Das Gleichstellungsedikt von 1809
von Volker Rödel
Das Edikt vom 13. Januar 1809[1], das den badischen Juden die Rechtsstellung einer Religionsgemeinschaft zusprach, ist Teil derjenigen Maßnahmen, mit denen sich das noch junge Großherzogtum als souveräner Staat konstituierte. Es erging zweieinhalb Jahre nach der Abdankung des Kaisers Franz II. in Wien und der – eher widerwillig – erfolgten Annahme der Würde eines Großherzogs im August 1806[2] durch den damals schon 77-jährigen Karl Friedrich von Baden. Nach dem Erlöschen des Alten Reiches galt es nun, den neu entstandenen, außenpolitisch vom Kaiserreich Frankreich abhängigen Staat im Innern auszugestalten und die ihm seit 1803 dank seiner beträchtlichen Gebietserwerbungen zugewachsenen neuen Bevölkerungsteile, darunter auch zahlreiche Juden, zu integrieren.
Verdankt wird diese Ausgestaltung zu einem möglichst einheitlichen Untertanenverband, Verwaltungs- und Rechtsgebiet dem seit 1774 in verschiedenen Funktionen am Karlsruher Hof tätigen Juristen Johann Niklas Friedrich Brauer[3], der nun vollends zum Reformer, Organisator und Gesetzgeber Badens wurde. Schon im September 1806 hatte er dem Großherzog einen Entwurf einer „Konstitution“ für den badischen Staat eingereicht, getragen von dem Gedanken, es seien nach und nach „Grundgesetze“ zu schaffen, die das Verhältnis von Untertanen und Krone auf Dauer rechtlich zu regeln vermögen; beim Abschluss dieses Prozesses sei die „Konstitution“ vollendet.[4] Brauers politische Vorstellungswelt wurzelte noch im aufgeklärten, auf eine fähige Bürokratie gestützten Absolutismus des Alten Reiches: Die Gesetzgebung hatte von der Staatsspitze auszugehen, jedoch waren die Regierten, ohne dass ständische und soziale Unterschiede deswegen gleich einzuebnen seien, vor dem Gesetz gleich. Unmittelbar anschaulich wird Brauers Vorstellung von der Errichtung des Staats dank einer aus der Rückschau 1811 getanen Äußerung: Einzelne Konstitutionsedikte sollten den Grundriss und weitere „organische Edikte“ den Aufriss zeichnen und schließlich „organische Ministerialausschreibungen“ den Bau ausführen.[5]
In seiner Eigenschaft als Leiter des Polizeidepartements – eigentlich des Innenressorts – innerhalb des noch bestehenden Gesamt-Staatsministeriums und zugleich des Referenten für Gesetzgebung im Justizdepartement, erarbeitete Brauer, der schon seit 1790 die Würde eines Geheimen Rats bekleidete, zwischen April 1807 und März 1808 die Entwürfe für neun Konstitutionsedikte[6], von denen sieben Rechtskraft erlangten. Das erste Edikt, „die Kirchliche Staatsverfassung des Großherzogthums Baden betreffend“, regelte umfassend das Staatskirchenrecht.
Jeder Mensch gleich welchen Glaubens sollte das Staatsbürgerrecht genießen, das Ortsbürgerrecht aber nur, wenn er einer örtlich organisierten und staatlich anerkannten kirchlichen Gemeinschaft angehöre. Dieses kirchliche Staatsbürgerrecht fand Anwendung auf die beiden evangelischen und die katholische Konfession, hingegen war die jüdische Religion nur „konstitutionsmäßig geduldet“; auch sollten nur Mitgliedern der christlichen Kirchen Regierungs- und Verwaltungsaufgaben anvertraut werden. Die anerkannten Religionsgemeinschaften waren untereinander jedoch gleichberechtigt; auch konnten sie die Errichtung einer an den Grundsätzen ihrer Religion ausgerichteten Leitungsbehörde verlangen. Ebenso wie die Pfarrer waren die Rabbiner künftig zugleich Staatsbeamte, insoweit sie Amtshandlungen von öffentlich-rechtlicher Relevanz vornahmen. Das zweite Konstitutionsedikt hatte die Verfassung der Gemeinden, Körperschaften und Staatsanstalten zum Gegenstand, das dritte und vierte die Rechtsverhältnisse der Standes- beziehungsweise Grundherrschaften, das fünfte galt der Lehenverfassung des Großherzogtums.
