Die Industrialisierung der Lebensmittel – Beginn mit Dose und Brühwürfel
Von Felicitas Wehnert
Die Dose eines französischen Zuckerbäckers und die Erfindung von Brühwürfel, Babybrei und Erbswurst markieren den Beginn eines neuen Ess-Zeitalters. Gesteigerte Ernteerträge, neue Ideen zu Konservierung und Verpackung, bislang unbekannte Methoden, Lebensmittel in großen Mengen zu verarbeiten und dazu mit dem Aufkommen der Eisenbahn die Möglichkeit, sie auch über weite Strecken zu transportieren, verändern die Nahrungsmittelproduktion grundlegend.
Der Anfang der Industrialisierung der Lebensmittelherstellung führt ins 19. Jahrhundert zurück. Ein Auslöser ist das sprunghafte Anwachsen der Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert, nicht zuletzt durch die bessere Nahrungsversorgung seit der Einführung der Kartoffel. Beobachter der gesellschaftlichen Veränderung wie der britische Ökonom Thomas Malthus prophezeiten um 1800 eine zunehmende Verelendung, weil die Bevölkerung exponentiell wachse, die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear steige. Viele Menschen suchten Arbeit in den neuen Industriebetrieben der rasch wachsenden Städte. Große Mengen an billigen und haltbaren Lebensmitteln wurden gebraucht, um die dortigen Bewohner und die Soldaten auf dem Feld zu versorgen.
Parallel zur demografischen Entwicklung veränderte sich die Landwirtschaft vom traditionellen Ackerbau zur durchrationalisierten Nahrungsmittelproduktion: Der neue Kunstdünger vermehrte die Ernte, das Vieh und die Pflanzen wurden auf größere Erträge hin gezüchtet und der Einsatz von Maschinen steigerte die Produktivität der Landwirtschaft zusätzlich.
Doch das große Problem war zunächst die Entfernung. Fleisch und Getreide, Gemüse und Obst wurden auf dem Land erzeugt, aber in den bevölkerungsreichen Städten gebraucht – und zwar unabhängig von Jahres- und Erntezeiten. Wie die Lebensmittel haltbar machen, sodass sie auch einen längeren Transport überstehen?
Die Dose des Zuckerbäckers
Den Anstoß zur Lösung lieferte die Kriegswirtschaft. Der französische Kaiser Napoleon Bonaparte hatte bei seinen vielen Eroberungszügen bis hin zur Krim Probleme, die Soldaten zu versorgen. Die Regionen, durch die er zog, waren verwüstet und ausgeplündert. Er brauchte dringend Nachschub. Deshalb setzte er einen Preis von 12.000 Goldfrancs aus für denjenigen, der es schaffen würde Lebensmittel so haltbar zu machen, dass er seine Soldaten im Feldzug ernähren könnte.
Das Preisgeld spornte den Pariser Zuckerbäcker Francois Nicolas Appert an. Er experimentierte so lange, bis er ein eigentlich simples aber bis dahin unbekanntes Verfahren fand, die Lebensmittel vor den zersetzenden Pilzen und Bakterien zu schützen: Er erhitzte und sterilisierte Fleisch und Gemüse in Glasflaschen und verschloss diese luftdicht. 1804 gilt als das Geburtsjahr der ersten Konservendose. Damit ersetzte er das zerbrechliche Glas. Die Blechdosen waren für den Transport besser geeignet. Wenige Jahre später übernahm der Engländer Peter Durand die Methode und ließ sie sich 1810 patentieren. Der Zuckerbäcker Appert aber bekam das Preisgeld von Napoleon und gründete damit eine Manufaktur zur Herstellung eingedoster Lebensmittel. Zehn Jahre nach seinem Tod wurde 1851 auf der Weltausstellung in London eine seiner Blechdosen geöffnet. Selbst nach 38 Jahren soll der Inhalt noch genießbar gewesen sein.
Das Problem des Konservierens war nun gelöst. Aber an die eingedosten Nahrungsmittel ranzukommen blieb lange ein nervenaufreibendes Unterfangen, denn der erste Dosenöffner wurde erst 50 Jahre später erfunden. Bis dahin waren die Methoden, an den essbaren Inhalt zu gelangen, vielfältig und erfindungsreich. Die Soldaten griffen bevorzugt zum Bajonett, die Bürger zu Hammer und Meißel, um den Deckel aufzustemmen, und die Köchinnen zum Bügeleisen, um die Lötnaht zu schmelzen. Dies war nicht ungefährlich, denn anfangs wurden die Dosen mit Blei verlötet. Gelangte das Schwermetall ins Essen, führte das zur schleichenden Vergiftung. Daran, so wird gemutmaßt, scheiterte auch Mitte des 19. Jahrhunderts die Franklin-Expedition in die Arktis.
Die neuen Techniken wie das Sterilisieren und Konservieren in Dosen erlaubten nun, dass Fleisch und Gemüse haltbar gemacht und über weite Strecken transportiert werden konnte. Selbst der zarte Schwetzinger Spargel wurde ab 1875 von Max Bassermann in seiner neuen Konservenfabrik eingedost und mit der Eisenbahn verschickt.
Fleischextrakt und Babynahrung
Das Konservieren ist der erste Schritt. Die nächste Revolution ist das Konzentrieren und Verändern der Nahrungsmittel. Es ist wohl kein Zufall, dass hier neben zwei Kaufleuten auch ein Apotheker und ein Chemiker die Pioniere sind. Vier Namen stehen dafür: Liebig, Nestlé, Maggi und Knorr. Die ersten industriell hergestellten Lebensmittel sollten ursprünglich die Ernährungslage der Armen, Kranken und Säuglinge verbessern. Die neuen Techniken haben bis heute unser ganzes Essverhalten durcheinandergewirbelt.
