Jugendliche mit Behinderungen in den Jugendwohlfahrtsgesetzen

 

von Christoph Beckmann

Auszug aus dem Deutschen Reichsgesetzblatt von 1922 [Quelle: Wikimedia commons s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Auszug aus dem Deutschen Reichsgesetzblatt von 1922 [Quelle: Wikimedia commons, s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Konkret kommen Jugendliche mit Behinderungen im Jugendwohlfahrtsgesetz (1961) kaum vor. Lediglich die Generalklausel von einem „Minderjährigen […], dessen leibliche geistige Entwicklung gefährdet oder geschädigt ist“, die sich mehrfach im Gesetz findet“[1] , lässt eine Einbeziehung dieser Gruppe zu.

Nach Paragraph 78 des Jugendwohlfahrtsgesetzes (1961) führten jedoch die Landesjugendämter im Rahmen der Heimaufsicht die Aufsicht über alle Einrichtungen, „in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig betreut werden oder Unterkunft erhalten.“[2] Unter die Aufsichtspflicht der Landesjugendämter fielen also auch alle Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Minderjährige untergebracht wurden. In diesen hatten sie sicherzustellen, „dass in den Einrichtungen das leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen gewährleistet ist.“[3] Diese Aufsichtspflicht war folglich nicht davon abhängig, ob die Jugendlichen auf Basis des Jugendwohlfahrtsgesetzes in die entsprechenden Einrichtungen aufgenommen wurden.

Eine besondere Möglichkeit der Unterbringung von Jugendlichen stellte die sogenannte Fürsorgeerziehung dar. Sie konnte durch ein Gericht, genauer ein Vormundschaftsgericht, angeordnet werden, auch gegen den Willen des Betroffenen. Den Antrag hierzu kann z.B. das zuständige (Landes-)Jugendamt oder ein Erziehungsberechtigter stellen. Neben der Unterbringung in einem Heim kann die Fürsorgeerziehung, unter Aufsicht des Landesjugendamtes, auch in einer Familie erfolgen. Die Voraussetzungen dafür waren strenger als die weiter oben genannte Generalklausel: So durfte Fürsorgeerziehung nur bei (Gefahr der) Verwahrlosung des Jugendlichen angeordnet werden[4] – ein Begriff, der dabei im Gesetz nicht definiert wurde. Auch wenn der Begriff auch in anderen, z.B. psychologischen oder psychiatrischen, Zusammenhängen verwendet wird, diesen sogar entstammt, handelt es sich dabei in diesem Kontext um einen Rechtsbegriff. Als solcher muss er in seiner Bedeutung und Verwendung von der in anderen Kontexten, sowie in der Alltagssprache, abgegrenzt werden. Zusätzlich wird der Begriff, v.a. wegen seiner Verwendung in der Alltagssprache, als abwertend empfunden. In der Praxis wurde dieser Begriff weiterhin teilweise sehr weit ausgedehnt, sodass die Schwelle für die Einweisung insgesamt sank.[5]

Nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz-Kommentar des Juristen Gerhard Potrykus ist jedoch die Anordnung der Fürsorgeerziehung zumindest bei Jugendlichen mit geistigen Krankheiten oder Behinderung nicht zulässig, sofern diese Erkrankung die Aussicht auf Erziehungserfolg im Sinne einer Eingliederung in die Gesellschaft und Formung zu einem funktionalen Teil dieser Gesellschaft beeinträchtigte.[6] Die Möglichkeit, dass auch Jugendliche mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen unter das Gesetz fallen könnten, wurde jedoch durchaus in das Gesetz einbezogen: Im Abschnitt zur Fürsorgeerziehung findet sich auch ein Satz[7], der dem Landesjugendamt erlaubte, „die Entmündigung eines [in Fürsorgeerziehung befindlichen, C.B.] Jugendlichen wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche zu beantragen.“