Das sechste, im Juni 1808 ergangene Konstitutionsedikt regelte unter dem Titel einer „Grundverfassung der verschiedenen Stände“ die Rechte der Untertanen. Die Juden galten künftig als „erbfreie Staatsbürger“ und „genießen alle … allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte, welche nach dem ersten Constitutions-Edict über die Kirchenverfassung nicht ausgenommen sind.“ Und weiter heißt es da: „Solange sie nicht eine zur gleichen Nahrungsart und Arbeitsfähigkeit mit den christlichen Einwohnern hinreichende Bildung im allgemeinen angenommen haben“, waren sie nur Schutzbürger; das Ortsbürgerrecht konnte einzelnen von ihnen vom Großherzog allenfalls gnadenhalber verliehen werden. Grundsätzlich hatten sie nach gleichem Recht wie die Christen zu leben, wobei es jedoch Vergünstigungen aufgrund des mosaischen Gesetzes, jedoch nicht etwa der Auslegung des Talmuds, geben konnte. Unverkennbar ist die Absicht, durch Rücksichtnahme auf Gruppenbedürfnisse zu einer Stabilität der öffentlichen Rechtsverhältnisse zu gelangen.
Schon das siebte Konstitutionsedikt, das eine Ordnung für die Beamten schuf, hatte nur wenige Monate Gültigkeit. Brauers Entwürfe für das achte und neunte Edikt über die innere Verwaltung beziehungsweise darüber, wie die ganze Staatsverfassung – nur durch Ministerium und Oberhofgericht, nicht durch ein Repräsentativorgang – zu garantieren sei, scheiterten; sein Verfassungsgebäude blieb ohne Schlussstein.
Dieses Scheitern war nicht nur Brauers Vielen als antiquiert geltenden Vorstellungen geschuldet, sondern vor allem den realen politischen Verhältnissen. Gewiss hatten auch Brauers Bemühungen darauf gezielt, die Erwartungen der französischen Politik im Hinblick auf die Rolle Badens zu erfüllen; sie hatten aber nicht rasch genug die erforderliche Konsolidierung des noch ungefestigten neuen Staats herbeiführen können, zu schweigen von dem vor allem aufgrund der militärischen Lasten drohenden Staatsbankrott. Napoleon begann direkt in die badischen Belange einzugreifen und forderte im Januar 1808 den Großherzog zur Entbindung seines Sohnes Ludwig vom Kommando über die badischen Truppen auf. Ein neuer französischer Gesandter in Karlsruhe fädelte einen Wechsel in der Leitung der badischen Politik ein, mit der Karl Friedrich Ende Juni 1808 seinen Gesandten in Paris, Emmerich Joseph Freiherr von Dalberg, betraute, indem er ihn zum provisorischen Finanzminister und Kabinettsdirektor ernannte.[7] Dalberg erwirkte eine Neuorganisation der obersten Staatsbehörden, und zwar nach dem Vorbild Bayerns und des gerade erst geschaffenen und Jérôme Napoleon anvertrauten Königreichs Westphalen, mit dem Ziel, „die Staatsverwaltung auf einfache und pragmatische Grundsätze, welche dem Geist der Zeit entsprechen, zurückzuführen“.[8] Das Geheimratskollegium wurde aufgelöst und aus den bestehenden Departements wurden Fachministerien gebildet. Brauer rückte aber nicht etwa zum Minister auf, sondern wurde nur Ministerialdirektor im Justizministerium, zu dessen Geschäftsbereich nun aber auch die ihn besonders interessierenden Religionssachen gehörten. Dank dieser Zurückstufung fand er mehr Zeit für die Überarbeitung des Code Civil, dessen Einführung als Landrecht für das Großherzogtum Dalberg nach seinem Amtsantritt sofort ankündigte.[9]
