Aufarbeitung - eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff

von Gudrun Silberzahn-Jandt

Cover der Fallstudie zum Thema „Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Vorlage: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Cover der Fallstudie zum Thema „Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. [Quelle: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs] Zum Vergrößern bitte klicken.

Das Wort „Aufarbeitung“ wird häufig eingesetzt, aber kaum definiert. Es wird oft mit moralischem Impetus verwendet und als Forderung formuliert, „man müsse doch die Aufarbeitung voranbringen“ und es sollen unterschiedliche Personenkreise angesprochen werden. Zudem wird mit der Verwendung dieses Begriffs die Idee verfolgt, Historisches, das noch erinnert werden kann und über das Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten können, für die Gegenwart und Zukunft eindeutig erklären und Linien zwischen Gut und Böse, moralisch richtig und falsch, Recht und Unrecht ziehen zu können.

Um sich der Wortbedeutung zu nähern, wird nun zunächst seine Entwicklung mit sprachwissenschaftlichem und -geschichtlichem Blick verfolgt und daran anschließend die Einordnung näher betrachtet.

Der Begriff „Aufarbeitung“ ist ein noch eher junges Wort. So findet sich im ersten, 1854 erschienenen Band des „Grimmschen Wörterbuchs“, mit dem Jacob und Wilhelm Grimm die Herkunft und den Gebrauch aller deutschen Worte erfassen wollten, nur das Verb „aufarbeiten“ und somit eine Tätigkeit. In der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Verwendung werden als Bedeutungen genannt: „fertig arbeiten“, „aufbrauchen“ (wie beispielsweise von Vorräten). Dem folgt als weitere Bedeutungsebene „renovare“, „alte kleider, eingesessene Sessel aufarbeiten“. Im Weiteren verweist das Lexikon auf den Wortgehalt für „mühsames aufmachen, öffnen“ und als letztes erwähnt es „sich aufarbeiten, sich aufraffen, angestrengt in die höhe bringen.“[1]

Die Wortbedeutung ergibt sich somit direkt aus dem Wortteil und Verb „arbeiten“ und bezieht sich hier vor allem auf handwerkliche und körperliche Arbeit oder den menschlichen Körper, den Leib[2] und das Individuum an sich.

Seit dieser ersten Erfassung des Verbs in einem Wörterbuch veränderte sich die Bedeutung von „aufarbeiten“, es bildete sich das Substantiv „Aufarbeitung“ und fand Eingang sowohl in Wörterbüchern als auch in den allgemeinen Wortschatz. Im aktualisierten und von 1965 bis 2018 fortgeführten Grimmschen Lexikon findet sich der Begriff „Aufarbeitung“. Neben den genannten Wortbedeutungen wird auch auf die Aufarbeitung eines Produkts zu einem hochwertigeren verwiesen (zum Beispiel im Sinne von „einen Stuhl aufarbeiten“) und auf die „aufarbeitung der für viele unbewältigt gebliebenen politischen vergangenheit.“[3] Ohne es eindeutig zu benennen, geht es hier – im zeithistorischen Kontext eindeutig – um die Bewertung der NS-Geschichte und die Einbindung in eine politisch als korrekt zu definierende Form von Erinnerungs- und Gedenkkultur.

Im aktuellen „Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache“ findet sich der Begriff ebenfalls. Hier heißt es an vierter Stelle: „gründliche, systematische Untersuchung, Erforschung (von etw. Vergangenem), um Klarheit darüber zu gewinnen; das geistige und seelische Verarbeiten eines zurückliegenden Geschehens; das Aufgearbeitet werden (eines vergangenen Geschehens)“[4].

„Aufarbeitung“ als Begriff, bei dem es um das Aufdecken von Unrecht, das Wissen um Opfer und das Benennen von Täterinnen und Täter sowie von Strukturen geht, ist, so zeigt der Blick in die Lexika, relativ neu: Er fand erst in den Nachkriegsjahren im Zusammenhang mit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch – und damit auch in die Wörterbücher.

Die Vokabel „Aufarbeitung“ ist eng verbunden mit dem Bestreben von Überlebenden des Holocausts und der Besatzungsmächte, die NS-Diktatur juristisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich intensiv zu untersuchen, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und Strukturen zu entlarven.

