Ego-Dokumente

von Alexander Staib

Threni Calvenses von Johann Valentin Andreae, betreffend das Schicksal und die Einäscherung der Stadt Calw, geschehen den 10. Sept. 1634, darin die Beschreibung eines Schwedentrunks [Quelle: Landesarchiv BW, Bibliothek HStAS A 138]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Threni Calvenses von Johann Valentin Andreae, betreffend das Schicksal und die Einäscherung der Stadt Calw, geschehen den 10. Sept. 1634, darin die Beschreibung eines Schwedentrunks [Quelle: Landesarchiv BW, Bibliothek HStAS A 138]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Eine besonders interessante Perspektive auf den Dreißigjährigen Krieg eröffnen sogenannte ‚Ego-Dokumente‘. Diese ‚Ich-Dokumente‘ bieten einen gleichsam faszinierenden wie ergiebigen Einblick in das Tun, Denken und Fühlen der Zeitgenossen. Die historische Forschung ist sich jedoch uneins darin, was den Charakter von Ego-Dokumenten ausmacht. Grundsätzlich wird sogar gefragt, ob der Begriff angemessen ist.

Winfried Schulze versteht unter Ego-Dokumenten „Quellen, die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben“ [1]; dies sind vorwiegend autobiographische Texte. Die zunächst einleuchtende und klar wirkende Definition weist aber Tücken auf: Eine große, fast unübersichtliche Anzahl an Quellen – beispielsweise Steuererhebungen, Gnadengesuche, Testamente und noch viele mehr – zeigen Spuren individueller Wahrnehmung, die Schulze als zentrales Merkmal der Quellengattung betrachtet. Ein weiteres Problem ist das Fehlen einer Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Auskünften, beispielsweise abgepresste Aussagen unter Gewaltandrohung oder -anwendung.

Benigna von Krusenstjern plädiert stattdessen für den Begriff des ‚Selbstzeugnisses‘. Krusenstjern sieht das zentrale Kriterium in der „Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst“ [2].

Die Verfasserin beziehungsweise der Verfasser tritt im Text selbst, ob nun handelnd oder leidend, in Erscheinung und nimmt Bezug auf sich. Der scheinbar sprechende Begriff des ‚Zeugnisses über sich selbst’ ist wiederum nicht minder problematisch: Bei jeder potenziellen Quelle – unter anderem Chronik, Haushaltsbuch, Tagebuch, Reisebeschreibung, Brief – muss mit viel Aufwand geprüft werden, ob die eingeforderte Selbstthematisierung vorliegt.

Bei Ego-Dokumenten handelt es sich also um eine abstrakte Übergruppe für Quellen, unter die zahlreiche konkrete Archivalien fallen können. Generelle Aussagen zu Aufbau und Inhalt sind angesichts dieser Vielfalt – gleiches gilt für die historische Entwicklung der Quellengattung – nur schwer zu treffen.

Ohne eine Harmonisierung der beiden oben dargelegten Definitionsversuche lassen sich dennoch einige wichtige Aspekte zu der schwer definierbaren Quellengattung festhalten. Ego-Dokumente ermöglichen eine Annäherung an die innere Welt der Menschen. An ihnen kann erforscht werden, wie Menschen ihre Lebenswelt deuteten und auf welche Wertungen sie dabei zurückgriffen. Zumeist handelt es sich dabei um authentische und verhältnismäßig unmittelbare Eindrücke, da die Quellen nicht zur Publikation bestimmt waren. Für die Zeitgenossen besonders bewegende Erlebnisse standen dabei zumeist am Beginn der Aufzeichnung. Es konnte sich aber auch schlicht um eine Gedächtnisstütze handeln oder einen Versuch darstellen, für die Nachwelt etwas festzuhalten. Dieser Punkt weist bereits darauf hin, dass weitere Verallgemeinerungen äußert schwierig sind, da es sich um sehr individuelle Dokumente – eben Ego-Dokumente – handelt.

Aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges sind solche Quellen von diversen Personen erhalten: beispielsweise vom Abt des bayerischen Klosters Andechs Maurus Friesenegger, vom evangelischen württembergischen Pfarrer Johann Valentin Andreä, von einem Söldner – mit relativer Sicherheit Peter Hagendorf – und auch von einem Halbbauern namens Hans Heberle, der im Territorium der Reichsstadt  Ulm lebte. Abseits von der Perspektive der ‚großen Männer‘, der Generäle und Staatsmänner, ermöglichen die soeben genannten Quellen einen Einblick in das Erleben und Verarbeiten des Krieges aus der Nähe, ‚von unten‘. Zudem zeigt sich in ihnen der Krieg den Lesenden auf ‚Augenhöhe‘; nicht aus der Perspektive der nachgeborenen Historikerinnern und Historiker.

Alle soeben genannten Zeugnisse sind äußerst lesenswert. An dieser Stelle sei exemplarisch auf das Tagebuch des Söldners hingewiesen. Im Gegensatz zu Grimmelshausens Roman ‚Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch‘ handelt es sich um ein authentisches, nicht literarisches Werk. Der Kriegsteilnehmer hält für den Zeitraum 1625 bis1649 seine Erfahrungen fest. Die oft über weite Strecken schlichten Notizen zeichnen das Bild eines Mannes, der zugleich Täter und Opfer war. Der Text vermag den Leser in vielerlei Aspekten zu überraschen, zum Teil sowohl mit dem Geschriebenen als auch dem Nicht-Geschriebenen: Der zweimalige (unfreiwillige) Wechsel der Kriegspartei, der das Bild von Freund und Feind aufweicht, wird thematisiert; religiöse beziehungsweise konfessionelle Standpunkte finden sich jedoch überraschend selten und nie in eindeutiger Position. Über weite Strecken dominieren – entgegen aller Erwartungen an ein Kriegstagebuch – Landschaftsbeschreibungen.

Anmerkungen

[1] Schulze: Ego-Dokumente, S. 421.
[2] Krusenstjern: Einleitung, S. 18.

Quellen in Auswahl:

  • Andreae, Johann Valentin, Fragment aus dem dreißigjährigen Krieg, betreffend das Schicksal und die Einäscherung der Stadt Calw, geschehen den 10. Sept. 1634, Tübingen 1793, S. 39-40.
  • Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles ,Zeytregister' (1618-1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, hg. von Gerd Zillhardt (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Bd. 13), Stuttgart 1975.
  • Friesenegger, Maurus, Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg. Nach einer Handschrift im Kloster Andechs mit Vorwort, Anmerkungen und Register, hg. von P. Willibald Mathäser, München 21996.
  • Hagendorf– Peter, Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, hg. von Jan Peters (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, Bd. 14), Göttingen 2012.
     

Literatur in Auswahl

  • von Krusenstjern, Benigna, Einleitung, in: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, hg. von Benigna von Krusenstjern (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte, Bd. 6), Berlin 1997, S. 9-26.
  • von Krusenstjern, Benigna, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.
  • Medick, Hans/von Krusenstjern, Benigna, Einleitung: Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, hg. von Hans Medick/Benigna von Krusenstjern (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 148), Göttingen 1999, S. 13-36.
  • Peters, Jan, Selbstzeugnisforschung – eine Quellengruppe im Aufwind, in: Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, hg. von Jan Peters (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, Bd. 14), Göttingen 2012, S. 190-193.
  • Pröve, Ralf, Violentia und Potestas. Perzeptionsprobleme von Gewalt in Söldnertagebüchern des 17. Jahrhunderts, in: Lebenswelten. Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen, hg. von Bernhard R. Kroener/Angela Strauß (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, Bd. 11), Berlin 2010, S. 69-85.
  • Schulze, Winfried , Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hg. von Bea Lundt/Helma Reimöller, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 417-450.

 

Zitierhinweis: Alexander Staib, Ego-Dokumente, in: Der Dreißigjährige Krieg, URL: […], Stand: 25.08.2022

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