Einkaufen – vom Kolonialwarenladen zum Supermarkt
Von Felicitas Wehnert
Auf dem Land versorgte man sich weitgehend selbst. Die Bäuerin brachte das auf den Tisch, was der Hof hergab. In der Stadt aber musste die Köchin die meisten Lebensmittel einkaufen. Die Wochenmärkte sind der Ort, wo Stadt und Land, Erzeuger und Verbraucher zusammenkommen. Dort bieten die Landfrauen Obst und Gemüse der Saison an sowie Eier, Butter und Milch.
In Stuttgart gab es seit 1450 am Marktplatz einen Fachwerkbau als Verkaufsstätte. Als er 1820 wegen Baufälligkeit abgebrochen wurde, stiftete König Wilhelm I. eine Markthalle als Ersatz, damit „die Frauen und Töchter unserer Wengerter geschützt von den Unbilden der Witterung ihre Produkte feilbieten können“. Vorbild waren die Hallen von Paris. Der Bau ließ allerdings lange auf sich warten. Erst 1864 wurde die Glaskonstruktion eingeweiht. Sie reichte aber von Anbeginn für die durch die Industrialisierung rasch wachsende Stadtbevölkerung kaum aus. 1914 wurde die neue, größere Markthalle eingeweiht. Der dreigeschossige Jugendstilbau mit einem Glasdach und ausgedehnten Kellerräumen entging 1970 knapp dem geplanten Abbruch und ist bis heute ein Anziehungspunkt in Stuttgarts Mitte.
Bereits seit 1910 verkehrte auch die neue Straßenbahnlinie zwischen Wangen und dem Karlsplatz, nahe dem Markt. Die Filderbahn fuhr die Orte oben auf der Ebene an. Beide Linien boten eine große Erleichterung für die Bauersfrauen, die vorher mit ihren schwer beladenen Leiterwagen noch in der Nacht von ihren Höfen im Umland losmarschiert waren. Für ihre Körbe mit Obst, Kartoffeln und Gemüse wurden an die Straßenbahn zwei geschlossene Waggons angehängt und als Plattformwagen mit Ladeklappen für die Leiterwägen umgebaut. Diese Marktbahn war bis 1955 in Betrieb, dann wurde sie eingestellt, weil die meisten Bauern inzwischen mit Pritschenwagen kamen. Für die Händler wurde 1957 zusätzlich der Großmarkt im Stuttgarter Osten eröffnet.
Wohnortnahe Gemischtwarenläden
Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Mehl, Reis und Hülsenfrüchte gab es meist in kleinen wohnortnahen Gemischtwarenläden, in denen es auch Seife und Wäscheklammern, Bürsten und Besen gab. Weitere Haushaltsgegenstände boten die Krämermärkte oder Hausierer an. Auch auf dem Land gab es bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Dorfladen. In den Städten kamen Delikatessenläden auf, die meist unter dem Begriff „Kolonialwarenladen“ exotische Spezialitäten aus Übersee anboten: Kaffee und Tee, Kakao und Zucker und Gewürze, die auch Spezereien genannt wurden. Die waren teuer und bis Mitte des 19. Jahrhunderts absoluter Luxus. Die Städter gönnten sie sich vor allem beim Feiertagsgebäck für Anisplätzchen und Zimtsterne, Pfefferkuchen und Spekulatius. Aber Pfeffer und Piment, Muskatnuss und Nelken, Kardamom und Vanille waren auch begehrt, um den oft faden Geschmack der Gerichte zu heben und manchmal auch die mangelnde Frische des Fleisches zu überdecken. Die Luxusgetränke des Adels erreichen Mitte des 19. Jahrhunderts auch das Bürgertum, behalten aber das Flair des Besonderen. Echter Bohnenkaffee bleibt dem Sonntagnachmittag vorbehalten und wird in 125-Gramm-Päckchen verkauft. Tee und Kakao werden in edlen Gefäßen aus Porzellan und Kristall angeboten. Ein Großteil der Ware aber lagert unverpackt in Schränken und Schubladen und wird erst beim Verkauf in Tüten abgefüllt.