Es versteht sich, dass Brauer sich bei der Erarbeitung des Gleichstellungsedikts an der Rechtslage in Frankreich orientieren musste. Dort hatte freilich im Zuge der Revolution die Nationalversammlung schon am 27. September 1791 in einer alsbald rechtskräftig gewordenen Erklärung die Juden vom für sie zuvor geltenden Ausnahmerecht befreit und mit der Ablegung des Bürgereids als de facto emanzipiert erklärt.[10] Im Gegensatz zu dem weiten Widerhall, den diese erste gesetzliche Festschreibung der Judenemanzipation auslöste, reagierten die Juden der ehemals zum Alten Reich gehörigen Gebiete des Elsass und Lothringens mit Skepsis; denn sie hatten zum Beispiel einer Reduktion ihrer Schuldforderungen um zwei Drittel zuzustimmen. Damit nicht genug: Die 1791 schlagartig erfolgte Emanzipation wurde am 17. März 1808 durch zwei Dekrete Napoleons de facto wieder aufgehoben, indem erneut ein Sonderrecht geschaffen wurde, insbesondere durch das später so genannte „Décret infâme“, das die Kreditgeschäfte der Juden unter staatliche Aufsicht stellte, ihre Betätigung im Handel von einer erst nach Prüfung ihrer sittlichen Haltung zu erlangenden Erlaubnis abhängig machte und die Stellung eines Ersatzmanns im Wehrdienst abschaffte.[11] Diese Diskriminierung konnte auf die badischen Verhältnisse nicht ohne Einfluss bleiben, zumal den Juden die Ansiedlung im nordöstlichen Frankreich künftig verwehrt war. Wenn auch diese Reglung nur zehn Jahre gelten und die Gleichstellung nicht grundsätzlich in Frage stellen sollte, bedeutete sie doch ein Abgehen von dem revolutionären Gleichheitsprinzip.[12] Der besseren Einbindung der französischen Juden in den Staat diente die Schaffung einer hierarchisch aufgebauten Konsistorialverfassung nach dem Vorbild der christlichen Religionsgemeinschaften; schließlich schrieb ein weiteres Gesetz allen Juden die Annahme fester Familiennamen vor.[13]
Mit dem Décret infâme hatte Napoleon eine Maßnahme konterkariert, die nur kurz zuvor das Prestige Frankreichs und seine hegemoniale Stellung im rheinbündischen Deutschland zu festigen bestimmt war: die Schaffung des Königreichs Westphalen, einem völlig nach französischem Muster aufgebauten Regierungs- und Verwaltungssystem. Dieser Modellstaat funktionierte schon bald nach der Thronbesteigung König Jérômes am 10. Dezember 1807.[14] Ende Januar 1808 führte ein Dekret schlagartig die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden ein.[15] Auch hier gab es nun eine Konsistorialverfassung; deren Organisation sowie die Pflichten und Rechte des Konsistoriums regelte ein eigens dafür erlassenes Dekret vom 31. März 1808. Vorausgegangen war eine Versammlung von Deputierten – nach dem französischen Beispiel des Grand Sanhédrin – im Februar, deren Vorschläge nun umgesetzt wurden. Das Konsistorium nahm im Dezember in der Hauptstadt Kassel seine Arbeit auf, sah sich aber drei schweren Aufgaben gegenüber: den bestehenden Gesetzen bei den Amtsträgern Geltung zu verschaffen, die neue Verwaltungs- und Finanzstruktur erfolgreich zu handhaben sowie den Kultus und das Bildungswesen zu reformieren. So engagiert das Konsistorium in der Folge sich auch der Reformen annahm, der Widerstand vieler jüdischer Gemeinden dagegen lähmte es schließlich derart, dass es sich 1813, also noch vor dem politischen Ende des Königreichs, selbst auflöste.[16] Ohnehin wurde hier wie in den Großherzogtümern Berg und Frankfurt, in denen es ähnliche Regelungen gab, die Emanzipation der Juden nach dem Ende des Kaiserreichs Frankreich wieder abgeschafft.
