Zum Welttag des audiovisuellen Erbes

Wo werden bewegte Bilder eigentlich aufbewahrt?

Heute ist Welttag des audiovisuellen Erbes. Der Welttag soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Menschheit in den letzten 100 Jahren ein großes audiovisuelles Erbe an Tonaufnahmen, Filmen und Videos geschaffen hat, die es als historische Dokumente zu erhalten gilt.

Ein wichtiger Ort, an dem man eine sehr umfangreiche und alle Filmgattungen umfassende Sammlung aufbewahrt und der Nutzung zugänglich macht, ist das Audiovisuelle Archiv des Landarchivs Baden-Württemberg (AV-Archiv) in Stuttgart, das Ende der 1980er Jahren gegründet wurde und zu Beginn seiner Tätigkeit sich besonders auf den Mitschnitt von Sendungen des Süddeutschen Rundfunks spezialisierte. Doch zeigte sich rasch, nachdem die Bekanntheit dieser Institution wuchs, dass diese Tätigkeit nur ein kleiner Aspekt des Archivs sein konnte, vor allem da auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk selbstverständlich seine Produktionen archivierte. Vor allem ab Mitte der 1990er Jahre veränderte sich die Arbeit des AV-Archivs grundlegend. Nun standen nicht mehr Kopien von Fernsehsendungen im Vordergrund, sondern jetzt wurden originäre Quellen übernommen, die als Unikate in den Magazinen verwahrt werden. Dazu zählen besonders die Aufzeichnungen von Landtagssitzungen, aber auch Aufnahmen von staatlichen Behörden wie unter anderem der Polizei, der Justizvollzugsanstalten, Staatsanwaltschaften und anderer mehr.

Auch Spielfilme lagern im AV-Archiv, wobei in diesem Zusammenhang vor allem im Bestand J 25 (Sammlung Friedrich Knilli zur Mediengeschichte des Antisemitismus) erwähnenswert ist. Friedrich Knilli lehrte an der TU Berlin Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Medienwissenschaft. Die Beschäftigung mit den medialen Ausdrucksformen des Antisemitismus, insbesondere in Bezug auf den Film "Jud Süß", prägten seine Forschungs- und Lehrtätigkeit an der TU Berlin und führten ihn für Recherchen und Vorträge in verschiedene Länder Europas, nach Amerika und Asien. Dieses Forschungsinteresse prägt auch den Aufbau des Bestandes, erhalten sind hier u.a. die Spielfilme „Der Märtyrer seines Herzens“, „Jew Süss“ oder „Kolberg“. Im Jahr 2013 erfolgte nach längeren Verhandlungen der Ankauf der rund 55 lfd. m. umfassende Sammlung von Friedrich Knilli durch das Landesarchiv, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Dem Erwerbsinteresse des Landesarchivs an den Unterlagen und Filmen vorausgegangen war auch die Zusammenarbeit mit Friedrich Knilli für die Ausstellung "Beschlagnahmte Briefschaften. Der Kriminalprozess gegen Joseph Süß Oppenheimer 1737/38", die vom Hauptstaatsarchiv Stuttgart im Jahr 2007 durchgeführt wurde. Die Ausstellung überdauert nach wie vor als Online-Version und ist auf der Webpräsenz des Landesarchivs Baden-Württemberg einsehbar. Die Sammlung Knilli ergänzt damit die reichhaltigen Bestände der Originalunterlagen aus dem historischen Prozess um Joseph Süß Oppenheimer, die unter den Beständesignaturen HStAS A 48, insbesondere HStAS A 48/14, und HStAS J 300 verwahrt werden.

Doch nicht nur das AV-Archiv des Landesarchivs ist ein Ort, an dem solche wichtigen Quellen verwahrt werden. Neben dem Audiovisuellen Archiv des Landesarchivs Baden-Württemberg verwahrt auch die im Jahr 1998 gegründete Landesfilmsammlung mit dem Haus des Dokumentartfilms wichtige audiovisuelle Quellen. Sie dient als zentrales Filmarchiv und wird im Auftrag des Landes Baden-Württemberg über Mittel der Filmförderung der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg mbH und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst finanziert. Sie sammelt Filme aus und über das Bundesland aus kommunalen, kirchlichen und staatlichen Archiven, von Firmen des Landes, insbesondere aber aus Privatbesitz. Auf LEO-BW werden über 190 Videoclips aus der Landesfilmsammlung präsentiert. Zu sehen sind kurze landeskundlich relevante Sequenzen (ohne Ton). Die Beiträge entstanden von 1907 bis 1977. Sie zeigen Szenen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bzw. Orte, teils vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, Ereignisse, Alltägliches und Besonderheiten, wie die letzte Fahrt der Echaztalbahn (1969) oder ein Skifest auf dem Schauinsland (1908).

