Der erste Fall einer Kindesentführung in Deutschland

Die Beisetzung von Joachim Göhner. Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 51/3 Bü 179
Die Beisetzung von Joachim Göhner. Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 51/3 Bü 179

Im Jahr 1958 erschütterte ein spektakulärer Kriminalfall die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart. Erstmals überhaupt sah sich die Polizei in Deutschland mit einer Kindesentführung konfrontiert und musste fieberhaft Jagd auf den Erpresser machen.

Die Geschichte selbst ist rasch erzählt: Am 15. April 1958, einem Dienstag, spielte Joachim Göhner vor dem Elternhaus an der Löwenstraße in Stuttgart- Degerloch. Zum Mittagessen wollte der Siebenjährige wieder zurück sein, doch das Kind kam nicht heim. Am Abend ging der Vater, ein 56 Jahre alter Textilvertreter, zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf. Die Beamten begannen sofort mit der Suche, befragten Nachbarn und fahndeten nach der geschiedenen Ehefrau, die die Polizei zuerst verdächtigte. Erst zwei Tage später um Mitternacht meldete sich der Entführer, die Polizei schnitt diesen Anruf mit. Er forderte 15 .000 Mark Lösegeld und für jeden Tag Verzögerung weitere 5.000 Mark. Der Vater hatte das Geld nicht, die Stadt Stuttgart half aus. Zweimal ging der Textilvertreter zu einer geplanten Geldübergabe. Doch der Täter holte die 15.000 Mark nie ab – wohl aus Angst, gefasst zu werden. Sieben Tage nach der Entführung wurde die erdrosselte Leiche des Jungen im Haldenwald gefunden.

Am 30. April begann eine öffentliche Fahndung. Rundfunksender strahlten bundesweit den Mitschnitt eines Telefongesprächs mit dem Täter aus, die Polizei bat um Zeugenhinweise. Viele Menschen meldeten sich. Darunter waren auch sechs Zeugen, die einen Gärtner aus Stuttgart ins Gespräch brachten: Emil Tillmann. Bei der Durchsuchung seines Hauses fand die Polizei unter anderem Schnüre, die zu denen passten, mit denen Joachim Göhner erdrosselt worden war. Tillman kam in Untersuchungshaft. Er legte ein umfassendes Geständnis ab: Ja, er habe das Kind mit dem Versprechen, ihm im nahen Haldenwald ein Reh zeigen zu wollen, entführt und danach umgebracht. Weil er heiraten wollte, seine Geliebte aber erst eine finanzielle Sicherheit forderte, hätte er diese Tat begangen. Er entzog sich seiner Verantwortung und erhängte sich am 23. Mai 1958 mit einem Gürtel in seiner Zelle am Charlottenplatz. Der Fall war bis dato einzigartig in Deutschland, die Polizei stand deshalb völlig unvorbereitet vor diesem neuen Phänomen der Kriminalität, das man bislang nur aus den USA kannte.

Der Fall war Grundlage des Stahlnetzkrimis Rehe, der unter der Regie von Jürgen Roland (Drehbuch von Wolfgang Menge) im Jahr 1964 erstmals von der ARD ausgestrahlt wurde.

Die im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren entstandenen Akten der Stuttgarter Kriminalpolizei und der dortigen Staatsanwaltschaft, die neben den Verhörprotokollen, einer Lichtbildmappe und der Pressedokumentation auch die während der Verhöre des Täters angefertigten Tonbandmitschnitte enthalten, sind vor kurzem an das Staatsarchiv Ludwigsburg abgegeben worden. Sie geben nicht nur minutiös über den Verlauf der Fahndung Auskunft, sondern ermöglichen auch detaillierte Einblicke in die Alltagswelt unterschiedlicher sozialer Milieus während der Wirtschaftswunderjahre.

Martin Häußermann

Quelle: Archivnachrichten 55 (2017), S. 29.

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