Als sich Brauer 1808 in Karlsruhe an die Ausarbeitung des Gleichstellungsedikts machte, konnte er über diese negative historische Erfahrung noch nicht verfügen; es hätte aber ohnehin seiner traditionalistisch-evolutionären Vorgehensweise widersprochen, die im Großherzogtum leben- den Juden abrupt neuen Regeln unterwerfen zu wollen.
Schon zehn Jahre zuvor war er bei der Behandlung der Frage der Teilnahme jüdischer Kinder am christlichen Schulunterricht sehr behutsam vorgegangen und hatte die Zustimmung der Eltern in Betracht gezogen.[17] Auch war ihm die Umsetzung des Artikels XIX des sechsten Konstitutionsedikts, der die Juden zu „erbfreien Staatsbürgern“ erklärte, aus seiner christlich-aufgeklärten und in Glaubensfragen toleranten Gesinnung heraus ein inneres Anliegen.
Ungeachtet des gerade geschehenen Machtwechsels erklärte er am 12. Juli 1808 im Polizeidepartement bei der Vorlage seines Entwurfs für das Dekret Bestimmungen über die kirchlichen und bürgerlichen Rechte der Juden als dringendes, aus dem ersten und sechsten Konstitutionsedikt folgendes Erfordernis. Auch habe er sich die französischen und westphälischen Regelungen zum Vorbild genommen. Nach der Billigung des Entwurfs im Geheimen Rat legte ihn das nunmehrige Innenministerium am 2. August dem Großherzog zur Billigung vor. Wegen der Einführung des Code Napoléon verzögerte sich die Weiterbehandlung und es entstand eine Neufassung; jedoch genehmigte Karl Friedrich den ihm am 13. Januar 1809 vorgelegten ursprünglichen Entwurf am 1. Februar.
Das Edikt[18] ist nicht betitelt, wurde aber bei der Bekanntgabe der Konstituierung des Oberrats am 31. Mai nachträglich bezeichnet als „… über die kirchlichen und bürgerlichen Verhältnisse der Staatsbürger mosaischen Bekenntnißes“.[19] Es stellt in seiner Einleitung unter Bezug auf das sechste Konstitutionsedikt fest, dass die Rechtsgleichheit von Juden und Christen erst hergestellt sein wird, wenn erstere letzteren in politischer und sittlicher Bildung gleichzukommen bemüht seien. Wie ein Motto steht diese Aussage für die erzieherische, schonend und zugleich ermahnend-gängelnd formulierte Absicht der 43 nachfolgenden Paragraphen. Schon der erste ist mit „kirchliche Verfassung“ überschrieben, was die Angleichung an die Organisation der christlichen Kirchen und damit zugleich die Abkehr von eigenwüchsigen Strukturen sinnfällig macht. Sodann wird die Errichtung von Gemeinden nach dem Ortsprinzip verfügt und diesen die Unterhaltung oder Anlage von Friedhöfen nach Maßgabe der Polizeigesetze gestattet. Mehrere Bestimmungen gelten den Finanzen, auch in Abgrenzung von denen der Kirchen und des Staats. Das Anliegen der Förderung von Bildung und Berufswahl nimmt sieben Paragraphen in Anspruch. Solange es noch keine eigenen jüdischen Schulen mit geeigneten Lehrern gibt, besteht – bei Ausnahme des Religionsunterrichts – die Pflicht des Besuchs der christlichen Schulen; die Judenkinder sollen zu „gleicher Reinlichkeit, Ordnung und Anständigkeit wie die Christen kinder“ angehalten werden, aber weder von diesen noch vom Lehrer „eine geringschätzende oder gar beleidigende Behandlung“ erfahren. Ein eigener Religionsunterricht ist einzurichten und es sollen allgemeine Maßgaben der Sittlichkeit und Untertanenpflicht, „Unterwürfigkeit unter die Staatsgewalt“ eingeschlossen, vermittelt werden. Hinsichtlich höherer Schulbildung und Studium gab es keine Einschränkung; jedoch sollte auf jeden Fall ein Beruf ergriffen werden, und Zünfte oder Lehrherren sollten dies