Zum Weiterlesen und Recherchieren:

 

 

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Holzsparkunst durch Heinrich Schickhardt

Energiesparen mit Tradition: Entwurf eines holzsparenden Kochherdes des Baumeisters Heinrich Schickhardt aus dem Jahr 1634. Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Kochherd, N 220 T 55

Anfang des 17. Jahrhunderts waren die Wälder schwer in Anspruch genommen und kaum mit unseren heutigen Forsten vergleichbar. Holz war eine der gefragtesten Ressourcen: Herzogliche Beamte erhielten Holz als Teil ihrer Besoldung, Brennholz wurde ohne konsequente Reglementierung aus den Wäldern entnommen und die Viehhaltung im Wald verhinderte eine Selbstregeneration der Baumbestände. Hinzu kam der stetig wachsende Holzbedarf durch das Vorherrschen der Holzbauweise und durch holzintensive Gewerbe wie die Glasmacherei oder die Köhlerei. Rechtliche Wege, der unkontrollierten Abholzung Einhalt zu gebieten, scheiterten. Fünf Forstordnungen zwischen 1534 und 1614 machten Württemberg zwar formal zu einem der führenden Länder in der Bekämpfung des Holzmangels, aber die Erfolge waren äußerst gering. Eine alternative Form des Umgangs mit dieser Ressourcenknappheit war die sogenannte Holzsparkunst. Der Nachlass des württembergischen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt, der im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart archiviert ist, dokumentiert die intensive Auseinandersetzung Schickhardts mit der Holzsparkunst. Unter den erhaltenen Dokumenten befinden sich zahlreiche von ihm angefertigte Abbildungen und Kommentare zu holzsparenden Anlagen, die er auf Reisen oder bei Vorführungen gesehen hatte und aus denen er Anregungen übernahm. Schon 1579 wohnte Schickhardt einer Vorführung der Holzsparkunst in Stuttgart durch Heinrich Mäuer aus Zürich bei. Somit gibt Heinrich Schickhardts Nachlass auch Aufschluss über den Wissensaustausch und Techniktransfer der Frühen Neuzeit. Neben Entwürfen für holzsparende Stuben-, Kalk- und Dörröfen finden sich auch Entwürfe für Kochherde. Der hier abgebildete Entwurf aus dem Jahr 1634 trägt den Vermerk: „Wieman zu einer gros oder kleinen haushaltung mit wenig holtz kochen soll“. Anstatt wie damals üblich auf offenem Feuer zu kochen, sollten Speisen mit verdecktem Feuer zubereitet werden, um den Verlust an ungenutzter Abwärme und somit auch den Holzverbrauch zu reduzieren. Mehr Informationen finden Sie im Artikel "Heinrich Schickhardt als Ingenieur-Techniker: Holzsparkunst - Energiesparen mit Tradition" auf dem Landesbildungsserver BW. (JH)

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Klosterschätze oder frieren für das ewige Leben

Frömmigkeit im Villinger Klarissenkloster am Ausgang des 15. Jh.

Manchmal bergen Klöster oder deren historische Zeugnisse Überraschungen. So geben einige jüngst digitalisierte Handschriften aus dem Villinger Bickenkloster Einblicke in die Frömmigkeit und Kultur eines Klarissenkonvents, der gegen Ende des 15. Jh. aus einer Schwesternsammlung hervorging. Die Bickensammlung bestand ursprünglich aus Töchtern angesehener Villinger Bürgefamilien, die sich der Pflege von Kranken und Sterbenden gewidmet hatten. Mit der Ankunft von Ursula Haider wurde die Sammlung 1480 in ein geschlossenes Kloster umgewandelt. Die als Mystikerin bekannte Ursula Haider (1413-1498) hatte lange Jahre als Äbtissin des Klarissenklosters Valduna in Vorarlberg gewirkt und brachte einige ihrer Weggefährtinnen mit. Fast alle bisherigen Schwestern verließen die Gemeinschaft. Der neue Konvent nahm junge Frauen auf, von denen viele aus angesehenen Familien Oberschwabens und des Bodenseeraums stammten. Sie unterstanden dem strengen Reglement in Klausur und pflegten ein anspruchsvolles kulturell-religiöses Leben, zu dem geistliche Literatur, Gesang und Musik gehörten. Im Kloster wurde eine Schreibwerkstatt eingerichtet. Die von der Äbtissin Juliana Ernstin verfasste Klosterchronik des 17. Jh. berichtet von einer umfangreichen Bibliothek sowie der literarischen Tätigkeit Ursula Haiders und den von ihr verfassten mystischen Werken.