Im Verfahren zur Anordnung von Fürsorgeerziehung waren nach dem Jungendwohlfahrtsgesetz neben dem Betroffenen auch dessen Eltern zu hören, wobei Landesgesetze und Durchführungsverordnungen diesen Personenkreis erweitern konnten[8]. Dies entsprach der damals schon gängigen Praxis. So legte z.B. die badische „Vollzugsverordnung zu den reichs- und landesgesetzlichen Bestimmungen über Jugendwohlfahrt“, wenig griffig abgekürzt als VVRJWGe, von 1934 fest, dass neben den im Gesetz Genannten auch der Lehrer und, falls relevant, der zuständige Amtsarzt oder ein Psychiater zu hören waren[9]. Auffällig ist, dass laut dieser Verordnung auch ein Arzt jährlich über die Erfolgsaussichten der Fürsorgeziehung zu berichten hatte.[10]

Diese Verordnung bezog sich jedoch auf die frühere Fassung des betreffenden Gesetzes von 1922, das Reichsjugendwohlfahrtgesetz. Es unterscheidet sich in den hier relevanten Fragen nur wenig von seinem Nachfolger. Auch hier entscheidet das Vormundschaftsgericht über Anträge auf Fürsorgeerziehung[11]. Auch hier ist die Voraussetzung eine drohende oder schon vorhandene Verwahrlosung des Jugendlichen[12]. Auch hier sind die Eltern und der Minderjährige selbst zu hören, sowie weitere Personen, die durch Landesrecht bestimmt werden können. Die Möglichkeit eines ärztlichen Gutachtens ist im Gesetz explizit vorgesehen. Antragsberechtigt ist jedoch nur das zuständige Jugendamt, auch wenn das Antragsrecht durch Landesrecht weiter ausgedehnt werden konnte.[13] Es ist jedoch anzunehmen, dass hier anders als im späteren Gesetz die Antragstellung durch die Eltern bzw. Sorgeberechtigten nicht vorgesehen war.

Weit gefasste Generalklauseln[14] erlauben die Möglichkeit, dass das Gesetz und seine Bestimmungen auch auf Jugendliche mit Behinderungen oder geistigen Krankheiten Anwendung finden könnten, explizit auf diese Gruppe bezogene Formulierungen finden sich jedoch nicht.

 

Anmerkungen

[1] Gesetz für die Jugendwohlfahrt (JWG), vom 11. August 1961, §55, §62.
[2] Ebd., §78.
[3] Ebd.
[4] Ebd., §64.
[5] Zöllner, Ulrike: Die Stimme der Betroffenen, S. 19.
[6] Potrykus, Gerhard: Jugendwohlfahrtsgesetz, S. 262.
[7] Gesetz für die Jugendwohlfahrt (JWG), vom 11. August 1961, §69, Abs. 5.
[8] Ebd., §65.
[9] Vollzugsverordnung zu den reichs- und landesgesetzlichen Bestimmungen über Jugendwohlfahrt (VVRJWGe), vom 19. Oktober 1934, §40.
[10] Ebd., §49.
[11] Reichsgesetz für die Jugendwohlfahrt (RJWG), vom 9. Juli 1922, §63.
[12]Ebd., §62.
[13] Ebd., §65.
[14]Ebd., §49, 56.

 

Literatur

  • Potrykus, Gerhard, Jugendwohlfahrtsgesetz. nebst den Ausführungsgesetzen und Ausführungsvorschriften der deutschen Länder, München 1953.
  • Zöllner, Ulrike, Die Stimme der Betroffenen. Ehemalige Heimkinder in Baden-Württemberg,, in: Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975, hrsg. von Nastasja Pilz, Nadine Seidu, Christian Keitel, Stuttgart 2015, S. 16-23.

 

Bildnachweis

Zitierhinweis: Christoph Beckmann, Jugendliche mit Behinderungen in den Jugendwohlfahrtsgesetzen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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