nicht hindern. Nach Vollendung des 21. Lebensjahres war der Erwerb des Bürgerrechts denen möglich, die einen Beruf ausübten. Darunter fielen beim Handel aber nur der Kaufmanns- und der freie Handel, nicht aber der Nothandel, „womit sich seither vorzüglich die jüdische Nation, aus Mangel der Gelegenheit zu einem freyern Gewerbsfleisse häufig abgegeben hat, und womit sie nur ein unhinlängliches Auskommen gewöhnlich sich erwerben konnte, das nachmals sie zu unerlaubter Gewinnsvermehrung geneigt machen mußte“. Ein eigener Paragraph definiert Nothandel als „Mäklerei, Viehmäklerei sowie Hausier-, Trödel- und Leyhhandel“; ein weiterer gestattet die Ausübung des Nothandels, und zwar „von allem Verdachte des Wuchers rein“, erst ab dem 30. Lebensjahr, anders ist kein Schutzbür- gerrecht zu erlangen. Weiter gibt es Bestimmungen zur Heiratserlaubnis, zur Annahme von Zunamen, zum Testierrecht und zur Gleichwertigkeit von Zeugenschaft und Eidleistung mit der von Christen; die Regelung der Abgaben blieb für später vorbehalten, eine eigene Gerichtsbarkeit ist untersagt. Zur Organisation der jüdischen Gemeinschaft wurde eine dreistufige Hierarchie verfügt: Über den Ortssynagogen, geleitet von je einem Rabbiner und Ältesten als „kirchlichen Beamten“, sollte es (drei) Provinzsynagogen mit je einem Landrabbiner und zwei Landältesten geben; über allem stand der Oberrat, bestehend aus einem Obervorsteher, zwei der drei Landrabbiner, zwei eigens angestellten Oberräten, drei zugeordneten Oberräten der Provinzsynagogen sowie einem Oberratsschreiber, alle vom Großherzog unter Mitwirkung des Oberrats zu ernennen.
Während dieser nur einmal im Jahr zusammenzutreten hatte, sollten die laufenden Geschäfte von einem Ausschuss besorgt werden, gebildet vom Obervorsteher, dem Karlsruher Landrabbiner, den zwei ständigen Oberräten und dem Schreiber. Der Geschäftsbereich dieser Gremien wurde definiert;[20] Verfügungen, die etwas Neues einführen würden, unterlagen der landesherrlichen Genehmigung.
Schon im April ergingen zwei Ministerialverfügungen als Ausführungsbestimmungen, mit denen die Zuerkennung von Bestätigungsurkunden für die Ausübung des Nothandels geregelt[21] und die Annahme der Nachnamen festgelegt wurden.[22] Im Mai 1809 erfolgte die Bekanntgabe der durch den Großherzog erfolgte Besetzung des Oberrats;[23] Obervorsteher wurde der Hoffaktor Elkan Reutlinger, Schreiber Naphtali Epstein aus Bruchsal, der bis zum Abschluss seines Studiums in Heidelberg in seiner Funktion zu vertreten war. Das Edikt trat zum 1. Juli in Kraft. Zuvor schon hatte eine Versammlung von Vertretern der Ortssynagogen einen Fonds beschlossen, um finanzielle Hilfen für jüdische Jugendliche zum Erlernen und Ergreifen ihnen bisher vorenthaltener Berufe bereitzustellen. Der von den Juden gewiss als Zeichen „der wohlwollenden und humanen Gesinnung des verehrten Großherzogs“[24] beifällig aufgenommenen Gleichstellung standen auch Anforderungen gegenüber: Am 25. März verfügte Karl Friedrich zur Anwendung des Konskriptionsedikts vom Vorjahr auf Juden, diese seien der Konskription ebenfalls unterworfen; wegen ihrer „noch bestehenden Unbrauchbarkeit zum eigentlichen Militär-Dienste“ müsse die Judenschaft jedoch 400 Gulden für die Besoldung von Einstehern entrichten.[25]
