»Dass die Grippe sich neuerdings im Reiche weit ausgebreitet hat…«

Bekämpfung von epidemischen Krankheiten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

Pockenzählkarte aus Cannstatt, 1887. Vorlage: Landesarchiv BW, StAL E 162 I Bü 2078. Zum Vergrößern bitte klicken.
Pockenzählkarte aus Cannstatt, 1887. Vorlage: Landesarchiv BW, StAL E 162 I Bü 2078. Zum Vergrößern bitte klicken.

Ueber die Frage, ob es zweckmässig sei, beim Auftreten der Grippe sofort die Schulen zu schliessen, waren die Ansichten geteilt. Einerseits wurde die Auffassung vertreten, dass die Krankheit gerade in den Schulen eine rasche Verbreitung finde. Dadurch, dass hier Angehörige der verschiedensten Familien sich zusammenfinden, sei die Möglichkeit gegeben, dass der Ansteckungsstoff von allen Seiten herbeigetragen und andererseits in bisher verschont gebliebene Haushaltungen verschleppt werde. Schliesse man die Schule, so werde wenigstens dieser Weg der Krankheitsverbreitung ausgeschaltet.

Diese Sätze stammen nicht aus einem Protokoll einer Covid-19-Besprechung aus dem Jahr 2020 oder 2021, sondern sind bereits mehr als 100 Jahre alt. Es handelt sich um Auszüge aus einem Bericht des Reichskanzlers (des Reichsamts des Innern) vom 31. Oktober 1918, als die zweite Welle der Spanischen Grippe für immer mehr Erkrankungen und Todesfälle sorgte und die Angst vor einer weiteren Ausbreitung wuchs. In der Akte kann der Bericht vom Oktober 1918, in dem unter anderem auch die Fragen nach der Schließung von Theatern und Kinos, der Untersagung von Versammlungen und der Abhaltung von Gottesdiensten thematisiert werden, eingesehen werden.

Auch eine Einschleppung von Seuchen durch die aus der Gefangenschaft in Russland und Rumänien zurückkehrenden Personen wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs befürchtet. So wurden die Zurückkehrenden […] vor ihrem Einlaß ins Reich einer Quarantäne unterworfen, die womöglich noch im besetzten Feindesland, spätestens aber an der Reichsgrenze stattfindet. Bei gesunden Personen konnte ein Quarantänearzt nach wirksamer Entlausung allerdings eine Weiterreise ins Inland befürworten. Die Bekämpfung von Infektionskrankheiten war – neben der Aufsicht über alle für die Gesundheitspflege öffentlich angestellten Personen und alle öffentlichen Krankenanstalten – eine der wichtigsten Aufgaben des in den Jahren 1806–1920 bestehenden Medizinalkollegiums.

Unter den Infektionskrankheiten spielten die Maßnahmen gegen Pockenerkrankungen, die erst nach dem letzten nachgewiesenen Fall in Deutschland im Jahr 1972 reduziert und schließlich eingestellt werden konnten, jahrhundertelang eine besonders große Rolle.

In einer Anweisung zur Bekämpfung der Pocken aus dem Jahr 1904 sind unter anderem ausführliche Beschreibungen der Anzeigepflicht, der notwendigen Desinfektionsmaßnahmen und von Maßregeln bei gehäuftem Auftreten der Pocken aufgeführt. So sei eine Untersagung von Veranstaltungen, welche eine Ansammlung größerer Menschenmengen mit sich bringen (Messen, Märkte u. s. w.) in Orten zu erwägen, in denen ein Pockenausbruch erfolgt sei. Auch eine Schließung der Schulen nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen könne erforderlich werden. In einzelnen bedrohten Ortschaften sei für unentgeltliche Impfungen zu sorgen. Für an den Pocken erkrankte oder krankheitsverdächtige Personen wurde eine unverzügliche Absonderung angewiesen. Eine Aufhebung der getroffenen Anordnung sei nur nach Anhörung des beamteten Arztes möglich.

Corinna Knobloch

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 32-33.

Suche