Zucker für alle
Auf der Theke waren die Zuckerkegel ausgestellt, wie man sie aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“ kennt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Rohrzucker aus den fernen Überseeplantagen eine Kostbarkeit. Zwar entdeckte der Berliner Apotheker Andreas Sigismund Marggraf bereits 1747, dass auch heimische Runkelrüben Zucker enthalten. Die Blätter wurden bis dahin vor allem wie Spinat gegessen. Erst seinem Schüler Franz Carl Achard gelang die Züchtung der ergiebigeren Zuckerrübe, mit der sich das begehrte Süßmittel in großem Stil herstellen lässt.
Der Südwesten mit den milden Flussniederungen von Rhein, Main und Neckar bot klimatisch günstige Voraussetzungen. Deshalb bauten die Landwirte dort bereits mit dem beginnenden 19. Jahrhundert Zuckerrüben an. Ende des 19. Jahrhunderts stieg der Zuckerverbrauch rapide. 1874 wurden nach den Zollaufzeichnungen des Deutschen Reiches 6,2 Kilogramm pro Kopf und Jahr verzehrt. Dank seiner konservierenden Eigenschaften konnten jetzt auch Früchte als Marmelade haltbar gemacht werden. 1926 schlossen sich die Zuckerfabriken aus Offenau, Waghäusel, Stuttgart, Heilbronn und Rheingau in Worms zur Süddeutschen Zucker AG mit Sitz in Mannheim zusammen. 1988 wird die Südzucker AG zum größten Zuckerproduzenten Europas. Das einstige Luxusgut ist zum billigen Massenartikel geworden. 2017 lag der Jahresverbrauch bei rund 34 Kilogramm, das sind 93 Gramm täglich. Als Füllstoff und Geschmacksverstärker kommt kaum ein Fertiggericht ohne Zucker aus – selbst in Essiggurken, Nudeln oder Hefeweizenbier ist Zucker. Diabetes ist eine der großen Volkskrankheiten geworden.
Schokoladenstadt Stuttgart
Auch die Schokolade wandelt sich von der Rarität zum Massenprodukt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ein Verfahren entdeckt, wie Kakaopulver sich mit Zucker und Milchpulver zu Schokolade verbindet. Der Südwesten und vor allem Stuttgart entwickelten sich im frühen 20. Jahrhundert zu einem Zentrum der Schokoladenproduktion. In der Blütezeit gab es dort sechs Betriebe mit über 1.000 Beschäftigten. Es begann 1857 mit der Firma Staengel und Ziller, später bekannt für ihre Eszet-Schnitten, dann kam 1896 die Edelschokolade von Moser Roth und die Waldbaur-Katzenzungen. Schließlich Fridl und Ritter in Bad Cannstatt, der 1930 nach Waldenbuch zieht und dort als einziger schwäbischer Schokoladenhersteller mit seiner quadratischen Sport-Schokolade überlebt. Tobler gründete eine Niederlassung in Stuttgart, Suchard ebenfalls und eine weitere in Lörrach.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 gab es keine Schokolade mehr für den zivilen Gebrauch. Die gesamte Produktion ging als hochkonzentrierter Energielieferant an das Militär. Erst 1946, mit der Candy Schokolade in den CARE-Paketen der Amerikaner, kamen die Kinder wieder in den Genuss der Süßigkeit. Schokolade wird ab den 70er-Jahren vom luxuriösen Genuss zum erschwinglichen Konsumartikel.