Obwohl das Edikt im In- und Ausland beträchtliche Anerkennung genoss, bereitete seine Umsetzung mancherlei Schwierigkeiten. Dafür gab es äußere Gründe; denn nach der Rückkehr Dalbergs auf seinen Gesandtenposten in Paris im März[26] und dem Rücktritt des Kabinettsministers von Gemmingen im Mai 1809 entstand bis zur förmlichen Ernennung des wieder aktivierten und seit Mai inoffiziell tätigen Freiherrn von Reitzenstein zum Kabinettsminister am 31. Oktober ein Machtvakuum. Am 26. November bereits unterzeichneten der Großherzog und sein inzwischen zum Mitregenten bestimmter Enkel Karl ein Edikt,[27] das die Regierung und Verwaltung Badens nach französischem Vorbild in zentralistischem Geist von Grund auf umgestaltete, dabei zwar auf die Konstitutionsedikte Brauers Bezug nahm, aber eine völlig neue staatliche Organisation schuf. Dieses „Novemberedikt“ brachte einen Rückschritt, indem es bei der Bürgerannahme der Juden zwischen erst- und nachgeborenen Söhnen unterschied. Das neue Kabinett Reitzenstein, aber auch die Karlsruher Provinzregierung wandten sich gegen das Gleichstellungsedikt mit Argumenten wie die teure Organisation führe zu weiterer Verarmung der Juden, schaffe aber auch einen „Staat im Staate“; die den Juden eingeräumte freie Berufswahl schädige die Christen. Die Umsetzung eines im Februar 1810 gefassten Beschlusses zur Modifikation wurde erst im September 1811 betrieben, dabei aber vom Referenten Müßig die Gleichstellung gutgeheißen. Brauer, dessen Einfluss nach dem Ausscheiden Reitzensteins aus der Regierung Ende 1810 wieder gewachsen war, plädierte erfolgreich für die Beibehaltung; der Änderungsentwurf wurde daraufhin nicht in Kraft gesetzt. Vielmehr erließ der seit dem Tod Karl Friedrichs am 10. Juni 1811 allein regierende Großherzog Karl am 4. Mai 1812 zwei Edikte zur Verfassung des Oberrats und zur Bürgerannahme,[28] wodurch der durch das Novemberedikt von 1809 bewirkte Rückschritt wieder behoben wurde.
Mit dem Edikt vom 13. Januar 1809, seiner Verteidigung gegen Anfeindungen und Änderungswünsche und seiner Beibehaltung über den Zusammenbruch des napoleonischen Systems hinaus als einer reformerischen Errungenschaft von bleibendem Wert hatte das Großherzogtum Baden der Emanzipation seiner Juden den Boden bereitet und Maßstäbe für ganz Mitteleuropa gesetzt. Man verkenne nicht, dass auch dieses Edikt Ausfluss der monarchischen Gewalt eines aufgeklärt-absolutistisch regierenden Fürsten war.
Karl Friedrich verkörperte ja geradezu den patriarchalischen Obrigkeitsstaat, und zur Partizipation gewährenden Verfassung von 1818 war es noch ein weiter Weg. Von Beteiligung der Juden an der Gestaltung ihrer Verhältnisse konnte anders als im Königreich Westphalen noch keine Rede sein.
Während die dortigen Juden den ihnen durch die Radikalität der revolutionären Konzeption gebotenen Raum nicht auszufüllen vermochten, war es in Baden vor allem Brauers aus einem konservativen Ansatz herrührenden, auf Billigkeit und Ausgleich bedachten und daher auch zu bedächtigen Vorgehensweise zu danken, dass eine so bestandskräftige und zukunftsträchtige rechtliche Regelung zustande kam. Er erreichte dies, indem er sich in einer Phase höchster Gefährdung der badischen Politik und staatlichen Existenz zwar den Erfordernissen der französischen Politik beugte, indem er ihrem Beispiel folgte, jedoch nur soweit es seine Überzeugungen und reichhaltigen Erfahrungen beim Aufbau des badischen Staats zuließen. So setzte er denn auf den nach und nach eintretenden Erfolg seiner erzieherischen Absichten für das Gelingen der Assimilation, wohl wissend, dass auf dem Weg zur Emanzipation der jüdischen Minderheit als künftigem Teil der bürgerlichen Gesellschaft noch etliche Stolpersteine beiseite zu räumen waren.