Viele Bücher der Bibliothek fielen bereits Ende des 18. Jh. der Kirchenreform Josephs II. zum Opfer, als sie bei der Auflösung des Konvents kurzerhand im Ofen entsorgt wurden. In verschiedenen Bibliotheken und Archiven haben sich Werke sowohl aus der Bibliothek als auch der Schreibwerkstatt erhalten, darunter 14 Handschriften im Bestand „St. Georgen“ der Badischen Landesbibliothek, die sich zuletzt im Besitz der ehemaligen Benediktinerabtei St. Georg befanden. Wie ein Beispiel zeigt, wurden Bücher zusammen mit anderem Besitz beim Eintritt der Schwestern dem Koster übereignet. So gelangte eine Abschrift der „24 Alten“ des Otto von Passau 1485 als Gabe der Dorothea Sattler aus Ravensburg nach Villingen. 12 Handschriften, die der Schreibwerkstatt des Klosters zugeordnet werden können, entstanden in der Zeit zwischen 1480 und 1530 und lassen Rückschlüsse sowohl auf die Arbeit der Werkstatt als auch die Frömmigkeitsgeschichte und den religiösen Alltag zu. Für die Zeit um 1495 sind fünf hier tätige Schreiberinnen erwähnt. Anhand der Schriftproben lassen sich drei verschiedene Personen ausmachen. Eine von ihnen war Agnes Bútzlin, die unter anderem eine Passion Christi anfertigte und eigenhändig mit Illustrationen schmückte. Die Passion entstand in Zusammenhang mit der Erteilung des Kreuzwegablasses, für den sich Ursula Haider eingesetzt hatte. Sie gab auch eine Nachbildung der heiligen Stätten Jerusalems in Auftrag. Die auf 210 Pergamenttafeln festgehaltenen Abbildungen wurden um 1500 in Stein gehauen. Heute existieren noch rund 70 dieser Steintafeln im Kloster. Auf diese Weise war es möglich, dass die Schwestern eine Wallfahrt im Geiste unternehmen konnten, stellvertretend für eine reale Pilgerreise.

Neben Handschriften, die in engem Bezug zu der von Ursula Haider vertretenen Mystik stehen, scheint die Äbtissin die Klosterliteratur auf weitere prägnante Weise bereichert zu haben. Als Werk von herausragender Bedeutung finden sich drei Verszyklen, wo auf das harte Leben im „ruche Schwarczwald“ Bezug genommen wird. Die Verse richten sich direkt an das Gegenüber, vermutlich eine oder mehrere Schwestern des Konvents, die aus milderen Gegenden in den Schwarzwald zogen. Wie Christus hätten sie ihre Heimat zurückgelassen um durch Entbehrungen – erwähnt werden Schlehen und Tannenzapfen - in den Genuss des ewigen Lebens zu kommen. Ein weiterer Gedichtzyklus, der Ursula Haider zugeschrieben wird, ist in der Stiftsbibliothek St. Gallen überliefert. Personifizierte Fische und Vögel übermitteln in allegorischen Formen vorgebrachte Lehren, die an die jetzt namentlich genannten Schwestern des Villinger Klosters gerichtet sind. Zu den erhaltenen Texten der Bibliothek im Bickenkloster zählen darüber hinaus Hymnen und Sequenzen, die in anderen franziskanischen Handschriften nicht vorkommen. Für die besondere Stellung des Klosters spricht außerdem, dass der für seinen Humor gerühmte Franziskanerpater Johannes Pauli einige Zeit als Beichtvater tätig war. Von seinen Predigten fertigten die Schwestern 1493 eine Abschrift, die sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Die Schreibwerkstatt war über viele Jahrzehnte aktiv, bis die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges die gesamte Stadt in Mitleidenschaft zogen.

