»Lasset eure Mitbürger durch den Trang der Zeitumständt nicht zu Grunde gehen«

Die Hungerjahre 1816/17 in Sigmaringen

 

Gebetstext für die Bittprozession nach Sigmaringendorf, eine Litanei zur göttlichen Vorhersehung. Vorlage: Landesarchiv BW, StAS Dep. 1 T 3–4 Nr. 1134. Zum Vergrößern bitte klicken.
Gebetstext für die Bittprozession nach Sigmaringendorf, eine Litanei zur göttlichen Vorhersehung. Vorlage: Landesarchiv BW, StAS Dep. 1 T 3–4 Nr. 1134. Zum Vergrößern bitte klicken.

Am Pfingstmontag des Jahres 1817 wandte sich Schultheiß Anton Steidel mit einer empathischen Ansprache an die im Rathaus versammelten Bürger der Stadt Sigmaringen. Angesichts der erschröcklich und unerhörte Theuerung, dergleichen die Zeitgeschichte von mehreren Jahr100ten kein Beyspiel hat, war der Zeitpunkt gekommen, die gröstentheils mittellose und armen Mitbürger mit ihren Famillien vor dem Hungertode zu retten.

Das Jahr 1816 ist wegen seiner extremen Witterungsverhältnisse als Das Jahr ohne Sommer in die Geschichte eingegangen. Massive Ernteausfälle führten bis 1817 zu einer der schlimmsten Hungersnöte der Neuzeit. Die Ursachen dieser Krise folgten einem Muster, das bis heute in der Dritten Welt zu beobachten ist. Voraus gingen Verarmung und Verknappung der Vorräte, eine Folge der seit über 20 Jahren andauernden napoleonischen Kriege. Dann trat eine Naturkatastrophe ein, der Ausbruch des Vulkans Tambora auf Sumbawa im April 1815. Dessen Eruption zählt zu den stärksten in historischer Zeit. Schwefelhaltige Gase gelangten in die Stratosphäre und verbreiteten sich über die Erdkugel. Die in den hohen Luftschichten entstandenen Schwefelsäureaerosole absorbierten das Sonnenlicht und führten so zu einer weltweiten Abkühlung des Klimas.

Keiner der damaligen Zeitgenossen brachte dieses geologische Ereignis in Zusammenhang mit den Wetterkapriolen, den unreifen und verdorbenen Feldfrüchten, den Preissteigerungen aller Lebensmittel und den Epidemien, die Menschen und Tiere bedrohten.

Wie viele andere bot Schultheiß Steidel stattdessen eine religiöse Erklärung: Sittenlosigkeit und mangelnde Nächstenliebe hatten diese Strafen Gottes herausgefordert. Hilfe versprach er sich von Gottvertrauen und vom Gebet bei Andachten oder der für Juli verordneten Ernte-Bittprozession zur Kirche in Sigmaringendorf. Gebetstexte für diesen religiösen Umzug wie die Litaney von der göttlichen Vorsichtigkeit haben sich bis heute erhalten.

Seit dem Sommer 1816 hatte allgemeiner Mangel um sich gegriffen. Obrigkeitliche Maßnahmen erwiesen sich als unzulänglich: Aufkauf und Verteilung von Getreide und Reis, Ausfuhrsperren, Einrichtung eines öffentlichen Fruchtmarkts in Sigmaringen zur Begrenzung des Wuchers, Anlage von Vorratsmagazinen, Förderung von Fruchtanleihen und Beschäftigungsmaßnahmen. Die offiziellen Getreidepreise stiegen um fast das Vierfache. Verzweiflung und Existenzängste nahmen zu. Im Amtsblatt lasen die Sigmaringer nun Durchhalteappelle und Rezepte für Treber-, Stroh- oder Graswurzelbrot.

Um nun aber das Überleben der Ärmsten bis zur neuen Ernte zu sichern, rief Steidel an Pfingsten 1817 die Sigmaringer Bürger zum Zusammenhalt und zu tätiger Nächstenliebe auf, zur Gründung einer Wohltätigkeitsanstalt. Hierfür initiierte er von Juni bis August wöchentliche Geldsammlungen in der Bürgerschaft. Er selbst verzichtete auf seine Besoldung. Am Fest des Stadtpatrons, des heiligen Fidelis, hatte die Stadt das sonst übliche Böllerschießen zugunsten der Armen eingespart. Weitere Geld- und Sachspenden des Fürstenhauses Hohenzollern, aber auch aus allen Gesellschaftsschichten, kamen hinzu. Schnell waren Armenlisten erstellt. Von den 1.220 Einwohnern der Stadt erhielten ca. 30 Prozent Mehl- und Geldzuwendungen.

Das Engagement von Magistrat und Bürgern fand weithin Beachtung. In Sigmaringen legte man das Manuskript der Pfingstansprache Steidels zusammen mit weiteren Zeugnissen des Hungerjahres in eine Akte zum ewigen Andenken an dieses merkwürdige Jahr 1817.

Sibylle Brühl

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 24.

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