Zu keiner anderen Zeit sind in Baden wie auch in Württemberg und Bayern ohne Blutvergießen, aber verursacht durch die Machtpolitik Napoleons so viele umwälzende und weitblickende Reformen durchgeführt worden wie während der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, so dass man diese Zeit schon als eine der Sternstunden der deutschen Geschichte bezeichnet hat.[29] Das für ganz Deutschland beispielhafte badische Edikt von 1809 zur Gleichstellung der Juden, das erste seiner Art mit nachhaltiger Wirkung, hat Teil an diesem Glanz.
Anmerkungen
[1] Ausfertigung: GLA 230/77 (Kat. Nr. 9.1); veröffentlicht (mit Fehlern) am 11.2. im Großherzoglich Badischen Regierungsblatt (künftig: RegBl.) Nr. VI, S. 29–44; Abdrucke bei Lewin 1908, S. 91–102, und in: Schmitt (Hg.) 1988, S. 551–560; vgl. Würtz 2005, S. 256.
[2] Vgl. Rödel 2006, S. 32–36.
[3] Vgl. allgemein und S. VII: Würtz 2005.
[4] Andreas 1913, S. 168–170. – Würtz 2005, S. 223. – vgl. auch Gall 1979, S. 18.
[5] Rürup 1975a, S. 183 Anm. 75 zu den die Juden betreffenden Edikten, und Würtz 2005, S. 259. – vgl. allg. dazu z.B. das RegBl. Nr. IX vom 4.3.1809. S. 93, wo die Einleitung zu dem dort abgedruckten Edikt zur Anwendung des Bürgerrechts für Frauen auf das sechste Konstitutionsedikt Bezug nimmt.
[6] Würtz 2005, S. 225–269, bes. 226 und 251. – Andreas 1913, S. 171–184. Die Edikte 1 bis 6 erschienen 1807 bzw. 1808 bei Macklot in Karlsruhe einzeln im Druck (Erstes usf. Constitutions Edict …), das 1. und 5. auch im RegBl.
[7] Würtz 2005, S. 295–297. – Andreas 1913, S. 187–209.
[8] RegBl. Nr. XXI vom 8.7.1808, S. 185.
[9] Eine offizielle Ankündigung der Druckausgabe von Macklot findet sich zufällig auf der dem Abdruck des Gleichstellungsedikts folgenden Seite des RegBl. von 1809, ohne dass dabei Brauer als Bearbeiter benannt wäre.
[10] Den erst nach 1830 gebräuchlich gewordenen Begriff der Emanzipation enthält das Dekret nicht; Battenberg 1991, S. 245–248.
[11] Ebenda, S. 249.
[12] Rürup 1975a, S. 23. – Berding 1984, S. 273.
[13] Ries 2008, S. 136.
[14] Vgl. dazu jetzt: Kat. Kassel 2008.
[15] Berding 1984, S. 274f.
[16] Ries 2008, S. 137 u. 140.
[17] Würtz 2005, S. 255.
[18] Beleg wie Anm. 1; vgl. WÜRTZ 2005, S. 256–258. – Rürup 1975a, S. 58f. Paulus 1984, S. 29–31.
[19] Regierungsblatt Nr. XXI, S. 226. Brauer hatte stets den Begriff „Jude“ wertungsfrei verwendet, die dann nicht berücksichtigte Überarbeitung seines Entwurfs jedoch von „Unterthanen mosaischen Bekenntnisses“ gesprochen, „um den gehässigen Sektennamen der Juden zugleich mit der alten Idee des eigenen Volkes, die daran haftet, … zu beseitigen“; vgl. Würtz 2005, S. 256. Dieser bezeichnende Dissens gibt Aufschluss über den mehr oder weniger ausgeprägten Reformeifer der Beteiligten.