Die am häufigsten zitierte Person, wenn es um „Aufarbeitung“ und die widersprüchlichen Vorstellungen dazu geht, ist Theodor W. Adorno. 1959 hielt er einen Vortrag mit dem Titel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“[5] und kritisierte darin Aufarbeitung als „verdächtige[n]“[6] Begriff. Er erklärte: „Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunterziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.“[7] Mahnend und sorgenvoll nennt Adorno hier die Erinnerung als bedeutendes Element der Aufarbeitung und formuliert den Auftrag, dafür zu sorgen, dass ein Diskurs stattfindet. Gleichwohl hegt er Bedenken, dass im Namen dieser Begrifflichkeit, ähnlich seinen frühen Bedeutungsebenen, das Ende der Auseinandersetzung eingeläutet werde.

Der Begriff wird inzwischen für verschiedenste, aber ausschließlich zeitgeschichtliche Themen verwendet. Kombiniert man bei der Internetrecherche den Begriff „Aufarbeitung“ mit anderen wie dem der „Heimerziehung“ oder „sexualisierter Gewalt“, wird deutlich, dass seine Konjunktur gesellschaftlich relevanten aufgedeckten Missständen folgt. Die Verwendung des Begriffs „Aufarbeitung“ nimmt, so lässt sich konstatieren, immer dann zu, wenn ein neues Thema, das Opfer- und Täterseite identifizieren lässt, an Aktualität gewinnt.

So wurde der Begriff in den 80er- und 90er-Jahren bei der Diskussion um die Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus benutzt. Bei der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ steht das Wort zugleich im Titel und es wird als Aufgabe formuliert „die umfassende Aufarbeitung der Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur in SBZ und DDR zu befördern, den Prozess der Deutschen Einheit zu begleiten und an der Aufarbeitung von Diktaturen im internationalen Maßstab mitzuwirken.“[8] Bei weiteren Stiftungen und Kommissionen, denen es um das Aufdecken von (sexualisierter) Gewalt, Machtmissbrauch und Unrecht geht, wird der Begriff „Aufarbeitung“ prominent bereits im Titel verwendet wie bei der „Aufarbeitungskommission“[9].

Der Begriff der Aufarbeitung bleibt auch in neueren Texten diffus und vage, wird meist nicht erklärt, definiert oder mit Inhalten und Bedeutung gefüllt. So wird betont, dass „Aufarbeitung“ nicht allein ein Betrachten der Vergangenheit, sondern „deren Fortwirkungen in die Gegenwart“[10] bedeute.[11] Der Begriff ist angewiesen auf eine Gegenstandsnennung, die oft zudem nicht nur den Inhalt anzeigt, sondern auch eine erste Einordnung vornimmt. In dem Begriff steckt die Annahme, dass etwas verdeckt sei oder sogar bewusst verdeckt werde, das aus einem gesellschaftlichen Interesse heraus offengelegt werden müsse. So wird in einem Aufsatz zum Thema „Aufarbeitung der Heimerziehung“ erklärt: bei Aufarbeitung „wird es um die Notwendigkeit gehen, Tabuisiertes oder Verschwiegenes aufzudecken, um Menschen, die früher Unrecht, Demütigungen und Gewalt erleben mussten und die häufig außerdem noch selbst dafür verantwortlich gemacht wurden, darin zu unterstützen, sich zu rehabilitieren. Außerdem geht es dabei um die Analyse von Ursachen, die zu Machtmissbrauch in Institutionen führen können, in der Absicht, Möglichkeiten der Prävention für die heutige Praxis daraus abzuleiten.“[12]

Der Begriff der „Aufarbeitung“ benötigt stets eine Einordnung, um welches historische Thema, welche Personen, Opfer- und Tätergruppe es geht. In der Alltagssprache steht der Begriff jedoch, weil Konzepte und Standards fehlen, zuweilen als Synonym für das wissenschaftliche oder auch juristische Erforschen eines Themas, das eines moralischen oder rechtlichen Urteils bedarf und mit dem Vorliegen eines Berichts oder einer Studie als abgeschlossen gilt. Daraus folgt: der Begriff braucht eine Klärung seines Konzepts. Dabei könnten folgende Fragen hilfreich sein: An wen wird der Prozess der Aufarbeitung adressiert? Wer ist verantwortlich und zeigt sich solidarisch? Was ist das Ziel? Geht es um Versöhnung, Entschuldigung, das Lernen aus der Vergangenheit und sind dies angemessene Ziele? Ist „Aufarbeitung“ überhaupt ein Prozess, der abgeschlossen werden kann oder verändert sie sich vielmehr fortgesetzt?

