmer einen Abschiedsbrief, aus dem eindeutig hervorging, daß er einen Suicid [sic!]  begehen wollte. […] Die zuständige Polizeistation in Oberderdingen wurde von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt und von dort aus wurde dann weiter ermittelt. Es stellte sich dann heraus, dass der Jugendliche sich den ganzen Nachmittag im Schloß versteckt hatte.

Mit den sogenannten Beobachtungsgutachten zu Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre wurden Fluchtversuche auch psychologisch erklärt: Die Grundlage für sein jeweiliges Ausreissen bildet eine Sehnsucht oder eine Verstimmung, die er aus eigenen Kräften nicht überwinden kann und die zur motorischen Abreaktion zwingt, diagnostizierte 1930 ein Gutachter. Wenn in einem Führungsbericht aus dem Jahr 1953 zu lesen ist: Den Versuch, aus der Anstalt zu entlaufen, unternahm der Junge noch nicht, so zeigt dies doch deutlich die vorhandene Erwartungshaltung. 1951 wird ein erfolgloser Fluchtversuch geschildert: Der im Betreff genannte Zögling war nun die obengenannte Zeit auf dem Fussmarsch durch Münzesheim in Richtung Bruchsal. Als er an dem Dienstzimmer des Landespolizei-Hauptpostens Münzesheim vorbeiging, wollte ein Beamter des Hauptpostens ihn einer Kontrolle unterziehen. Beim Anrufen versuchte der Zögling die Flucht zu ergreifen und sprang in Richtung Unteröwisheim. Um der Festnahme der Polizei zu entgehen, sprang er am Ortsausgang von Münzesheim in einen Maisacker. Beim Durchstöbern dieses Grundstückes ergriff er erneut die Flucht und als ihm die Polizei dicht auf den Fersen folgte, stellte er sich freiwillig der Polizei.

Seit den 1960er Jahren wurden die einzelnen Akten im Durchschnitt deutlich umfangreicher und detaillierter. Beispielsweise fanden nun routinemäßig Begutachtungen häufiger statt. Auch der Nachweis von Ausgaben wie zum Beispiel Kleiderkauf oder Fahrkartenabrechnungen nehmen zu.

 

Auszüge aus: Die Unterlagen der Erziehungsheime Flehingen und Stutensee im Generallandesarchiv Karlsruhe, in: „Aufarbeiten im Archiv“; leicht überarbeitet von Nora Wohlfarth. Die vollständige Fassung enthält Fussnoten und Einzelnachweise.

 

Bilder:

  • Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, Glasnegative Wilhelm Kraft 498-1 Nr. 2392, Bild 1.
  • Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, Glasnegative Wilhelm Kraft, 498-1 Nr. 2390, Bild 1. (Kachelbild)
  • Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe

 

Literatur:

  • Treffeisen, Jürgen: Die Unterlagen der Erziehungsheime Flehingen und Stutensee im Generallandesarchiv Karlsruhe, in: Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit. Hrsg. Christian Keitel, Nastasja Pilz und Nora Wohlfarth. Stuttgart 2018.
  • Erziehungsheim Schloss Stutensee: Zöglingsakten (Bestand), Bestandssignatur: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, 621-1
  • Erziehungsheim Schloss Flehingen: Zöglingsakten (Bestand), Bestandssignatur: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, 484-1
  • Erziehungsheim Schloss Flehingen: Verwaltung (Bestand), Bestandssignatur: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, 484-2

 

ZitierhinweisJürgen Treffeisen, Die überlieferten Unterlagen von zwei Erziehungsheimen und ihre Auswertungsmöglichkeiten, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

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