Die »vollkommene Gleichheit des Vortheils«

Die Eisenbahnbrücke zwischen Kehl und Straßburg von 1861

Ansicht der neu erbauten Eisenbahnbrücke Kehl- Straßburg vom deutschen Ufer aus, nach 1861. Vorlage: LABW, GLAK J-B Kehl 3.
Ansicht der neu erbauten Eisenbahnbrücke Kehl- Straßburg vom deutschen Ufer aus, nach 1861. Vorlage: LABW, GLAK J-B Kehl 3. Zum Vergrößern bitte klicken.

Im Herbst 1838 begann von Mannheim aus der Bau der badischen Hauptbahn entlang des Oberrheins nach Süden. Nach sieben Jahren war Freiburg erreicht. Der Ausbau in West-Ost- Richtung dauerte demgegenüber länger. Rhein und Schwarzwald bildeten natürliche Barrieren und zugleich politische Grenzen.

Nachdem 1852 eine Übereinkunft mit der Schweiz über die Fortführung der Bahn durch deren Gebiet nach Konstanz erzielt worden war, schlossen 1857 Baden und Frankreich einen Vertrag über den Bau von Eisenbahnbrücken über den Rhein. Die Vertragspartner betonten den Grundsatz genauer Gegenseitigkeit und vollkommener Gleichheit des Vortheils und bezeichneten die Brückenbauten als unumgängliche Maßregel, um dem internationalen Eisenbahnverkehr diejenige Entwicklung zu geben, deren er fähig ist. Vorrang hatte die Brücke zwischen Straßburg und Kehl. Sie wurde 1858 bis 1861 errichtet und symbolisiert bis heute das Auf und Ab der badisch-französischen Beziehungen.

Die Brücke war ein Gemeinschaftswerk. Frankreich übernahm den Bau der Pfeiler und Widerlager, Baden den Überbau. Wegen des unsicheren Untergrunds wandte man bei der Errichtung der Pfeiler ein neues Verfahren an: die Druckluftgründung mittels in den Fluss versenkter, nach unten offener Eisenkästen. Druckluft verdrängte das Wasser aus diesen Senkkästen, sodass darin Arbeiter die Baugruben unter der Wasseroberfläche ausheben konnten. Auf den Oberseiten der Kästen begann zeitgleich der Aufbau der Pfeiler, deren zunehmendes Gewicht die Kästen in den Boden drückte, bis ein fester Stand erreicht war.

Auch der badische Beitrag war innovativ. Die Gitterträgerkonstruktion fertigte die Pforzheimer Firma Benckiser an, die kurz zuvor den Überbau von Deutschlands erster fester Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Waldshut erstellt hatte. Die in Kehl angewandte Verschubtechnik kam auf der Grundlage der Waldshuter Erfahrungen zum zweiten Mal zum Einsatz und gilt als Wegbereiter des Taktschiebeverfahrens.

Die Kehler Eisenbahnbrücke nach der Sprengung des westlichen Flusspfeilers, 1940. Vorlage: LABW, GLAK 421 Zugang 1993–90 F BrO 1768.
Die Kehler Eisenbahnbrücke nach der Sprengung des westlichen Flusspfeilers, 1940. Vorlage: LABW, GLAK 421 Zugang 1993–90 F BrO 1768. Zum Vergrößern bitte klicken.

Nach der Einweihung der Brücke durch Napoleon III. und Großherzog Friedrich I. von Baden war die Grundlage gelegt für eine Bahnverbindung von europäischem Rang, die von Paris bis in den Orient reichte. Die Ingenieurbauten des 19. Jahrhunderts waren nicht nur Zweckbauten. So war es auch bei der badisch-französischen Brücke bei Kehl. Die mit Adler und Greif, den Wappentieren der beiden Nachbarn, bekrönten Portale waren mit gusseisernen Skulpturen geschmückt, die Vater Rhein und Mutter Kinzig auf badischer sowie Père Rhin und Mère Ill auf französischer Seite darstellten. Die Strompfeiler waren mit Fialen geziert. Die Brücke beeindruckte, indem sie die filigranen Bauformen des Straßburger Münsters aufgriff.

Bei allem Verbindenden prägte doch auch Vorsicht das Verhältnis der Bauherren. Drehbrücken an den Ufern sollten die Überfahrt im Krisenfall behindern. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wurde die Grenzbrücke zur innerdeutschen Brücke. Durch den Versailler Vertrag 1919 ging das Eigentum auf Frankreich über. Der Zweite Weltkrieg brachte das Ende. Im Frühjahr 1940 sprengten die Franzosen den westlichsten Pfeiler. Deutsche Truppen zerstörten 1944 den Überbau und einen weiteren Pfeiler. Damit war das Bauwerk von 1861 verloren. Von den Portalskulpturen überstand Mutter Kinzig die Zeiten. Sie ziert heute das Gefallenendenkmal auf dem Kehler Marktplatz. Adler und Greif befinden sich bei der SNCF-Regionaldirektion Straßburg.

Nach 1945 ersetzte nüchterne Technik das Verlorengegangene. Zum neuen Sinnbild für das Verbindende wurde nun eine Fußgängerbrücke, die Passerelle des Deux Rives.

Martin Stingl

Quelle: Archivnachrichten 61 (2020), S. 28-29.

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