Die Handschriften werden seit 2019 zusammen mit dem Bestand „St. Georgen“ der Badischen Landesbibliothek in einem Gemeinschaftsprojekt digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen. Die meisten des rund 110 Bände umfassenden Bestands sind Erwerbungen des 17. und 18. Jh. aus der Benediktinerabtei St. Georg. Das ursprünglich in St. Georgen ansässige Kloster war nach der Übernahme der Vogteirechte durch Württemberg gezwungen, ins vorderösterreichische Villingen umzuziehen, wo sich die Mönche 1566 im ehemaligen Pfleghof einrichteten und nach dem Dreißigjährigen Krieg ein Gymnasium gründeten. Als Herkunftsorte der Handschriften konnten neben dem Bickenkloster weitere Frauenklöster in Westschwaben und dem Bodenseeraum ausfindig gemacht werden.

Zum Weiterlesen:

Die Handschriften des Villinger Bickenklosters. Ergebnisse aus dem Projekt zur Erschließung der St. Georgener Handschriften in der BLB Karlsruhe
Ein Gemeinschaftsprojekt der Handschriftenzentren Stuttgart und Leipzig mit der Badischen Landesbibliothek (BLB)

"Bickentorsammlung" und Klarissenkloster Villingen

Die Benediktinerabtei St. Georg in Villingen

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Wertheimer Stadtbuch, in dem verschiedenste Verträge aus Wertheim und Ortschaften der Umgebung direkt nebeneinander erscheinen, hier ein Ehevertrag zweier Lengfelder und ein Ehevertrag zweier Wertheimer Bürger, (Quelle: Landesarchiv BW, StAWt-S Pr Nr. 3 p. 130)

Wertheimer Stadtbuch, in dem verschiedenste Verträge aus Wertheim und Ortschaften der Umgebung direkt nebeneinander erscheinen, hier ein Ehevertrag zweier Lengfelder und ein Ehevertrag zweier Wertheimer Bürger, (Quelle: Landesarchiv BW, StAWt-S Pr Nr. 3 p. 130)

Sogenannte Stadtbücher sind eine unverzichtbare Quelle zur Erforschung des städtischen Lebens im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Die darin fixierten Statuten und Stadtrechtsniederschriften geben Einblick in die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der jeweiligen Stadt und ihren Weg in die Selbstverwaltung. Aber auch über das alltägliche Leben geben Stadtbücher Auskunft, etwa in Form von Liegenschaftsgeschäften, Heiratsverträgen, Testamenten und weiteren privatrechtlichen Niederschriften. Die ersten Stadtbücher oder Libri civitatis sind für das 13. Jahrhundert nachgewiesen, sie stammen aus dem Hanseraum und sind, ebenso wie die Urkunden des Mittelalters, in lateinischer Sprache verfasst. Erst im Spätmittelalter entstehen die ersten Stadtbücher in deutscher Sprache.
Die Entstehung und Entwicklung der Stadtbücher hängt eng mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit zusammen. Genügten anfangs für verschiedene Rechtsgeschäfte wie den Verkauf von Immobilienbesitz oder die Gewährung einer Hypothek mündliche Absprachen, wurde es zunehmend wichtiger, bei eventuellen Streitfällen vor Gericht Zeugen benennen zu können. Zu Beginn wurden lediglich die Zeugen des Rechtsgeschäftes notiert. Bald jedoch wurden auch Käufer, Verkäufer und der Gegenstand des Geschäftes vermerkt. Diese Eintragungen waren zunächst rein fakultativ, die ersten Stadtbücher enthalten also eher eine Auswahl der stattgefundenen Besitzveränderungen. Ähnlich ist es auch bei den Finanzgeschäften der Kommunen. Zu Beginn der Verschriftlichung ging es noch nicht um eine vollständige Dokumentation der Finanzen. Sie dienten dem Rechner lediglich als Gedächtnisstütze, um am Ende seiner Amtszeit Rechenschaft ablegen zu können. Ebenso verhält es sich mit Ratsbeschlüssen, von denen zu Beginn vornehmlich diejenigen mit normativem Charakter, sogenannte „Statuten“ dokumentiert wurden.
Mit der Verbreitung des Papiers und den damit sinkenden Kosten für den Beschreibstoff erhielt die Schriftlichkeit in den Verwaltungen einen Aufschwung und der schriftliche Nachweis vollzogener Rechtsgeschäfte gewann immer weiter an Bedeutung. Aus reinen Gedächtnisstützen wurden schriftliche Aufzeichnungen, die auch rechtliche Kraft besaßen. Mehr über Stadtbücher lesen Sie im Artikel von Anna Spiesberger in unserem Themenmodul "Südwestdeutsche Archivalienkunde".