Festzustellen ist: Die alltagssprachlichen Bedeutungen schwingen trotz aller neuen Auseinandersetzungen mit dem Begriff und Thema weiterhin mit. Damit besteht die Gefahr, dass „Aufarbeitung“ – wie von Adorno kritisiert – mit der Idee verknüpft bleibt, das Thema nach einer Zeit der Befassung abschließen zu können und so keine gesamtgesellschaftliche Wirkung bemerkbar ist.

Anmerkungen

[1] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 1, Sp 617, URL: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#1 (aufgerufen am 29.01.2023).

[2] ALLOA U. A. 2019; BRINKMANN/TÜRSTIG/WEBER-SPANKNEBEL 2019.

[3] „Aufarbeitung“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung (1965–2018), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, URL: https://www.dwds.de/wb/dwb2/aufarbeitung (aufgerufen am 29.01.2023).

[4] „Aufarbeitung“, in: DWDS, Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute, URL: https://www.dwds.de/wb/Aufarbeitung (aufgerufen am 29.01.2023).

[5] ADORNO 1963.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Aufgaben der Bundesstiftung Aufarbeitung, URL: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/stiftung (aufgerufen am 29.01.2023).

[9] Website der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, URL: https://www.aufarbeitungskommission.de/ (aufgerufen am 29.01.2023).

[10] BECKER 2013, S. 101.

[11] BRECHTKEN 2021a.

[12] KUHLMANN 2014, S. 37.

Literatur

  • Adorno, Theodor W., 1963: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main, S. 125–146.
  • Alloa, Emmanuel, Leiblichkeit, 2. Auflage, Tübingen 2019.
  • Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
  • Becker, Manuel, Geschichtspolitik in der "Berliner Republik". Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013.
  • Brechtken, Magnus, Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021.
  • Brechtken, Magnus, Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10772). Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Göttingen 2021, S. 9–19.
  • Brinkmann, Malte/Türstig, Johannes/Weber-Spanknebel, Martin, Leib - Leiblichkeit - Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes, Wiesbaden 2019.
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  • Crestani, Valentina, Wortbildung und Wirtschaftssprachen. Vergleich deutscher und italienischer Texte, Bern 2010.
  • Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N., Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015.
  • Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 2012.
  • Freud, Sigmund, Studienausgabe. (Conditio humana), Frankfurt am Main 1975.
  • Hennel, Sebastian/Schulte, Jan Erik, Das Erbe von Fritz Bauer. Öffentliche Wahrnehmung justizieller "Vergangenheitsbewältigung", Baden-Baden 2022.
  • Jesse, Eckhard, Vergangenheitsbewältigung, in: Handwörterbuch zur deutschen Einheit, hg. von Werner Weidenfeld, Bonn 1991, S. 716.
  • Jesse, Eckhard, Geschichtspolitik und Vergangenheitsbewältigung, in: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Uwe Andersen, Wiesbaden 2020, S. 341–346.
  • Jesse, Eckhard/Löw, Konrad, Vergangenheitsbewältigung, Berlin 1997.
  • Knigge, Volkhard, Jenseits der Erinnerung - Verbrechensgeschichte begreifen, Bonn 2022.
  • König, Helmut, Von der Dikatatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. von Helmut König, Opladen 1998, S. 317–393.
  • König, Helmut/Kohlstruck, Michael/Wöll, Andreas, Einleitung, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. von Helmut König, Opladen 1998, S. 7–14.
  • Kuhlmann, Carola, Aufarbeitung der Heimerziehungsgeschichte, in: Kritisches Glossar - Hilfen zur Erziehung, hg.von Diana Düring, Frankfurt am Main 2014, S. 37–45.
  • Mathieu, Jon, Zeit und Zeitperzeption. Historische Beiträge zur interdisziplinären Debatte, Göttingen 2020.
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  • Reichel, Peter, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.
  • Reifenberger, Jürgen, Vergangenheit. Bewältigung. Vergangenheitsbewältigung. Zur Geschichte und Theorie eines scheinbar erforschten Themas, Bielefeld 2019.
  • Vohland, Katrin, Citizen Science in Europe, in: The Science of Citizen Science, hg. von Katrin Vohland, 2021, S. 35–53.
  • Werle, Gerhard/Vormbaum, Moritz, Transitional justice. Vergangenheitsbewältigung durch Recht, Berlin 2018.

 

Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, Aufarbeitung - eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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