Einer der einfallsreichsten und experimentierfreudigsten Wegbereiter neuer Lebensmitteltechnologien war der Darmstädter Farbenhändlersohn Justus Liebig. Er erlebte als Jugendlicher 1816 die Hungersnöte im „Jahr ohne Sommer“ nach dem verheerenden Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora. Deshalb galt später sein Interesse auch der Förderung der Landwirtschaft. Der renommierte Universitätsprofessor begründete die Agrikulturchemie und propagieret Mineral- und Phosphatdüngung. Bis heute bekannt geblieben ist er allerdings mit dem nach ihm benannten Fleischextrakt. Hervorgegangen ist dieses aus einem „Fleischinfusum“ für die an Cholera erkrankte Tochter eines Freundes. Später suchte er nach einem Fleischersatz für Arme und Kranke. Er experimentierte mit extrahierter Fleischbrühe, die zu einer Art Sirup eingedampft wurde. Der Nährwert des Extraktes blieb zweifelhaft. Aber als Würzmittel und Grundlage für Suppen wurde Liebigs Fleischextrakt schließlich ab 1862 in großem Stil hergestellt. Zusammen mit seinem amerikanischen Schüler Norton Horsford legte Justus Liebig auch die Grundlagen für ein Backpulver, das Jahrzehnte später August Oetker mit großem Erfolg den Hausfrauen zum Kuchenbacken empfahl.
Ein weiteres Experiment, Liebigs Suppe für Säuglinge, war Vorbild für den Apotheker Henri Néstle. Fünf seiner 13 Geschwister starben früh. Deshalb suchte er nach Möglichkeiten, die Ernährung für Säuglinge zu verbessern, vor allem, wenn die Mütter nicht selbst stillen konnten und kein Geld für eine Amme hatten. 1867 brachte Nestlé sein Kindermehl auf den Markt: ein Pulver aus Brot, Milch und Zucker, das mit Wasser zu einem nahrhaften Brei verrührt wurde. Für die Bedürftigen aber blieb das Pulver zu teuer. Es setzte sich vor allem beim gehobenen Bürgertum durch.
Maggi und Erbswurst
Sein Schweizer Landsmann Julius Maggi, der 1887 im badischen Singen eine Niederlassung gründete, wollte aus dem Mehl von Hülsenfrüchten eine eiweißreiche Suppe herstellen. Sie traf aber nicht den Geschmack seiner Zielgruppe, der Arbeiterschaft. Umso erfolgreicher wurde die Maggi Würze, die die eintönigen Mahlzeiten genießbarer machte. Mit einem guten Marketing, zu der auch Schriftsteller wie Frank Wedekind mit ihren Werbetexten beitrugen, wird Maggi schließlich zum Synonym für Würze schlechthin. Selbst das Würzkraut Liebstöckel wird im Volksmund zum Maggi-Kraut.
Ähnlich erfolgreich war der Heilbronner Kaufmann Carl Heinrich Knorr, der zunächst mit Reis, Sago und Dörrobst handelte. 1873 begannen er und seine beiden Söhne, gemahlene Hülsenfrüchte mit anderem getrockneten Gemüse und Gewürzen als Grundlage für Fertigsuppen zu mischen. Ein langjähriger Verkaufsschlager und Markenprodukt wird die Knorr Erbswurst aus Erbsenmehl, Speck und Gewürzen. Auch hier gab – wie bei der Dose Napoleons – die Kriegswirtschaft den Anstoß zur Entwicklung. Ursprünglich hatte ein Berliner Koch die Mischung entwickelt und das Patent an das preußische Militär verkauft. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 diente es zur Verpflegung der Truppe. Aber kurz darauf bereicherte die Erbswurst auch die privaten Haushalte. Ab 1889 propagierte Knorr sie als idealen Vorrat für die Küche. Sie hielt sich über 130 Jahre am Markt. Erst Ende 2018 wurde die Produktion eingestellt.
Aus Mangel wird Überfluss
Mit den neuen Möglichkeiten des Konservierens und Konzentrierens wurden im 19. Jahrhundert wichtige Voraussetzungen zur Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion gelegt. Der große Umschwung im Südwesten mit seiner kleinteiligen Landwirtschaft und den dörflichen und kleinstädtischen Regionen kam allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Landwirtschaft und die Lebensmittelerzeugung veränderten sich radikal. Agrarwissenschaft und Lebensmitteltechnologie bestimmen die Produktion, Verpackung und Marketing werden immer wichtiger, die kleinen Läden an der Ecke weichen Einkaufscentern auf der grünen Wiese, der frühere Mangel wird zum Überfluss, Lebensmittel verkommen zum billigen Wegwerfprodukt.
Literatur
- Hippel, Wolfgang, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800 bis 1918, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte Bd. 3, hg. von Hansmartin Scharzmaier, Stuttgart 1992, S. 477-784.
- Technoseum, Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim (Hg.), Unser täglich Brot: Die Industrialisierung der Ernährung, Katalog zur Großen Landesausstellung 2011 Baden-Württemberg, Mannheim 2011.
Zitierhinweis: Felicitas Wehnert, Die Industrialisierung der Lebensmittel – Beginn mit Dose und Brühwürfel, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020