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Jacob Picard wurde 1883 als eines von sieben Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wangen bei Öhningen geboren. Der Ort liegt am Rand der Halbinsel Höri, die zum Domizil vieler Künstler wurde. 1895 zog die Familie Picard nach Konstanz, wo Jacob sein Interesse an Literatur ausbauen und die Abiturprüfung ablegen konnte. Danach begann er Germanistik und Geschichte zu studieren, entschloss sich aber bald aus rationalen Gründen auf Jura umzusteigen. Er promovierte 1913 in Heidelberg, wo ihn die lebendige Literaturszene beeindruckte. Das Schreiben hatte er nicht aufgegeben. Im selben Jahr erschien sein erster Gedichtband. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem zwei seiner Brüder zu Tode kamen, meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Ab 1919 lebte er einige Jahre in Konstanz, nach der Heirat 1924 mit der Ärztin Frieda Gerson in Köln, wo er auch für den Rheinisch-Westfälischen Schriftstellerverband arbeitete. Die glücklose Ehe wurde um 1929/30 geschieden. Während der gesamten Zeit hatten ihn die Erinnerung an seine Jugend auf der Höri und das Leben der alemannisch-jüdischen Landbevölkerung nicht losgelassen. 1933 zog Picard nach Berlin, wo er sich unter dem auferlegten Berufsverbot und schwieriger werdenden Bedingungen vermehrt diesem Thema zuwandte. Bis 1936 erschienen bei der „Jüdischen Buchvereinigung“ mehrere längere Novellen, die bei Schriftstellern wie Hermann Hesse oder Stefan Zweig Anklang fanden. So würdigte Hesse den Reichtum an Anekdoten und Überlieferungen, in denen Würde, Frömmigkeit und Größe zum Ausdruck kommen. Das von Picard geschilderte Judentum war in den Dörfern der Region Hochrhein und Bodensee verankert, verdiente wie die christliche Bevölkerung den Lebensunterhalt auf einfache Weise und gestaltete das Leben wie diese nach eigenen religiösen Grundsätzen. Als viele Juden in Städte abwanderten, verschwand diese Lebenswelt. Viele von ihnen betrachteten die alten Zustände als rückständig und armselig. Picard vertrat die Ansicht, dass die Abgrenzung, die den Alltag zwischen Juden und Christen in den Dörfern bestimmte, keine Ausgrenzung war sondern Toleranz, die jenseits der städtischen Ghettos eine persönliche Freiheit ermöglichte.

Zwischen 1936 und 38 konnte Picard für einige Zeit auf die Höri zurückkehren. In Horn bei Gaienhofen schrieb er die autobiographischen „Erinnerungen eigenen Lebens“ und den Erzählband „Der Gezeichnete“. 1940 gelang ihm in letzter Minute die Emigration. Nach einer Odyssee durch mehrere Länder gelangte er in die USA und hielt sich mit Hilfsarbeiten über Wasser. Ab 1945 konnte er mithilfe eines Stipendiums die Biografie des 1848er Generals Franz Sigel verfassen, unter dem sein Großvater gekämpft hatte. Trotz der Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1946 lebte er nach eigenen Aussagen „in Amerika in Deutschland“. Als Picard Deutschland 1957 erstmals wieder besuchte, fand er ein anderes, von der Kultur des Ostens bestimmtes Judentum vor. Die Erinnerung an das selbstbewusste, dabei tief religiöse alemannische Landjudentum schien ausgelöscht zu sein. Erst 1963 erschien die Neuauflage seiner Erzählungen, 1964 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis. Mit über 80 Jahren kehrte Picard 1965 nach Deutschland zurück. Er starb am 1. Oktober 1967 ein einem Konstanzer Altersheim.

Mehr über Jacob Picard finden Sie:

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