Von „Tante Emma“ zu „Onkel Ali“
Der Begriff Kolonialwarenladen verschwindet allmählich. Nur noch in dem Namen des Einzelhandelsverbandes EDEKA steckt er als ursprüngliche „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“. In den Industriestätten bildeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach britischem Vorbild Konsumvereine als Verbrauchergenossenschaften, meist gegründet von Gewerkschaften und Sozialreformern. 1933 von den Nationalsozialisten verboten, wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg als COOP wiederbelebt, bis sie schließlich in Süddeutschland 2009 an Rewe verkauft wurden.
Meist aber wurde bis in die 70er-Jahre hinein nach wie vor das Brot beim Bäcker eingekauft, Fleisch und Wurst beim Metzger, Gemüse auf dem Markt und andere Dinge des täglichen Bedarfs wie Reis und Nudeln, Mehl und Milch, Kaffee und Kekse beim Tante-Emma-Laden um die Ecke. Mit diesem Geschäftsmodell bauten sich damit vor allem Kriegerwitwen und alleinstehende Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Existenz auf. Typisch für diese kleinen Läden war die Bimmelglocke an der Tür und die Registrierkasse auf der Ladentheke. Dort stand auch das Glas mit den Himbeerbonbons und die Cremehütchen in Stanniol. Neben haltbaren Lebensmitteln gab es Kurzwaren wie Schnürsenkel und Sicherheitsnadeln, Fliegenfänger und Schuhcreme. Die Besitzerin wohnte meist über dem Laden und ließ sich auch abends noch für ein Päckchen Butter herausklingeln. Sie kannte die Lebensumstände ihrer Kunden und schrieb zur Not auch an.
Selbstbedienung im Supermarkt
Die Art des Einkaufens veränderte sich radikal. Mitte der 50er-Jahre richtete die tatkräftige Mitinhaberin der schwäbischen Einzelhandelskette Nanz, Lydia Drexler-Nanz, nach amerikanischem Vorbild einen der ersten Selbstbedienungssupermärkte in Deutschland ein: in Esslingen und bald darauf eine zweite Filiale in der Stuttgarter Schulstraße. Sie reiste 1954 mit dem Einzelhandelsverband nach Amerika und war von den Supermärkten mit Selbstbedienung auf mehreren tausend Quadratmetern fasziniert. Dort hatte in New York bereits 1930 der erste Supermarkt eröffnet, mit einem umfassenden Angebot, niedrigen Preisen und einem großen Parkplatz vor der Tür.
Die Kunden mussten das Rangieren mit dem Einkaufswagen erst lernen, aber sie gewöhnten sich nach anfänglicher Skepsis schnell daran – und auch an das Schlange stehen an den Kassen. Nach dem Aufheben der Preisbindung und durch die Eigenmarken der Konzerne wurden Lebensmittel immer billiger. Gaben die Menschen in Deutschland noch in den 50er-Jahren fast 50 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus, sind es 2020 gerade noch 10 Prozent. Die kleinen Tante-Emma-Läden verschwinden, in manchen Stadtteilen werden sie von Lebensmittelgeschäften türkischer Arbeitsmigranten abgelöst. In vielen Stadtteilen und Dörfern gibt es keine Lebensmittel mehr zu kaufen.
Das große Sortenangebot geht einher mit einem Verlust an Vielfalt. Viele Obst- und Gemüsesorten verschwinden, weil sie nicht normgerecht wachsen, zu zart sind, um einen längeren Transport zu überstehen und sich in den Supermarktregalen nicht lange genug halten. Das Prinzip Selbstbedienung, Transport und Haltbarkeit sowie die Markenbildung lassen einen neuen Industriezweig wachsen: die Verpackungsindustrie. 2017 produziert sie in Deutschland 19,2 Millionen Tonnen Verpackung. Entsprechend wächst auch der Müll.
Literatur
- König, Wolfgang, Geschichte der Konsumgesellschaft, Vierteljahreszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte Nr. 154, Stuttgart 2000.
Zitierhinweis: Felicitas Wehnert, Einkaufen – vom Kolonialwarenladen zum Supermarkt, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020