[20] Der Oberrat war zuständig für die Einteilung der Synagogensprengel, die Feststellung von Schulden und Festsetzung von Abgaben, den Religionsunterricht, die Lehrpläne, die Beurteilung der Religionslehrer, die Ernennung der Landrabbiner und Landältesten, die Prüfung der Befähigung der Rabbiner, die Kirchenzucht sowie für die Beratung der Regierung in Angelegenheiten der Juden.
[21] Verordnung „Urkunde über den jüdischen Nothandel“; RegBl. Nr. XV vom 22.4.1809, S. 152f. Von der Erteilung dieser Urkunde konnte z.B. die Annahme als Schutzbürger abhängen.
[22] Verordnung, „Die Zunamen der Staatsbürger mosaischer Religion betreffend“, ebenda, S. 153.
[23] Wie Anm. 19.
[24] So die Einleitung des Abdrucks des Edikts in „Sulamith. Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation“; vgl. Paulus 1988, S. 81f. sowie Kat. Kassel 2008, Nr. 416, S. 474. Dort wird auch fest- gestellt, dass aus diesem Gesetz für die Israeliten nur Gutes kommen werde.
[25] RegBl. Nr. XII vom 25.3.1809, S. 125.
[26] Als Verordnung mitgeteilt im Regierungsblatt Nr. X vom 11.3.1809, S. 117; Kabinettsdirektor wurde nun Innenminister Frhr. von Hacke.
[27] RegBll. Nr. XXXXIX – LII vom 2., 9., 16. u. 23.12.1809, S. 395–398, 403–414, 419–444 u. 447–494; vgl. Würtz 2005, S. 259f. u. 299–302. – Gall 1979, S. 19. – Rürup 1975a, S. 60f. –Andreas 1913, S. 258–267 und v. Weech 1890, S. 497f.
[28] RegBl. Nr. XIX vom 25.6.1812, S. 102–105.
[29] Weis 1973, S. 583.
Literatur
- Andreas, Willy, Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802-1818, in: Badische Historische Kommisssion, Bd. 1: Der Aufbau des Staates im Zusammenhang der allgemeinen Politik, Leipzig 1913.
- Battenberg, Friedrich J., Die Französische Revolution und die Emanzipation der Juden im Elsaß und in Lothringen, in: Oberrheinische Studien, Bd. 9: Die Französische Revolutionund die Oberrheinlande (1789-1798), hg. von Volker Rödel Volker, Sigmaringen 1991, S. 245-273.
- Berding, Helmut, Judenemanzipation im Rheinbund, in: Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 4: Reformen im rheinbündischen Deutschland, hg. von Eberhard Weis, München 1984, S. 269-284.
- Gall, Lothar, Gründung und politische Entwicklung des Großherzogtums bis 1848, in: Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart, hg. von Josef Becker, Stuttgart 1979, S. 11-36.
- Paulus, Jael B., Geschichte der Juden Badens - Ein Überblick, in: Kat. Karlsruhe 1984, S. 19-56.
- Ries, Rotraud, Und die Gesänge Zions werden in Westfalens Gebirgen in lauten Tönen erschallen. Der Modellstaat als Raum rechtlicher Gleichstellung und jüdischer Reformpolitik, in: Kat. Kassel 2008, S. 135-141.
- Rödel, Volker, Badens Aufstieg zum Großherzogtum, in: 1806. Baden wird Großherzogtum, Karlsruhe 2006, S. 9-43.
- Rürup, Reinhard, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975.
- Weis, Eberhard, Der Einfluss der Französischen Revolution und das Empire auf die Reformen in den süddeutschen Staaten, in: Francia, Bd. 1, hg. vom Deutschen Historischen Institut Paris, 1973, S. 569-583.
- Würtz, Christian, Johann Niklas Friedrich Bauer (1754-1813). Badischer Reformer in napoleonischer Zeit, in: Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Bd. 159, Stuttgart 2005.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Ausstellungskatalog Gleiche Rechte für alle? Zweihundert Jahre jüdische Religionsgemeinschaft in Baden 1809-2009, hg. von Landesarchiv Baden-Württemberg, Ostfildern 2009, auf S. 8-13 veröffentlicht.
Zitierhinweis: Volker Rödel, Das Gleichstellungsedikt von 1809, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 03.09.2021.